Drittes Capitel.
Eine doppelte Entführung.

[28] Eine halbe Stunde folgten der Graf d'Artigas und der Kapitän Spade dem von hundertjährigen Buchen eingefaßten Wege, der das rechte Ufer der Neuze von der Anstalt des Healthsul-House scheidet. Beide hatten sich von dem Director verabschiedet, wobei dieser sich für die Ehre des ihm zutheil gewordenen Besuches, jene sich für den wohlwollenden Empfang bedankten. Hundert Dollars, die der Graf d'Artigas für das Personal des Hauses zurückließ, zeugten für seine edle Freigebigkeit. Das war – wer hätte daran zweifeln können? – ein Fremder von hochvornehmem Range, wenn man die Vornehmheit an der Freigebigkeit messen kann.

Nachdem sie durch das Gitterthor, das das Healthsul-House auf dem Hügelabhange abschließt, herausgetreten waren, gingen Graf d'Artigas und Kapitän Spade längs der Umfassungsmauer hin, deren Höhe jedes Uebersteigen derselben ausschloß. Der erstere war nachdenklich, und der letztere wartete wie gewöhnlich darauf, daß jener das Wort an ihn richte.

Der Graf d'Artigas entschloß sich dazu erst in dem Augenblick, wo er, auf dem Wege stehen bleibend, mit dem Blicke die Mauer messen konnte, hinter der sich der Pavillon Nr. 17 erhob.

»Du hast Zeit gefunden, fragte er dann, Dich über die ganze Oertlichkeit genau zu unterrichten?

– Ganz genau, Herr Graf, antwortete der Kapitän Spade, der den Titel, den er dem Fremden gab, besonders betonte.

– Es ist Dir nichts entgangen?[28]

– Nichts, was zu wissen nützlich wäre. Durch seine Lage hinter dieser Mauer ist der Pavillon leicht erreichbar, und wenn Sie auf Ihrer Absicht beharren...

– Es bleibt dabei, Spade.

– Trotz des geistigen Zustandes, in dem Thomas Roch sich befindet?

– Trotz dieses Zustandes, und gelingt es uns, ihn zu entführen...

– Das lassen Sie meine Sache sein. Nach Einbruch der Nacht verpflichte ich mich, in den Park des Healthful-House und in die Einfriedigung des Pavillons Nummer siebzehn einzudringen, ohne von jemand gesehen zu werden.

– Durch das Gitterthor des Eingangs?...

– Nein... von dieser Seite her.

– An dieser Seite befindet sich aber die Mauer, und wenn Du auch darüber hinwegkommst, wie willst Du sie mit Thomas Roch wieder überschreiten, wenn der Narr etwa ruft, nur einigermaßen Widerstand leistet... oder sein Wärter vielleicht Lärm schlägt?

– Darüber beunruhigen Sie sich nicht. Wir brauchen nur durch diese Thür hinein und heraus zu gehen.«

Der Kapitän Spade zeigte dabei nach einer nur wenige Schritte entfernten schmalen Thür, die sich etwa in der Mitte der Mauer befand und wohl nur für das Personal der Anstalt bestimmt war, wenn es etwas am Ufer der Neuze zu thun hatte.

»Auf diesem Wege, fuhr der Kapitän Spade fort, werden wir in den Park gelangen, ohne erst Leitern zu Hilfe nehmen zu müssen.

– Die Thür ist natürlich aber geschlossen.

– Sie wird schon aufgehen.

– Befinden sich im Innern daran keine Riegel?

– Die hab' ich, als ich hinter dem Baumdickicht im untern Parktheile dahinging, bereits zurückgeschoben, ohne daß der Director etwas davon bemerkte.«

Der Graf d'Artigas näherte sich der Thür und sagte:

»Sie ist aber auch mittelst Schlüssels verschlossen.

– O, den Schlüssel dazu hab' ich schon hier!« antwortete der Kapitän.

Dabei wies er einen Schlüssel vor, den er nach Zurückschiebung der Riegel aus dem Schlosse gezogen hatte.

