XVI.

[184] Myra war verschwunden!...

Als dieser furchtbare Ruf durch das Haus gellte, wurde er zuerst überhaupt nicht verstanden. Verschwunden?... Was sollte das bedeuten? Das war ja zu unwahrscheinlich.

Vor einer halben Stunde noch waren Frau Roderich und Markus in ihrem Zimmer gewesen; Myra lag wie immer ganz ruhig im Bette, war[184] schon in Reisekleider gehüllt und atmete regelmäßig wie eine Schlafende. Wenige Minuten vorher hatte ihr Markus etwas Nahrung eingeflößt, darauf war er selbst zu Tische gegangen Nach beendeter Mahlzeit begaben sich Dr. Roderich und mein Bruder sogleich in ihr Zimmer, um sie in den Reisewagen zu tragen. Und da hatte es sie eben wie ein Todesstoß getroffen. Sie sahen sie nicht mehr auf ihrem Bette, das Zimmer war leer!

»Myra!« schrie Markus und stürzte zum Fenster hin, um den Verschluß zu prüfen. Das Fenster war nicht geöffnet worden und der Raub,[185] falls es sich hier um einen Raub handelte, war nicht auf diesem Wege ausgeführt worden.

Frau Roderich kam schreckensbleich zu uns, dann Hauptmann Haralan, und durch das ganze Haus tönten die verzweifelten Rufe:


Er wurde mit großer Kraft zurückgeschleudert. (S. 181.)
Er wurde mit großer Kraft zurückgeschleudert. (S. 181.)

»Myra!... Myra!...«

Man begreift, daß keine Antwort auf die Rufe erschallte, und man wartete auf keine Antwort von ihr. Aber wie war ihr Verschwinden zu erklären? Sollte sie allein ihr Lager verlassen, das Zimmer ihrer Mutter durchschritten haben und die Treppe hinunter gegangen sein, ohne daß es jemand bemerkt hätte? War das als möglich anzunehmen?

Ich brachte gerade in den Reisewagen die kleineren Gepäcksstücke unter, als ich die Schreie vernahm. Ich ließ alles stehen und eilte in den ersten Stock.

Dr. Roderich und mein Bruder, welcher mit gebrochener Stimme unaufhörlich den Namen seiner Frau aussprach, gebärdeten sich wie Wahnwitzige.

»Myra?... fragte ich, was meinst Du denn, Markus?«

Der Doktor fand kaum die Kraft, mir zu antworten.

»Meine Tochter – ist verschwunden!«

Frau Roderich war ohnmächtig geworden; Hauptmann Haralan kam mit verzerrten Zügen und verstörten Blicken auf mich zu und sagte:

»Er!... Wieder er!...«

Ich bemühte mich, ruhig zu denken. Die Ansicht des Hauptmannes war kaum zu teilen. Es war nicht anzunehmen, daß sich Wilhelm Storitz in das Haus geschlichen habe, nach den getroffenen Vorsichtsmaßregeln. Allerdings, eine Abreise verursacht notwendigerweise immer eine gewisse Unordnung, die er sich vielleicht zunutze gemacht haben konnte; aber dann hätte er die ganze Zeit auf der Lauer liegen müssen, um den günstigen Augenblick zu erhaschen und eine geradezu wunderbare Geschicklichkeit und Schnelligkeit entfaltet haben.

Aber selbst wenn ich diese Vermutungen gelten ließ, konnte ich an keine Entführung glauben. Ich hatte den Haupteingang, vor welchem der Wagen hielt, nicht einen Augenblick verlassen. Myra konnte unmöglich durch diese Tür gekommen sein und die Gartentür erreicht haben, ohne daß ich sie gesehen hätte! Wilhelm Storitz konnte sich ja unsichtbar machen, das war[186] nicht zu leugnen; aber sie, Myra?... Ich stieg die Galerie hinab und rief den Diener. Die Gartenpforte, die auf den Tököly-Wall führte, wurde verschlossen und ich steckte den Schlüssel zu mir. Dann wurde das ganze Haus, der Dachboden, die Keller, jeder noch so kleine Raum, der Aussichtsturm bis zur Terrasse, aufs genaueste durchsucht, ich ließ keine Ecke unerforscht. Nach dem Hause kam der Garten an die Reihe...

