XV.

[174] Nach der Zerstörung des Hauses wollte es scheinen, als ob die Wogen der Aufregung in der Stadt sich etwas gelegt hätten. Man schien sich beruhigen zu wollen. Wie ich vermutet hatte, neigte ein Teil der Bewohner der Ansicht zu, daß der »Zauberer« im Hause anwesend[174] gewesen sei, als die Menge es erstürmte und daß er in den Flammen den Tod gefunden habe.

Wahr ist, daß man bei der genauen Durchsuchung des Trümmerhaufens, beim Durchwühlen der Asche nichts entdeckte, das diese Meinung bestätigen konnte. Wenn Wilhelm Storitz den Brand mit erlebt hatte, mußte dies von einem Orte aus geschehen sein, wo ihm die Flammen nichts anhaben konnten.

Aber die letzten Nachrichten aus Spremberg stimmten alle in dem Punkte überein, daß Wilhelm Storitz nicht dahin zurückgekehrt sei; daß auch sein Diener Hermann nicht gesehen worden war und daß man nicht wußte, wohin die beiden sich geflüchtet haben konnten.

In der Stadt herrschte also verhältnismäßige Ruhe; leider konnte man dasselbe von dem Hause des Dr. Roderich nicht behaupten. Der Geisteszustand unserer armen Myra besserte sich in keiner Weise. Sie er kannte noch immer niemanden aus ihrer Umgebung und blieb gleich bewußtlos und gleichgültig gegen die aufopferndste Pflege. Die Ärzte wagten nicht mehr, der leisesten Hoffnung Raum zu geben.

Aber trotz der großen Schwäche schien ihr Leben keineswegs bedroht. Nur lag sie immer bewegungslos und bleich wie eine Tote da. Versuchte man sie aufzurichten, begann sie zu schluchzen, heftiger Schrecken kam in ihren Zügen zum Ausdruck, sie rang die Hände und sinnlose Reden kamen über ihre Lippen. Kam ihr da die Erinnerung wieder? Erlebte ihr armer, verwirrter Geist die Schreckensszenen des Verlobungsabends, der Kathedrale wieder? Hörte sie abermals die gegen Markus und sich geschleuderten Drohungen? Es wäre ein gutes Zeichen gewesen, dann hätte ihr Gedächtnis die Vergangenheit behalten.

Man kann sich die traurige Existenz der Familie Roderich leicht vorstellen. Mein Bruder verließ das Haus nicht mehr. Er blieb bei Myra mit dem Doktor und Frau Roderich, flößte der Unglücklichen selbst die geringe Nahrung ein, die sie zu sich nahm und forschte unausgesetzt, ob aus ihren Blicken kein Aufleuchten die wiederkehrende Vernunft anzeige.

Am Nachmittage des 16. Juni irrte ich ziellos allein in den Straßen der Stadt herum, dann folgte ich einer plötzlichen Eingebung und richtete meine Schritte nach dem rechten Donauufer. Ich hatte schon lange diesen kleinen Ausflug geplant, nur die Umstände hatten mich bisher von der[175] Ausübung dieses Vorhabens abgehalten. Ich eilte also der Brücke zu, durchquerte die Svendor-Insel und befand mich auf serbischem Boden.

Mein Spaziergang dehnte sich weiter aus, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Die Uhren hatten soeben halbacht geschlagen, als ich wieder an der Brücke anlangte, nachdem ich in einem serbischen Wirtshaus, das in der Nähe des Ufers stand, einen Imbiß eingenommen. Ich weiß nicht, welcher Eingebung ich folgte – anstatt gleich heimzukehren, überschritt ich nur die erste Hälfte der Brücke und ging langsam die große Mittelallee der Svendor-Insel entlang.

Ich hatte noch keine zehn Schritte zurückgelegt, als ich Herrn Stepark bemerkte. Er war allein, sprach mich an und natürlich kam alsobald dasjenige Thema an die Reihe, das uns beide unaufhörlich beschäftigte.

Unser Spaziergang hatte ungefähr zwanzig Minuten gedauert, als wir das Nordende der Insel erreichten. Es war langsam Nacht geworden und dunkle Schatten lagen unter den Bäumen und auf den verlassenen Alleen. Die Schweizerhäuschen waren geschlossen und kein Mensch war weit und breit zu sehen.

Es wurde spät und wir mußten an die Heimkehr denken; plötzlich drangen Stimmen an unser Ohr.