»Das hast Du gut gemacht, Spade, sagte der Graf d'Artigas; wahrscheinlich bietet nun die Entführung keine so besondern Schwierigkeiten. Wir wollen[29] in zwischen nach der Goelette zurückkehren. Gegen acht Uhr, wenn es dunkel genug ist, wird Dich ein Boot mit fünf Mann hierher bringen.

– Fünf... ja, das wird genügen, antwortete der Kapitän Spade, selbst für den Fall, daß uns der Wärter in den Weg tritt und wir uns seiner entledigen müssen.

– Entledigen?... wiederholte der Graf d'Artigas. Nun ja, wenn es unbedingt nöthig erscheint. Wünschenswerther bleibt es aber, sich auch dieses Gaydon zu bemächtigen und ihn mit an Bord der »Ebba« zu schaffen. Wer weiß, ob ihm Thomas Roch's Geheimniß nicht schon theilweise bekannt ist!

– Das ist richtig.

– Ferner ist der Irrsinnige an ihn gewöhnt und ich möchte an seinen Gewohnheiten so wenig wie möglich rütteln.«

Diese Worte begleitete der Graf d'Artigas mit einem so bezeichnenden Lächeln, daß der Kapitän Spade gar nicht im Unklaren bleiben konnte, welche Rolle dem Wärter aus dem Healthsul-House zugedacht sei.

Der Plan zu diesem Doppelraube war also festgestellt und schien die beste Aussicht auf Erfolg zu bieten. Wenn man im Laufe der nächsten zwei Stunden nicht gewahr wurde, daß an jener Parkthür der Schlüssel fehlte und die Riegel zurückgeschoben waren, hielt sich der Kapitän Spade für überzeugt, mit seinen Leuten in den Park des Healthsul-House eindringen zu können.

Hier ist noch die Bemerkung am Platze, daß, mit Ausnahme des besonders sorgsam überwachten Thomas Roch, die übrigen Insassen der Anstalt ähnlichen Maßnahmen nicht unterworfen waren. Sie bewohnten verschiedne Pavillons oder Zimmer der Hauptgebäude im obern Theile des Parks. Alles ließ demnach vermuthen, daß Thomas Roch und sein Wärter Gaydon, wenn man sie im abseits liegenden Pavillon Nr. 17 überraschte und in die Unmöglichkeit versetzte, ernsten Widerstand zu leisten oder auch nur um Hilfe zu rufen, die Opfer dieser Entführung wurden, die der Kapitän Spade im Interesse des Grafen d'Artigas wagen wollte.

Der Fremde und sein Begleiter wendeten sich jetzt einer kleinen Einbuchtung zu, wo eines der Boote von der »Ebba« sie erwartete. Die Goelette lag in der Entfernung von zwei Kabellängen vor Anker; ihre Segel waren in die gelblichen Hüllen eingewickelt und die Raaen hingen fast senkrecht herab, wie das auf den Lustjachten Gebrauch ist. Ueber dem Hackbord wehte keine[30] Flagge; nur am Topp des Großmastes flatterte ein leichter rother Wimpel noch ein wenig im abflauenden Ostwinde.

Der Graf d'Artigas und der Kapitän Spade nahmen in dem Boote Platz. Vier Ruder hatten sie binnen einigen Minuten nach der Goelette befördert, die sie von der Leiter an der Seite aus bestiegen.

Der Graf d'Artigas zog sich in seine Cabine unter dem Hinterdeck zurück, während sich der Kapitän nach dem Vorderdeck begab, um seine letzten Befehle zu ertheilen. Nahe am Bug angelangt, beugte er sich über die Schanzkleidung des Steuerbords hinaus und sachte nach einem Gegenstand, der in der Entfernung von wenigen Faden im Wasser schaukelte.

Es war eine Bake von geringer Größe, die von der Ebbeströmung in der Neuze bewegt wurde.