Ich konnte Myra nicht finden.

Als ich wieder zu meinem Bruder kam, fand ich ihn in Tränen aufgelöst, er schluchzte herzbrechend.

Vor allem mußte meiner Meinung nach der Polizeichef verständigt werden.

»Ich eile ins Rathaus, kommen Sie mit mir«, sagte ich zu Hauptmann Haralan.

Der Wagen wartete noch immer. Wir nahmen darin Platz; sobald das große Tor geöffnet war, rollte er im schnellsten Trabe in wenigen Minuten auf den Kurtz-Platz.

Herr Stepark war noch in seinem Arbeitszimmer. Ich teilte ihm das Fürchterliche mit. Dieser Mann, welchen sonst nichts leicht in Erstaunen setzte, konnte kaum seine Fassung bewahren.

»Fräulein Roderich – verschwunden?... rief er.

– Ja, antwortete ich. Es klingt unglaublich, nicht wahr, und dennoch ist es so! Entweder ist sie entflohen oder sie ist geraubt worden! Sie ist nicht mehr da!

– Dabei hat Storitz seine Hand im Spiele gehabt«, brummte Herr Stepark!

Der Polizeichef war also derselben Meinung wie Haralan.

Nach einem Augenblicke des Schweigens fügte er hinzu:

»Das ist wahrscheinlich der Hauptstreich, von dem er mit seinem Helfershelfer sprach.«

Herr Stepark hatte recht. Ja, Wilhelm Storitz hatte uns gewissermaßen auf ein neues Unheil vorbereitet. Und wir in unserer Gedankenlosigkeit hatten an keine Abwehr gedacht.

»Meine Herren, sagte Herr Stepark, wollen Sie mich in Ihr Haus begleiten?

– Sobald Sie es wünschen, antwortete ich.[187]

– Ich bin bereit, meine Herren.... Erlauben Sie mir nur, einige Anordnungen zu treffen.«

Herr Stepark ließ einen Unteroffizier rufen und befahl ihm, mit einer Anzahl Polizeisoldaten das Haus des Doktors während der Nacht zu bewachen. Darauf hatte er eine lange Beratung mit seinem Stellvertreter, die mit leiser Stimme geführt wurde, dann bestieg er mit uns den Wagen.

Das Haus wurde ein zweites Mal durchsucht – vergebens. Aber Herr Stepark machte eine bemerkenswerte Beobachtung, als er Myras Zimmer betreten hatte.

»Herr Vidal, sagte er, fällt Ihnen nicht ein eigentümlicher Geruch auf, der schon einmal auf unser Geruchsorgan gewirkt hat?«

Wirklich schwebte ein leiser Duft in der Luft und jetzt wurde auch die Erinnerung in mir lebendig, ich rief:

»Es ist der Geruch jener Flüssigkeit in der Phiole in Storitz' Laboratorium, Herr Stepark, welche in dem Momente zerbrach, als Sie sie fassen wollten.

– Sie haben es erraten, Herr Vidal, und diese Tatsache berechtigt zu mancher Vermutung. Wenn es diese Flüssigkeit ist, welche das Unsichtbarwerden bewirkt, hat vielleicht Wilhelm Storitz Fräulein Roderich davon eingeflößt und sie, unsichtbar wie er selbst, fortgetragen?«

Wir waren wie versteinert nach diesen Worten. Natürlich, so und nicht anders war es gewesen! Jetzt wurde es mir zur Gewißheit, daß Wilhelm Storitz während der Haussuchung in seinem Laboratorium gewesen war und die Phiole, deren Inhalt sich so rasch verflüchtigt hatte, selbst zerbrach, ehe er sie in unsere Hände fallen ließ. Ja, damals verspürten wir denselben charakteristischen Geruch, der uns hier entgegentrat. Ja! Wilhelm Storitz hatte den durch die Abreise bedingten Mangel an Wachsamkeit benützt, um in das Haus zu dringen und hatte Myra fortgetragen.

Welch eine schreckliche Nacht, die ich bei meinem Bruder, Herr Roderich bei seiner Frau verbrachte! Tagesanbruch war kaum zu erwarten!

Und doch! Was konnte uns der Tag bringen?... Das Licht war bedeutungslos für Wilhelm Storitz, welcher sich mit undurchdringlicher Nacht zu umgeben wußte!

