IV.

[48] Der Morgen war angebrochen – der große Tag meines offiziellen Besuches bei der Familie Roderich.

Die Wohnung des Doktors liegt am Ende des Batthyány-Kais, dort, wo er den Tököly-Wall schneidet, der – unter verschiedenen Namen – die Stadt im Kreise einschließt. Es ist ein modernes Gebäude, das im Innern eine ebenso reiche wie vornehme Ausschmückung aufweist und mit jenem gediegenen Geschmack möbliert ist, welcher auf ein seines, künstlerisches Empfinden schließen läßt.

Durch das große Haustor, neben dem sich ein kleinerer Eingang befindet, gelangt man in den gepflasterten Hof, der sich in einem großen, von Ulmen, Akazien, Kastanienbäumen und Buchen umsäumten Garten fortsetzt; die mächtigen Baumwipfel überragen die hohen Einfassungsmauern. Gegenüber den zwei Eingangstüren befinden sich die Nebengebäude, an deren Mauern sich Aristolochia und wilder Wein emporranken und die durch einenGlasgang mit färbigen Scheiben mit dem Haupttrakt verbunden sind. Dieser Verbindungsgang mündet schließlich an der Basis eines runden, ungefähr sechzig Fuß hohen Turmes, in welchem sich die Treppe hinaufwindet.


Auf einer Staffelei sah und bewunderte ich das Porträt Fräulein Myras. (S. 51.)
Auf einer Staffelei sah und bewunderte ich das Porträt Fräulein Myras. (S. 51.)

Die Vorderfront des Hauses schmückt eine Galerie mit Glasfenstern, auf die sich die mit schönen alten Stickereien drapierten Türen öffnen, die ins Arbeitszimmer des Arztes, in die Empfangsräume und in den Speisesaal führen. Die sechs Fenster der Hauptfront sind nach dem Batthyány-Kai gerichtet, durch die übrigen blickt man auf den Tököly-Wall.

Das zweite Stockwerk zeigt dieselbe Zimmereinteilung wie das erste. Über dem großen Salon und dem Speisesaal liegen die Zimmer von Herrn und Frau Roderich, den zweiten Stock bewohnt Hauptmann Haralan; über dem Arbeitszimmer des Doktors sind das Schlaf- und Toilettezimmer von Fräulein Myra gelegen.

Ich kannte das Haus, noch ehe mein Faß seine Schwelle betreten. Während unseres Gespräches am vorhergehenden Abend hatte es Markus in allen Einzelheiten beschrieben, ohne das Geringste zu vergessen; auch der originellen Treppe hatte er Erwähnung getan, die von einem Aussichtsturm mit rundlaufender Galerie überragt ist, von der aus man einen herrlichen Ausblick über die ganze Stadt und den Donaustrom genießt. Ich wußte sogar aufs allergenaueste den Lieblingsplatz Fräulein Myras bei Tisch oder im großen Salon anzugeben; wußte, welche Bank im verborgensten Teile des Gartens sie mit Vorliebe wählte; sie stand im Schatten eines prachtvollen Kastanienbaumes.

Gegen ein Uhr nachmittags wurden wir, Markus und ich, in der geräumigen Glasgalerie empfangen, die an der Vorderfront des Hauptgebäudes vorspringt. In der Mitte stand eine prachtvolle, aus Kupfer gearbeitete Jardiniere, in welcher Frühlingsblumen ihre Schönheit entfalteten. Die Ecken schmückten grüne Sträucher der Tropenzone: Palmen, Drazänen und Araukarien. An den Wänden hingen mehrere Gemälde der ungarischen und holländischen Schule, die Markus sehr lobte.

Auf einer Staffelei sah und bewunderte ich das Porträt Fräulein Myras, ein Kunstwerk ersten Ranges, wohl würdig des Namens, mit dem es gezeichnet war und der mir der liebste auf Erden ist.