Jetzt kam langsam die Nacht. Am linken Ufer des vielfach gewundnen Flusses begann die unbestimmte Silhouette von New-Berne allmählich zu verschmelzen; die Häuser hoben sich dunkel vom Horizonte ab, den vom Rande einer Wolkenbank im Westen noch ein rother Feuerstreif erhellte. An der entgegengesetzten Seite verhüllte sich der Himmel mit dichten Dunstmassen Ein Regenfall schien indeß kaum bevorzustehen, denn jene Dünste hielten sich am Himmel in beträchtlicher Höhe.

Gegen sieben Uhr blinkten in den verschiednen Höhenlagen der Häuser von New-Berne die ersten Lichter auf, während die aus den niedrigen Stadttheilen sich in langen Zickzacklinien kaum unter der Wasserfläche widerspiegelten, da der Wind sich gegen Abend mehr und mehr legte. Sanft glitten die Fischerbarken stromauf nach Einschnitten am Ufer, wobei die einen mit ihren aufgezognen Segeln noch den letzten Lufthauch zu benützen suchten und die andern von Riemen bewegt wurden, deren kurzer, rhythmischer Schlag weithin über das Wasser tönte. Auch zwei Dampfer zogen vorüber, aus deren doppelten, mit schwärzlichem Rauch gekrönten Schornsteinen Funkengarben emporwirbelten, während die Schaufeln ihrer Räder mächtig ins Wasser einschlugen und sich der Balancier der Maschine, fauchend wie ein Seeungeheuer, über dem Spardeck auf und ab bewegte.

Um acht Uhr erschien der Graf d'Artigas wieder auf dem Deck der Goelette, jetzt aber begleitet von einem etwa fünfzigjährigen Manne.

»Es ist nun Zeit, Serkö, redete er diesen an.

– Ich werde Spade benachrichtigen,« antwortete Serkö.[31]

Der Kapitän kam heran.

»Mach' Dich fertig, abzufahren, sagte der Graf d'Artigas zu ihm.

– Wir sind bereit.

– Nimm' Dich aber in Acht, daß niemand im Healthful-House etwas bemerkt und Verdacht schöpfen könnte, daß Thomas Roch und sein Wärter an Bord der »Ebba« geschafft worden wären.

– Wo man Sie auch beim eifrigsten Nachsuchen nicht finden würde!« setzte Serkö hinzu.


»Die Thür ist geschlossen.« (S. 29.)
»Die Thür ist geschlossen.« (S. 29.)

[32] Verschmitzt lächelnd zuckte er dabei mit den Schultern.

»Immerhin ist es besser, überhaupt keinen Verdacht aufkommen zu lassen,« erwiderte Graf d'Artigas.

Das Boot wurde klar gemacht. Der Kapitän und fünf Mann stiegen hinein. Vier der letzteren ergriffen die Riemen. Der fünfte, der Obersteuermann Effrondat, der das Boot überwachen sollte, setzte sich ans Steuer neben den Kapitän Spade.

»Glück auf den Weg, Spade, rief Serkö lachend, und mach' Alles hübsch ruhig ab wie ein Liebender, der seine Schöne entführt...


Das Ufer war verlassen. (S. 34.)
Das Ufer war verlassen. (S. 34.)

[33] – Ja, im Fall nicht jener Gaydon... meinte Effrondat.

– Nun, das versteht sich,« erwiderte der Kapitän Spade.

Das Boot stieß ab und die Matrosen blickten ihm nach, bis es in der Dunkelheit verschwand.

Wir fügen hier ein, daß die »Ebba«, während sie auf die Rückkehr des Bootes wartete, keinerlei Vorbereitungen zur Abfahrt traf. Jedenfalls wollte sie den Ankerplatz von New-Berne auch nach der Entführung nicht sofort verlassen. Uebrigens hätte sie jetzt gar nicht aufs hohe Meer gelangen können. Man fühlte nicht den leisesten Lufthauch mehr und vor Ablauf einer halben Stunde mußte sich die Fluth bis auf einige Seemeilen die Neuze stromaufwärts bemerkbar machen. Die Goelette stellte sich auch noch nicht senkrecht über ihre Anker.