Herr Stepark verließ uns beim Morgengrauen, um sich in das Regierungsgebäude zu begeben. Ehe er sich empfahl, nahm er mich beiseite[188] und sagte mir die rätselhaften Worte, besonders rätselhaft unter den jetzigen Umständen:

»Einen Augenblick, Herr Vidal! Verlieren Sie den Mut nicht, denn – ich glaube mich nicht zu irren – Sie stehen am Ende Ihrer Leiden!«

Ich antwortete nicht auf diese ermutigenden Worte, die mir in diesem Augenblicke sinnlos erschienen und blickte den Polizeichef verständnislos an. Hatte ich überhaupt seine Worte vernommen? Ich war ganz haltlos, war am Ende meiner Kraft und Energie angelangt; es war mit mir nichts mehr anzufangen.

Gegen acht Uhr morgens erschien der Gouverneur, um Dr. Roderich die Versicherung zu geben, daß zur Auffindung seiner Tochter alle Kräfte aufgeboten werden würden. Dr. Roderich und ich hatten nur ein schmerzliches, ungläubiges Lächeln zur Antwort. Was konnte auch der Gouverneur helfen!

Schon in den ersten Morgenstunden hatte sich die Nachricht von der Entführung Myras durch alle Teile der Stadt verbreitet; ich unterlasse es, die Wirkung zu schildern, die sie hervorrief.

Noch vor neun Uhr erschien Leutnant Armgard und stellte dem Kameraden seine Hilfe zur Verfügung. Wozu, großer Gott!

Hauptmann Haralan schien dieses freundschaftliche Anerbieten nicht so unnütz zu finden, wie ich, denn er dankte ihm kurz, schnallte seinen Säbel um, nahm die Mütze und sagte nur das eine Wort:

»Komm!...«

Als sich die zwei Offiziere zum Fortgehen anschickten, überkam mich ein unwiderstehlicher Drang, sie zu begleiten. Ich machte Markus den Vorschlag, mitzukommen. Hatte er mich verstanden? Ich weiß es nicht. Jedenfalls antwortete er keine Silbe.

Die beiden Offiziere hatten schon den Kai erreicht, als ich aus dem Hause trat. Die wenigen Passanten betrachteten dieses Haus mit erschreckten, scheuen Blicken. Das war ja der Ort, von dem alles Unheil ausging, das Ragz in Todesangst versetzte.

Als ich Leutnant Armgard und Hauptmann Haralan erreicht hatte, sah mich letzterer an, aber ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn man mir gesagt hätte, daß er mich gar nicht erkannt habe.

»Kommen Sie mit uns, Herr Vidal? fragte Leutnant Armgard.[189]

– Ja, wohin gehen Sie?...«

Er zuckte die Achseln. Wohin gingen sie?...

Sie ließen sich wohl vom Zufall treiben und vielleicht war gerade der Zufall der sicherste Führer.

Nach einigen Schritten blieb Hauptmann Haralan plötzlich stehen und fragte kurz:

»Wie viel Uhr ist es?

– Ein Viertel auf zehn«, antwortete sein Freund, nachdem er seine Uhr zu Rate gezogen.

Wir schritten weiter.

Ziellos gingen wir dahin, ohne ein Wort zu wechseln. Wir hatten den Magyar-Platz überschritten und waren die Milosch-Straße entlang gewandert, dann gingen wir unter den Arkaden um den Michaels-Platz herum. Manchmal blieb der Hauptmann wie angewurzelt stehen und fragte nach der Zeit. »Neun Uhr fünfundzwanzig Minuten, halb zehn, zwanzig Minuten vor zehn Uhr«, antwortete sein Kamerad. Nach erhaltener Auskunft ging Haralan unsicheren Schrittes weiter.

Jetzt wandten wir uns nach links, gingen an der Kathedrale vorüber und nach kurzem Zögern schlug der Hauptmann die Bihar-Straße ein.

Dieses vornehmste Viertel von Ragz war wie ausgestorben; man traf kaum einen Menschen auf der Straße, die Fenster der meisten Häuser waren fest verschlossen, es war wie ein allgemeiner Trauertag.

Am Ende dieser Straße konnte man den Tököly-Wall in seiner ganzen Länge übersehen. Er lag ganz verlassen da, man floh ihn, seitdem das Haus Wilhelm Storitz' zerstört war.