Dr. Roderich hatte das fünfzigste Lebensjahr erreicht, aber man konnte ihm seine Jahre nicht ansehen. Er war sehr groß und hielt sich sehr[51] gerade, seine dichten Haare waren leicht ergraut; seine Gesichtsfarbe verriet eine unerschütterliche Gesundheit, eine kräftige Konstitution, an der jede Krankheit machtlos abprallen mußte. Man erkannte in ihm auf den ersten Blick den echten magyarischen Typus in seiner ursprünglichen Reinheit: das lebhafte, scharfe Auge, die edle Haltung, den entschiedenen Gang; über sein ganzes Wesen lag ein natürlicher Stolz gebreitet, der aber durch den lächelnden Gesichtsausdruck gemildert war. Während ich ihm vorgestellt wurde, fühlte ich an dem warmen Druck seiner Hand, daß ich dem besten Menschen gegenüber stand.

Frau Roderich war fünfundvierzig Jahre alt, ihr Antlitz zeigte noch deutliche Spuren einstiger, großer Schönheit, regelmäßige Züge, tiefblaue Augen und prachtvolle Haare, die stellenweise weiße Fäden aufwiesen, einen sein gezeichneten Mund, eine schlanke, elegante Gestalt.

Markus' Schilderung war richtig. Sie machte auch auf mich den Eindruck einer vortrefflichen Frau, welche alle häuslichen Tugenden in sich zu vereinen schien, im Zusammenleben mit ihrem Gatten das höchste Glück gefunden hatte und in der Liebe für ihren Sohn und ihre Tochter mit der ganzen Zärtlichkeit einer weisen und umsichtigen Mutter aufging.

Frau Roderich nahm mich mit großer Herzlichkeit auf, die mich tief bewegte. Sie sei glücklich, sagte sie, Markus Vidals Bruder in ihrem Hause begrüßen zu können, besonders dann, wenn er es als das seine betrachten wolle.

Aber was soll ich von Myra Roderich sagen? Sie kam lächelnd auf mich zu, die Hand oder vielmehr die Arme ausgestreckt. Ja, dieses junge Mädchen sollte mir eine liebe Schwester werden, eine Schwester, welche mich umarmte und die ich ohne Umstände küßte. Und ich habe alle Ursache zu glauben, daß Markus, als er dies sah, den Stachel des Neides gefühlt hat.

»Mir ist das noch nicht gestattet, seufzte er nicht ganz frei von Eifersucht.

– Sie sind auch nicht mein Bruder!« belehrte ihn fröhlich meine künftige Schwägerin.

Myra Roderich war genau so, wie sie Markus mir geschildert, genau so, wie das Bild sie darstellte, das ich vor wenigen Augenblicken bewundert hatte: ein junges Mädchen, dessen reizender Kopf von einer Fülle seidenweicher,[52] blonder Haare umgeben war, zuvorkommend, lebhaft, mit prächtigen, geistvollen, tiefblauen Augen; ihre Wangen zeigten das warme, ungarische Kolorit, die rosigen Lippen des sein gezeichneten Mundes öffneten sich über leuchtenden, weißen Zähnchen. Ihre Gestalt überragte die Mittelgröße, ihr Gang war schwebend: sie war die personifizierte Anmut, voll vornehmer Würde, ohne jede Unnatürlichkeit und Pose.

Wenn man von Markus' Bildern behauptete, sie seien ähnlicher als ihre Vorbilder, so konnte man mit noch größerer Berechtigung von Myra Roderich behaupten, sie sei natürlicher als die Natur!

Sie trug gleich ihrer Mutter die ungarische Nationaltracht: das am Halse geschlossene Hemd, dessen Ärmel am Handgelenk durch Stickereien zusammengehalten wurden und das mit Metallknöpfen verzierte Mieder; der Gürtel wurde von einer Masche aus golddurchwirktem Band zusammengehalten, der Rock fiel in weichen Falten bis auf die Knöchel nieder, die Schuhe waren aus goldbraunem Leder – das Gesamtbild war sehr günstig und auch der geläutertste Geschmack würde daran nichts Tadelnswertes gefunden haben!