Zwei Kabellängen vom Ufer festgelegt, hätte sich die »Ebba« bei fünfzehn bis zwanzig Fuß Wassertiefe diesem noch mehr nähern können, was das Anbordschaffen nach der Rückkehr des Bootes beschleunigt hätte. Wenn sie dieses Manöver nicht ausführte, geschah es, weil der Graf d'Artigas seine Gründe hatte, es nicht zu befehlen.

Die Strecke bis zum Lande wurde in einigen Minuten zurückgelegt und das Boot war unbemerkt dahin geglitten.

Das Ufer erwies sich ebenso verlassen, wie der Weg, der unter den großen Buchen neben dem Park des Healthsul-House verlief.

Der ans Gestade geworfne Dregganker wurde sorgsam befestigt. Der Kapitän Spade und seine Leute stiegen aus, ließen nur den Obersteuermann zurück und verschwanden bald unter den dunkeln Kronen der Bäume.

An der Thür zum Parke angelangt, blieb der Kapitän Spade stehen und seine Leute vertheilten sich zu beiden Seiten des Eingangs. Nachdem dieser vom Kapitän Spade angeordneten Vorsichtsmaßregel genügt war, hatte dieser nur den Schlüssel ins Schloß zu stecken und die Thür aufzustoßen, wenn kein Angestellter des Hauses – wenn er bemerkte, daß sie nicht wie gewöhnlich verwahrt war – sie von innen wieder verriegelt hatte.

In diesem Falle wurde die Entführung schwierig, selbst wenn es gelang, die Krönung der Mauer zu übersteigen.

Zunächst legte der Kapitän Spade das Ohr an die Thürfüllung.

Im Parke hörte man kein Geräusch von Schritten und auch keine Bewegung innerhalb der Einfriedigung des Pavillons Nr. 17. Nicht ein Blatt rührte sich[34] an den Zweigen der Buchen, die den Weg beschatteten. Ueberall herrschte Todesschweigen wie auf offnem Lande bei windstiller Nacht.

Der Kapitän Spade zog den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn vorsichtig ins Schloß. Der Schließhaken gab nach und unter einem leichten Druck öffnete sich die Thür von außen nach innen.

Die Sachlage war also noch ganz ebenso, wie sie die Besucher des Healthsul-House hinterlassen hatten.

Der Kapitän Spade trat in die Umfriedigung ein, nachdem er sich überzeugt hatte, daß sich niemand in der Umgebung des Pavillons befand; dann folgten ihm seine Leute nach.

Die Thür wurde nicht wieder zugeschlossen, sondern nur gegen die Fassung gedrückt, damit die Eindringlinge im Nothfalle schnell wieder aus dem Parke flüchten könnten.

In diesem von hohen Bäumen noch mehr verdunkelten und von einzelnen Strauchgruppen durchsetzten Theile hätte man den Pavillon kaum zu erkennen vermocht, wenn nicht ein Fenster desselben hell erleuchtet gewesen wäre.

Ohne Zweifel gehörte dieses Fenster zu dem Zimmer Thomas Roch's und des Wärters Gaydon, da dieser den seiner Ueberwachung anvertrauten Pflegling ja Tag und Nacht nicht verließ. Der Kapitän Spade erwartete auch, ihn hier anzutreffen.

Vorsichtig schlichen sich seine vier Leute und er weiter und hüteten sich, daß das Knirschen eines Steins, an den sie stoßen könnten, oder das Knacken eines zertretnen Zweigs ihre Anwesenheit verrieth. So gelangten sie nach dem Pavillon, und zwar an die Seite desselben hin, wo aus dem Fenster der Lichtschein durch die Falten eines Vorhangs schimmerte.