Ich war neugierig, welche Richtung der Hauptmann wohl jetzt einschlagen würde; nach der oberen Stadt, dem Schlosse zu, oder gegen den Batthyány-Kai, der Donau zu?

Wieder war er, wie unschlüssig, stehen geblieben. Dann kam die oft wiederholte Frage:

»Wie viel Uhr ist es, Armgard?

– Es fehlen noch zehn Minuten auf zehn Uhr, antwortete der Leutnant.

– Dann ist es Zeit«, sagte Haralan und schritt rasch den Wall entlang.

Wir kamen an dem Gitter des Hauses Storitz' vorüber; der Hauptmann blickte nicht hin. Er schritt achtlos um die ganze Besitzung herum[190] und blieb erst dort stehen, wo der Weg durch die hier ungefähr zwei und einen halben Meter hohe Umfassungsmauer vom Garten getrennt war.

»Helft mir«, sagte er, indem er auf die Kante der Mauer wies.

Dieses Wort schloß alle möglichen Erklärungen in sich. Jetzt verstand ich, welche Absicht Myras unglücklichen Bruder hierher getrieben hatte!

Zehn Uhr! Das war ja die von Wilhelm Storitz festgesetzte Stunde, die Herr Stepark und ich aus dem erlauschten Gespräch erfahren hatten. Ich hatte dem Hauptmann auch diesen Teil des Gespräches mitgeteilt. Natürlich, jetzt, in diesem Augenblick, mußte dieses menschliche Ungeheuer hinter dieser Mauer bemüht sein, den Eingang zu dem Versteck freizulegen, das die Vorräte an unheimlichen Substanzen verbarg, von denen er einen so verbrecherischen Gebrauch machte.

Wird es uns gelingen ihn bei seiner Arbeit zu überraschen? Es schien mir nicht sehr wahrscheinlich! Aber immerhin bot sich uns eine Gelegenheit, auf die wir kein zweites Mal rechnen konnten und die wir uns nicht entgehen lassen durften.

Wir halfen uns gegenseitig, hatten in wenigen Minuten die Mauer überklettert und befanden uns im Innern des Gartens, in einer schmalen Allee, die durch dichtes Buschwerk abgegrenzt war. Weder Storitz noch sonst jemand hatte uns bemerken können.

»Bleibt stehen!« befahl uns Hauptmann Haralan, schlich leise längs der Mauer dem Hause zu und war bald unseren Blicken entschwunden.

Einen Augenblick lang blieben wir unbeweglich. dann trieb uns die Neugierde, auch auf Entdeckung auszugehen. Das Dickicht verbarg uns vor fremden Blicken und so huschten wir in gebeugter Stellung unter den tiefstehenden Zweigen hindurch und näherten uns mit unhörbaren Schritten dem Hause.

Als wir den Rand des Gehölzes erreicht hatten, erblickten wir es. Ein etwa zwanzig Meter breiter offener Rain trennte uns davon. Wir drückten uns dicht an den Boden, hielten den Atem an und warteten in fieberhafter Erregung das Kommende.

Es standen nur mehr die vier rauchgeschwärzten Mauern, um dieselben lagen Steine, halbverkohlte Balken des Dachstuhles, geschmolzene Eisenstangen, Asche und zertrümmerte Möbelstücke.

Wir betrachteten diesen Schutthaufen.[191]

Ach! hätten doch die Flammen diesen schrecklichen Menschen mitsamt seinem Hause verzehrt und mit ihm das Geheimnis dieser fluchbeladenen Erfindung!

Der Leutnant und ich ließen unsere Blicke unausgesetzt über den ganzen Platz schweifen; da zuckten wir plötzlich zusammen. Kaum dreißig Schritte vor uns lag Hauptmann Haralan auf der Lauer, wie wir am Rande des Dickichts. Unser Gefährte hatte sich zum Beobachtungsposten jene Stelle ausgesucht, wo das Gehölz sich durch eine harmonische Wendung der Ecke des Hauses näherte, von dem es nur durch eine etwa sechs Meter breite Allee getrennt war. An dieser ihm ganz nahe liegenden Hausecke hafteten die Blicke des Hauptmannes. Er lag vollkommen bewegungslos da, man sah ihm an, wie alle seine Gedanken auf den einen Punkt konzentriert waren; sprungbereit, mit gespannten Muskeln, glich er einem wilden Tier auf der Lauer.