Ich blieb augenblicklich stehen und faßte Herrn Stepark am Arm, um ihn zurückzuhalten, beugte mich dicht zu seinem Ohre und flüsterte so leise, daß nur er es vernehmen konnte:

»Hören Sie!... Man spricht... und diese Stimme... ist Wilhelm Storitz' Stimme.


Nach einer Stunde blieben nur noch die vier Mauern stehen. (S. 174.)
Nach einer Stunde blieben nur noch die vier Mauern stehen. (S. 174.)

– Wilhelm Storitz' Stimme? antwortete der Polizeichef ebenso leise.

– Ja.

– Er hat uns nicht bemerkt.

– Nein, denn die Nacht ist uns günstig und macht auch uns unsichtbar.«

Und die Stimme ließ sich noch immer, wenn auch undeutlich, vernehmen; eigentlich die »Stimmen«, denn es sprachen zwei Personen miteinander.

»Er ist nicht allein, flüsterte Herr Stepark.

– Nein... Wahrscheinlich ist der andere sein Diener.«

Herr Stepark zog mich noch tiefer unter den Schutz der Bäume und ließ sich auf die Erde nieder. Vielleicht half uns die Dunkelheit, denSprechenden so nahe zu kommen, daß wir ihr Gespräch verstehen konnten, ohne gesehen zu werden.

Bald waren wir höchstens zehn Schritte von dem Orte entfernt, wo Wilhelm Storitz stand. Natürlich konnten wir niemanden erblicken, aber wir waren darauf ja vorbereitet und es verursachte uns keine Enttäuschung.

Noch niemals hatte sich uns eine ähnliche günstige Gelegenheit geboten. Seit dem Brande wußten wir zum ersten Mal, wo sich unser Feind aufhielt und vielleicht gelang es uns, seine Pläne zu erfahren, möglicherweise konnten wir uns sogar seiner Person versichern.

Er ahnte nicht, daß wir ihm so nahe waren und seine Worte belauschten. Wir lagen unter den Zweigen versteckt, wagten kaum zu atmen und vernahmen mit unsäglicher neuerlicher Aufregung Rede und Gegenrede, die mehr oder weniger deutlich zu uns drang, je nachdem sich Herr und Diener während des Auf- und Abgehens längs des Dickichts uns näherten oder von uns entfernten.

Die ersten Worte, die wir verstehen konnten, sprach Wilhelm Storitz:

»Wir können gleich morgen hinreisen?...

– Ja, gleich morgen, antwortete die zweite unsichtbare Person – wahrscheinlich Hermann – und niemand wird wissen, wer wir sind.

– Wann bist Du nach Ragz zurückgekommen?

– Heute früh.

– Gut... Und dieses Haus ist gemietet?...

– Unter einem angenommenen Namen.

– Und Du weißt bestimmt, daß wir es vor aller Augen beziehen können, daß uns niemand kennt in...«

Zu unserer großen Enttäuschung konnten wir den von Wilhelm Storitz genannten Namen der Stadt unmöglich verstehen. Aber aus dem Gehörten ging hervor, daß unser Feind in kürzester Zeit wieder menschliche Gestalt anzunehmen beabsichtigte. Warum wollte er diese Unvorsichtigkeit begehen? Ich begann zu vermuten, daß seine Unsichtbarkeit nicht über einen bestimmten Termin hinaus ausgedehnt werden durfte, ohne seiner Gesundheit Schaden zu bringen. Ich gebe diese Erklärung, weil sie mir richtig dünkt, aber ich fand niemals Gelegenheit, sie bestätigt zu sehen.

Als die Stimmen sich wieder näherten, beendete Hermann gerade einen begonnenen Satz:[179]

»Und die Polizei von Ragz wird uns unter diesem Namen sicher nicht entdecken.«

Die Polizei von Ragz?... Ja, wollte er sich denn abermals in einer ungarischen Stadt niederlassen?

Das Geräusch der Schritte entfernte sich und Herr Stepark sagte zu mir:

»Welche Stadt?... Welche Namen?... Das sollten wir in Erfahrung bringen.«

Ehe ich antwortete, näherten sich uns die beiden Männer abermals und blieben jetzt wenige Schritte vor uns stehen.

»Ist denn diese Reise nach Spremberg durchaus notwendig? fragte Hermann.

– Unumgänglich notwendig, weil dort mein Kapital angelegt ist. Hier kann ich mich ohnehin nicht ungestraft blicken lassen. Dort aber...

– Haben Sie die Absicht, sich dort in sichtbarer Gestalt zu zeigen?