Wenn die Thür an dieser Seite des Hauses aber verschlossen war, wie sollten sie in das Zimmer Thomas Roch's eindringen? Diese Frage drängte sich jetzt dem Kapitän Spade auf. Nicht im Besitz eines Schlüssels, womit er sie öffnen konnte, blieb vielleicht nichts andres übrig, als eine Fensterscheibe einzudrücken, einen Flügel schnell aufzustoßen, sich in das Zimmer zu stürzen, Gaydon durch einen plötzlichen Ueberfall zu überrumpeln und ihn außer Stand zu setzen, um Hilfe zu rufen. Wie wäre das Ziel auf anderm Wege zu erreichen gewesen?

Ein solcher Gewaltstreich war immerhin mit ernster Gefahr verknüpft. Der Kapitän Spade verhehlte sich das nicht, da er ein Mann war, der es gewöhnlich lieber mit der List als mit der Gewalt hielt. Er hatte hier nur keine Wahl.[35]

Die Hauptsache blieb es ja, Thomas Roch zu entführen – wenn es anging, auch Gaydon, wie es der Graf d'Artigas gewünscht hatte – und das mußte auf jeden Fall erreicht werden.

Dicht am Fenster angelangt, erhob sich der Kapitän Spade auf den Fußspitzen und konnte so durch einen Spalt zwischen den Vorhängen das ganze Zimmerinnre überblicken.

Darin sah er Gaydon an der Seite Thomas Roch's, dessen Anfall seit dem Weggange des Grafen d'Artigas noch nicht ganz abgelaufen war. Dieser Anfall erforderte die sorgsamste Pflege, die der Wärter dem Kranken auch nach den Anordnungen einer anwesenden dritten Person angedeihen ließ.

Der Dritte war einer der Aerzte des Healthful-House, den der Director sofort nach dem Pavillon Nr. 17 gesendet hatte.

Die Anwesenheit des Arztes mußte die Sachlage offenbar mehr verwickeln und die Entführung noch schwieriger machen.

Thomas Roch lag völlig angekleidet auf einer Art Sopha. Augenblicklich erschien er ziemlich beruhigt. Der Anfall ließ allmählich nach und ihm sollten einige Stunden der Erschöpfung und Betäubung folgen.

Gerade als der Kapitän Spade sich am Fenster in die Höhe streckte, machte der Arzt Anstalt, sich zurückzuziehen. Bei scharfem Lauschen konnte jener verstehen, wie er Gaydon versicherte, daß die Nacht ohne weitere Störung hingehen und er nicht nöthig haben werde, ein zweites Mal einzugreifen.

Nach diesem Ausspruch wendete sich der Arzt nach der Thür zu, die sich, wie wir wissen, neben dem Fenster befand, vor dem der Kapitän Spade mit seinen vier Leuten wartete. Wenn sie sich jetzt nicht versteckten, sich hinter den Gesträuchen in der Nähe des Pavillons niederbückten, konnten sie nicht allein von dem Arzte bemerkt werden, sondern auch von dem Wärter, der sich anschickte, jenen hinauszubegleiten.

Ehe die Beiden noch auf den Vorraum traten, gab der Kapitän Spade ein Zeichen, worauf sich seine Leute zurückzogen und er sich an der Mauer niederließ.

Zum Glück war die Lampe im Zimmer zurückgelassen worden, und die Matrosen von der »Ebba« liefen nicht Gefahr, durch einen sie treffenden Lichtschein verrathen zu werden.

Bei der Verabschiedung von Gaydon blieb der Arzt noch auf der ersten Stufe der Treppe vor der Thür stehen und sagte:[36]

»Das war einer der schlimmsten Anfälle, die unser Kranker je gehabt hat! Noch zwei oder drei solche und er wird das letzte Restchen Verstand auch noch verloren haben!

– Warum verbietet der Director auch nicht jedem Besucher den Zutritt zu dem Pavillon Nummer siebzehn? erwiderte Gaydon. Diesmal verdanken wir einem gewissen Grafen d'Artigas und dem Gegenstande, worüber er mit Thomas Roch gesprochen hat, den Zustand, in dem Sie unsern Kranken getroffen haben.

– Ich werde den Director darauf aufmerksam ma chen,« versicherte der Arzt.