Wir folgten der Richtung seiner Blicke und wußten nun, was sie fesselte. Ein seltsames Phänomen zeigte sich uns. Die Schutteile wurden wie von Geisterhänden in Bewegung gesetzt. Langsam, vorsichtig, als ob die unsichtbaren Arbeiter jedes Geräusch vermeiden wollten, wurden die Steine, die Eisenteile, die tausend verschiedenen an diesem Platze aufgehäuften Trümmer beiseite geschoben, entfernt, an einer anderen Stelle angehäuft.

Starren Blickes, wie gelähmt von geheimem Entsetzen, sahen wir den Vorgang an. Die Wirklichkeit blendete uns. Wilhelm Storitz war da! Und wenn auch die Arbeiter unsichtbar waren, ihre Tätigkeit war zu erkennen....

Plötzlich erscholl ein Zornesruf.... Wir sahen von unserem Verstecke aus, wie Haralan in einem einzigen Sprunge die Allee überflog.... Bei dem erwähnten Trümmerhaufen kam er wieder auf seine Füße zu stehen und schien mit einem unbekannten Hindernis zusammen zu stoßen.... Bald wich er vor, bald zurück, öffnete und schloß die Arme, beugte sich und richtete sich auf, es war wie ein Ringen Leib an Leib....


»Zu mir! Ich hatte ihn!. (S. 192.)
»Zu mir! Ich hatte ihn!. (S. 192.)

»Zu mir! rief Hauptmann Haralan. Ich halte ihn!« Leutnant Armgard und ich stürzten zu seiner Unterstützung herbei.

»Ich halte den Elenden.... Jetzt entkommt er mir nicht mehr..., wiederholte er. Herbei, Vidal!... Hilf, Armgard!...«[192]

Plötzlich fühlte ich mich durch einen kräftigen Arm zurückgestoßen und verspürte den heißen Atem eines Menschen dicht vor meinem Gesicht.

Und setzt beginnt ein Ringkampf auf Leben und Tod. Wir halten es, das unsichtbare Wesen, ob Wilhelm Storitz oder einen seiner Verbündeten.... Wer es auch sei, unsere Hände fassen ihn, wir werden ihn nicht mehr loslassen und ihn zwingen, uns über Myras Verbleib Auskunft zu erteilen.

Es hatte ja schon Herr Stepark bestätigt, daß der materielle Teil seines Körpers fortbesteht, wenn er ihn auch unsichtbar machen kann. Das[193] ist kein Gespenst, sondern ein wirklicher Körper, den wir mit dem Aufgebote all unserer Kraft festzuhalten und zu meistern trachten.

Es gelingt uns endlich. Ich halte den unsichtbaren Gegner bei einem Arme. Leutnant Armgard hat den anderen gefaßt.

»Wo ist Myra?... Wo ist Myra?...« fragt Hauptmann Haralan in fieberhafter Erregung.

Keine Antwort. Der Bösewicht trachtet sich loszuringen und zu entfliehen. Wir haben es mit einem sehr kräftigen Manne zu tun, welcher heftig um sich schlägt und uns zu entkommen trachtet. Wenn es ihm gelingen sollte, durch den Garten oder über die Trümmerhaufen den Wall zu gewinnen, mußte alle Hoffnung aufgegeben werden, ihn jemals zu erreichen.

»Sage mir augenblicklich, wo Myra ist...« wiederholte Hauptmann Haralan in höchster Wut.

Endlich eine Antwort, zwei Worte:

»Niemals.... Niemals!...«

Soweit man die keuchende Stimme erkennen konnte, war es Wilhelm Storitz selbst, welcher sprach.

Der Kampf mußte ein Ende nehmen; wir waren drei gegen einen und wenn letzterer auch über ungewöhnliche Kräfte verfügte, lange konnte er uns nicht mehr widerstehen. Da mit einem Male wird Leutnant Armgard zurückgerissen und fällt auf den Rasen nieder. Fast gleichzeitig fühle ich mich am Bein gepackt. Ich überschlage mich regelrecht und werde dadurch gezwungen, meine Beute loszulassen.