– Ich bin dazu gezwungen.... Ich glaube kaum, daß man Geld auszahlen würde, ohne den Empfänger gesehen zu haben.«

Auf diese Weise erfüllte sich also, was ich vorausgesehen hatte. Storitz kam jetzt in eine Lage, wo die Unsichtbarkeit aufhörte, von Vorteil zu sein. Er brauchte Geld, und um sich dasselbe zu verschaffen, mußte er auf seine Macht verzichten.

Und er fuhr fort:

»Das Schlimmste ist, daß ich nicht weiß, was ich tun soll. Diese Narren haben mein Laboratorium zerstört und ich habe kein einziges Fläschchen Nr. 2 bei mir. Zum Glück entdeckten sie das Versteck im Garten nicht, aber das ist jetzt ganz mit Schutt bedeckt und Du mußt mir helfen, ihn wegzuräumen.

– Wie Sie wünschen, sagte Hermann.

– Komm übermorgen gegen zehn Uhr vormittags. Für uns ist es ja gleichgültig, ob wir den Tag oder die Nacht wählen, und bei Tage sehen wir besser.

– Warum nicht morgen?

– Für morgen habe ich etwas anderes vor. Ich habe mir einen Hauptschlag ausgedacht, der jemanden, den ich kenne, keine Freude machen wird.«[180]

Wieder entfernten sich die beiden, und als sie wiederkamen:

»Nein, ich gehe nicht von Ragz fort, sagte Wilhelm Storitz mit wutbebender Stimme, ehe die Familie Roderich nicht meinen ganzen Haß und meine Rache gefühlt hat, ehe Myra und dieser Franzose...«

Er sprach den Satz nicht zu Ende, es entrang sich seiner Brust ein heiseres Brüllen....

In diesem Augenblick ging er ganz nahe an uns vorbei; es hätte vielleicht genügt, die Hand auszustrecken, um ihn zu ergreifen. Aber unsere Aufmerksamkeit wurde durch die weiteren Worte Hermanns abgelenkt:

»Man weiß jetzt in Ragz, daß Sie sich unsichtbar machen können, aber das Mittel kennt man nicht, wodurch Sie dieses Wunder bewirken.

– Man wird es auch niemals kennen, antwortete Wilhelm Storitz. Ich bin noch nicht fertig mit dieser Stadt! Weil sie mein Haus verbrannten, glauben sie vielleicht mein Geheimnis zerstört zu haben!... Die Narren!... Auch Ragz wird meine ganze Rache fühlen; nicht einen Stein will ich auf dem andern lassen...«

Kaum war dieser für die Stadt so drohend klingende Satz gesprochen, als die Zweige des Dickichts stürmisch zurückgeschlagen wurden. Herr Stepark hatte sich auf die Stimme zugestürzt. Plötzlich schrie er laut:

»Ich halte den einen, Herr Vidal, fassen Sie den anderen!«

Jeder Zweifel war ausgeschlossen; seine Hände hielten einen fühlbaren, wenn auch unsichtbaren Körper. Aber er wurde mit großer Kraft zurückgeschleudert und wäre gefallen, wenn ich ihn nicht aufgefangen hätte.

Ich glaubte nichts anderes, als daß wir unter diesen für uns sehr ungünstigen Bedingungen angegriffen werden würden, da wir unsere Angreifer nicht sehen konnten. Aber nein! Ein ironisches Lachen ertönte von links und bald hörten wir das Geräusch sich entfernender Schritte.

»Verfehlter Streich! rief Herr Stepark, aber wenigstens sind wir jetzt sicher, daß die Unsichtbarkeit sie nicht hindert, am Körper bestraft zu werden!«

Leider waren sie uns entkommen und wir kannten ihren Aufenthaltsort nicht. Herr Stepark aber schien sehr befriedigt.

»Jetzt halten wir sie, sagte er leise, als wir den Batthyány-Kai entlang schritten. Wir kennen jetzt die Schwäche des Gegners und wissen, daß Storitz übermorgen die Ruine seines Hauses aufsuchen wird. Das gibt[181] uns zwei Methoden in die Hand; versagt die eine, so wird die andere triumphieren.«

Als ich mich von Herrn Stepark verabschiedet hatte, eilte ich zu Dr. Roderich und sperrte mich mit ihm ein, während Markus und Frau Roderich bei Myras Lager wachten. Er mußte sofort erfahren, was sich auf der Svendor-Insel ereignet hatte.