Er stieg dann vollends die Stufen hinab und Gaydon begleitete ihn bis ein Stück in eine Seitenallee hinein, während die Thür des Pavillons halb offen geblieben war.

Als sich Beide etwa zwanzig Schritte weit entfernt hatten, erhob sich der Kapitän Spade und seine Leute traten wieder an ihn heran.

Jetzt lag es nahe, die Gelegenheit zu benutzen, die sich zufällig darbot, um in das Zimmer des im Halbschlummer liegenden Thomas Roch einzudringen, sich dieses zu bemächtigen und ihn fortzuschleppen, ehe Gaydon wieder zur Stelle war.

Der Wärter mußte aber sehr bald zurückkehren und wenn er das Verschwinden seines Pflegebefohlnen bemerkte, würde er ihn natürlich suchen, würde rufen und Lärm schlagen. Dann kam jedenfalls auch der Arzt zurück und das ganze Personal des Healthsul-House wäre herzugesprungen. Dem Kapitän Spade blieb dann schwerlich Zeit, die Thür in der Mauer zu erreichen und sie hinter sich und seinen Leuten wieder abzuschließen.

Er fand übrigens gar nicht Maße, hierüber nachzudenken. Ein Geräusch von Tritten auf dem Sande verrieth ihm, daß Gaydon schon nach dem Pavillon zurückkehrte. Das Beste schien es nun, sich auf ihn zu stürzen, seine Rufe zu ersticken, ehe er Lärm schlagen konnte, und ihn gänzlich wehrlos zu machen. Zu vier, schlimmsten Falls zu fünf Mann mußte sein Widerstand leicht zu brechen sein. Hiernach konnte der Kapitän Spade unter weit günstigeren Bedingungen die Entführung Thomas Roch's bewerkstelligen, da der unglückliche Geisteskranke keine Vorstellung von dem haben würde, was mit ihm vorging.

Eben trat Gaydon aus den Bäumen hervor und wendete sich nach der Vortreppe. Als er aber den Fuß auf die erste Stufe setzte, stürzten sich die vier Männer auf ihn los und rissen ihn zu Boden, ehe er noch einen Schrei ausstoßen konnte. Dann schlossen sie ihm den Mund mit einem Tuche, legten ihm[37] eine Binde über die Augen und fesselten seine Arme und Beine, aber so scharf, daß er fast nur noch ein lebloser Körper zu nennen war.

Zwei von den Matrosen blieben an seiner Seite, während Kapitän Spade mit den andern beiden in das Zimmer eindrang.

Wie der Kapitän vorausgesetzt hatte, befand sich Thomas Roch in einem Zustande, bei dem ihn auch ein starkes Geräusch aus seiner Betäubung nicht erwecken konnte. Man hätte ihn, wie er so mit geschlossnen Augen auf dem Sopha lag, für todt halten können, wenn er nicht so keuchend geathmet hätte. Es schien also nicht nöthig, ihn zu fesseln und seinen Mund zu schließen. Es genügte vielmehr, daß ihn zwei Matrosen, der eine am Kopfe, der andre an den Füßen packten und ihn so nach dem Boote trugen, das unter der Obhut des Obersteuermanns der Goelette am Ufer lag.

Das geschah denn auch in kürzester Zeit.

Der Kapitän Spade verließ das Zimmer als der letzte, löschte die Lampe darin aus und verschloß die Thür. So durfte er annehmen, daß die Entführung nicht vor dem nächsten Morgen entdeckt wurde, oder daß das doch mindestens bis zu den ersten Frühstunden dauerte.

In gleicher Weise wie der Kranke wurde auch Gaydon weggeschafft, was nun keine Schwierigkeit machte. Die beiden andern Seeleute hoben ihn auf und trugen ihn durch den Garten hin nach der Thür in der Mauer.

In diesem Theile des gänzlich verlassnen Parks herrschte die tiefste Finsterniß. Man sah von hier aus und den Hügel hinauf nicht einmal den Lichtschein aus den Hauptgebäuden und den andern Pavillons des Healthsul-House.