Hauptmann Haralan erhält einen furchtbaren Fausthieb ins Gesicht. schwankt und greift mit beiden Armen in die Luft.

»Er entkommt mir!... er entflieht!...« Das ist kein Schreien mehr, er brüllt es.

Wahrscheinlich war Hermann ganz unvermutet zurückgekommen und seinem Herrn beigesprungen.

Ich erhebe mich, während der Leutnant noch halb betäubt auf der Erde liegt, und eile, dem Hauptmann zu helfen. Vergebene Mühe.... Wir fassen nur die leere Luft. Wilhelm Storitz ist entkommen....

Aber, was ist das? Vom Rande des Gebüsches tauchen Männer auf! Andere nähern sich durch die Gittertüre, noch andere treten aus den Ruinen des Hauses. Von allen Seiten kommen sie herbei, es sind ihrer viele Hunderte.[194]

Sie halten sich Mann an Mann und sind in drei Reihen aufgestellt. Die Leute der ersten Reihe tragen die Uniform der Ragzer Polizei, die beiden letzten Reihen werden von Soldaten des Grenzer-Regimentes gebildet. Im Handumdrehen haben sie einen weiten Kreis gebildet, der sich langsam und regelmäßig verengt....

Jetzt verstand ich die optimistischen Abschiedsworte des Polizeichefs! Von Storitz selbst von dessen Plänen unterrichtet, hatte er schweigend die notwendigen Maßnahmen getroffen, und war mit einer Virtuosität zu Werke gegangen, die mich mit aufrichtiger Bewunderung erfüllte. Von diesen Hunderten von Menschen hatten wir auch nicht einen beim Betreten des Gartens bemerkt.

Der Kreis, dessen Mittelpunkt wir zu bilden schienen, zog sich zusammen, wurde enger und enger.... Nein! Wilhelm Storitz konnte nicht entfliehen!... Er war in der Falle!...

Und er begriff seine verzweifelte Lage, denn in unserer Nähe wurde ein Wutausbruch vernehmbar. Jetzt, eben als Leutnant Armgard seine Besinnung wiedererlangt und sich vom Rasen zu erheben sucht. wird sein Säbel aus der Scheide gerissen, eine unsichtbare Hand schwingt ihn, Wilhelm Storitz' Hand. Der Zorn reißt ihn fort. Nachdem er nicht entfliehen, sich nicht, retten kann. will er Rache nehmen an Hauptmann Haralan, ihn töten....

Dieser war dem Beispiel des Feindes gefolgt und zieht den Säbel. Sie stehen sich, wie bei einem Duell, gegenüber; den einen Gegner kann man sehen, der andere ist unsichtbar!... Die beiden Säbel berühren sich, der eine ist von sichtbarer Hand gehalten, der andere scheint in der Luft zu schweben!...

Dieser seltsame Kampf verläuft zu schnell, als daß wir ihn hätten verhindern, einschreiten können.

Man sieht, Wilhelm Storitz versteht sich auf die Führung des Säbels. Hauptmann Haralan greift nur an und vernachlässigt seine Verteidigung. Jetzt hat ihn ein Schlag an der Schulter verwundet, aber gleichzeitig stößt er seine Waffe gerade vor sich hin.... Ein Schmerzensschrei ertönt.... Die Grashalme des Bodens legen sich nieder....

Es ist nicht der Wind, der sie niederbeugt. Es ist – wie wir gar bald sehen konnten – das Gewicht eines menschlichen Körpers, es ist der[195] Leib Wilhelm Storitz'; Haralans Säbel hat ihn mitten in die Brust getroffen und seinen Körper durchbohrt.

Ein Blutstrahl sprang auf und gleichzeitig mit dem fliehenden Leben nahm der Körper wieder seine materielle Gestalt an und erschien in den letzten Todeszuckungen.

Hauptmann Haralan hatte sich über Wilhelm Storitz geworfen und rief:

»Myra?... Wo ist Myra?...«

Er wartete vergeblich auf eine Antwort, denn vor ihm lag ein Toter, mit verzerrten Zügen, weit geöffneten Augen, die ihren drohenden Ausdruck im Tode behalten hatten; der sichtbare Leichnam der seltsamen Persönlichkeit, die einmal Wilhelm Storitz war!

Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 184-196.
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