Ich erzählte ihm alles, erwähnte auch die optimistische Schlußfolgerung Herrn Steparks, fügte aber hinzu, daß ich nicht große Hoffnungen darauf baue. Der Doktor war der Meinung, daß angesichts der neuen Drohungen Wilhelm Storitz', angesichts seiner beharrlichen Feindseligkeit in der Verfolgung seines Rachewerkes gegen seine Familie und die ganze Stadt, ein rasches Verlassen derselben dringend notwendig sei. Man mußte fortreisen, heimlich reisen und je früher, desto besser.

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht, sagte ich, und habe nur ein Bedenken: wird Fräulein Myra die Reise ertragen können?

– Die Gesundheit meiner Tochter ist nicht angegriffen, antwortete der Doktor. Sie leidet nicht. Ihr Geist allein ist betroffen worden.

– Er wird wieder gesunden, behauptete ich energisch, besonders in einem anderen Lande, wo sie nichts mehr zu fürchten braucht.

– Ach, rief der Doktor, ob wir durch unsere Abreise auch aller Gefahr entrinnen! Können wir wissen, ob Wilhelm Storitz uns nicht folgen wird?

– Nein, er wird es nicht, wenn wir Stillschweigen beobachten und den Tag der Abreise und unser Ziel als Geheimnis betrachten.

– Als Geheimnis!«... sagte er leise und traurig.

Wie mein Bruder fragte er sich wahrscheinlich, ob man Wilhelm Storitz gegenüber ein Geheimnis haben könne, ob er nicht in diesem Augenblick im Zimmer anwesend war, alles angehört hatte und sich eine neue Teufelei ausdachte!

Aber die Abreise war beschlossene Sache. Frau Roderich hatte nichts dagegen einzuwenden. Sie war froh, Myra in eine andere Umgebung zu bringen.

Auch Markus war damit einverstanden. Ich hatte ihm unser Abenteuer auf der Svendor-Insel nicht erzählt. Es schien mir zwecklos. Aber Hauptmann Haralan teilte ich alles mit, auch er stimmte für die Abreise; dann fragte er: »Sie wollen gewiß Ihren Bruder begleiten?[182]

– Muß ich nicht? Ich bin ihm genau so unentbehrlich, wie Sie, Herr...

– Sie irren, ich werde nicht abreisen, sagte er in so bestimmtem Tone, daß ich erkannte, sein Entschluß war unwiderruflich.

– Sie werden nicht mitkommen?

– Nein, ich will und muß in Ragz bleiben, nachdem er in Ragz ist und ich habe eine Vorahnung, daß mein Bleiben nicht vergeblich sein wird.«

Es war nichts dagegen vorzubringen und so schwieg ich.

»Gut, Hauptmann.

– Ich rechne auf Sie, mein lieber Vidal; Sie werden mich bei meiner Familie, die ja jetzt die Ihrige ist, vertreten.

– Verlassen Sie sich auf mich«, antwortete ich.

Sogleich beschäftigte ich mich mit den Vorbereitungen zur Abreise. Während des Tages mietete ich zwei sehr bequeme Reisewagen, dann suchte ich Herrn Stepark auf und setzte ihn von unseren Plänen in Kenntnis.

»Sie können nichts besseres machen, sagte er, und es ist nur bedauerlich, daß es die ganze Stadt Ihnen nicht gleichtun kann!«


Wir vernahmen Rede und Gegenrede. (S. 179.)
Wir vernahmen Rede und Gegenrede. (S. 179.)

Ich hatte den Polizeichef in Gedanken vertieft gefunden, was mir aber nach dem gestrigen Vorfall durchaus nicht verwunderlich schien.

Gegen sieben Uhr kehrte ich in unser Haus zurück und vergewisserte mich, daß alles zur Abreise bereit lag.

Um acht Uhr hielten die Wagen vor dem Hause. Der eine war für Herrn und Frau Roderich und ihre Tochter bestimmt; Markus und ich sollten den zweiten besteigen, der die Stadt auf einem anderen Wege verlassen mußte, um keinen Verdacht zu erregen.

Und gerade jetzt, nach all den sorgsamen Vorbereitungen, fiel der ganz unerwartete Hauptschlag....

Die Wagen warteten; einer vor dem Haupttore, der andere vor einer Seitenpforte am Ende des Gartens; Dr. Roderich und mein Bruder traten in Myras Zimmer, um sie in den Wagen zu tragen....

Aber an der Schwelle blieben sie stehen, von Todesschrecken wie gelähmt – das Bett war leer, Myra war verschwunden!!...[183]

Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 174-177,179-184.
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