Vor der Thür angelangt, hatte der Kapitän Spade diese nur aufzuschlagen.

Die beiden Leute, die den Wärter trugen, durchschritten sie zuerst. Dann wurde Thomas Roch auf den Armen der beiden andern hinausgeschafft. Endlich ging auch der Kapitän Spade hinaus und verschloß die Pforte mit dem richtigen Schlüssel, den er ins Wasser der Neuze werfen wollte, wenn er sich wieder im Boote von der »Ebba« befand.

Auf dem Wege und am Ufer befand sich keine Seele.

Nach zwanzig Schritten waren alle schon bei dem Obersteuermann Effrondat, der hier am Abhange sitzend gewartet hatte.

Thomas Roch und Gaydon wurden im Hintertheile des Bootes niedergelegt, und der Kapitän Spade nahm zuletzt auch wieder Platz.

»Schnell den Dregganker herein!« befahl er dem Obersteuermann.[38]

Dieser gehorchte dem Befehle, schob das Fahrzeug etwas ab und stieg selbst ein.

Die vier Riemen tauchten ins Wasser und das Boot glitt auf die Goelette zu. Eine Laterne am Fockmaste zeigte ihre Lage an. Unter der steigenden Fluth hatte sich das Schiff einstweilen gedreht.

Zwei Minuten später lag das Boot schon mit der »Ebba« Bord an Bord.

Der Graf d'Artigas lehnte auf der Schanzkleidung neben der Lücke, die nach der Außentreppe führte.

»Ist's gelungen, Spade?... fragte er hinunter.

– Vollständig.

– Alle beide!... Der Wächter und der Bewachte!

– Im Healthful-House hat niemand Verdacht geschöpft?

– Kein Mensch.«

Es war nicht anzunehmen, daß Gaydon, dem die Binde die Ohren und beide Augen verschloß, die Stimme des Grafen d'Artigas und des Kapitäns Spade hätte wieder erkennen können.


Vier Männer stürzten auf ihn los. (S. 37.)
Vier Männer stürzten auf ihn los. (S. 37.)

Wir fügen hier auch ein, daß weder er noch Thomas Roch unmittelbar an Bord der Goelette gehißt wurden. Längs des Schiffsrumpfes ließ sich vielmehr ein Geräusch wie vom Anstreifen eines Gegenstandes vernehmen und es verging eine halbe Stunde, ehe Gaydon, der seine Kaltblütigkeit unverändert bewahrt hatte, es fühlte, daß er von neuem aufgehoben, in die Höhe gezogen und dann nach dem Grunde des Laderaumes hinabgelassen wurde.

Die Entführung war gelungen; es schien, als ob die »Ebba« nur noch nöthig hätte, die Anker zu lichten, das Strombecken hinabzugleiten und nach dem Pamplicosund hinzusteuern, um das hohe Meer zu erreichen. Dennoch wurde an Bord nichts vorgenommen, was auf eine Abfahrt des Schiffes hindeutete.

Es mochte zwar gewagt erscheinen, an demselben Orte zurückzubleiben, wo im Laufe des Abends der Doppelraub vollführt worden war; der Graf d'Artigas hatte seine Gefangnen aber so geschickt verbergen lassen, daß sie nicht entdeckt werden konnten, wenn die »Ebba« auch, deren Stillliegen ganz in der Nähe des Healthful-House verdächtig erscheinen konnte, von Polizeibeamten aus New-Berne durchsucht werden sollte.

Jedenfalls schliefen, eine Stunde nach der Rückkehr des Bootes – mit Ausnahme der Leute, die auf dem Vordertheile wachten – die übrigen Mann[39] schaften in ihrem Raume, der Graf d'Artigas, Serkö und der Kapitän Spade in ihren Cabinen an Bord der Goelette, die unbeweglich auf dem stillen Mündungsbecken der Neuze lag.[40]

Quelle:
Jules Verne: Vor der Flagge des Vaterlands. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIX, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 28-41.
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