Hauptmann Haralan war auch anwesend in seiner prächtigen Uniform; jetzt erst fiel mir die große Ähnlichkeit mit seiner Schwester auf. Auch er hatte mir die Hand gereicht, mich als Bruder begrüßt; wir waren schon gute Freunde, wenn auch die Freundschaft erst am Vorabende geschlossen worden war. Jetzt war ich also mit allen Mitgliedern der Familie bekannt.

Das Gespräch entwickelte sich zwanglos und sprang von einem Thema auf das andere über. Wir sprachen von meiner Reise, der Schiffahrt an Bord der »Dorothea«, von meinen Beschäftigungen in Frankreich, von der Zeit, die mir zur Verfügung stand, von der schönen Stadt Ragz, mit deren Merkwürdigkeiten man mich bekannt machen wollte, von dem alten Donaustrom, dessen Wellen die Sonnenstrahlen einzuatmen scheinen und dessen Lauf ich mindestens bis zum Eisernen Tor verfolgen sollte, vom Magyarenlande, das so reich ist an historischen Erinnerungen, von der weltberühmten Pußta, die alle Neugierigen der Welt anzieht etc.

»Wie froh sind wir, Sie jetzt in unserer Mitte zu wissen, Herr Vidal! wiederholte Myra Roderich, indem sie mit einer anmutigen Bewegung die Hände verschlang. Ihre Reise zog sich in die Länge und wir waren schon[53] sehr in Sorge um Sie. Ganz beruhigt waren wir erst, nachdem wir Ihren Brief aus Pest er halten hatten.

– Ich fühle mich sehr schuldbewußt, Fräulein Myra, antwortete ich, daß ich mich unterwegs aufgehalten habe. Ich hätte längst schon in Ragz sein können, wenn ich von Wien ab den Postwagen benützt hätte. Aber die Ungarn hätten es mir wahrscheinlich niemals verziehen, ihre Donau verachtet zu haben, auf die sie – und mit vollster Berechtigung – so stolz sind und die ihren Ruf verdient.

– Jawohl, pflichtete mir Herr Roderich bei, die Donau ist unser ruhmreicher Strom und unser unbestrittenes Eigentum von Preßburg bis Belgrad.

– Nach dieser Rechtfertigung werden wir Ihnen wohl verzeihen müssen, Herr Vidal, meinte Frau Roderich; schließlich sind Sie ja jetzt da und nichts steht mehr dem Glücke dieser beiden Kinder im Wege.«

Während sie sprach, suchten ihre zärtlichen Blicke ihre Tochter und Markus, welche ihr Herz nicht mehr zu trennen vermochte. Herr Roderich tat desgleichen. Was die »beiden Kinder« anbelangt, so ist von ihnen zu vermelden, daß sie sich »mit den Blicken verzehrten«, wie der Volksmund sagt. Und ich war tief ergriffen von dem unschuldigen Glück dieser unvergleichlichen Familie.

An diesem Nachmittag wurde kein Spaziergang unternommen. Der Doktor mußte zwar seinen gewohnten Beschäftigungen nachgehen, aber Frau Roderich und ihre Tochter hatten nichts vor, das sie hinausgelockt hätte. In ihrer Gesellschaft durchwanderte ich das ganze Haus und bewunderte die Schätze, die es enthielt, die Gemälde und herrlichen Ziergeräte, im Speisesaal die kostbaren Schränke, die das Silber enthielten, in der Galerie die wertvollen, alten Truhen.

»Und der Turm? rief Myra. Glaubt Herr Vidal vielleicht, sein erster Besuch hier sei vollgültig, ehe er den Turm bestiegen?

– Das will ich gewiß tun, Fräulein Myra, antwortete ich. Ich erinnere mich nicht eines einzigen Briefes meines Bruders, in dem er mir nicht in den anerkennendsten Ausdrücken eine Lobeshymne auf den Turm gesungen hätte und – um der Wahrheit die Ehre zu geben – ich bin eigentlich nur aus dem Grunde nach Ragz gekommen, um den Turm zu besteigen![54]

– Dieses Wagnis müssen Sie aber ohne mich unternehmen, sagte Frau Roderich; es ist mir ein wenig zu hoch.

– O Mutter, es sind ja nur einhundertundsechzig Stufen!...

– Was in Deinem Alter nicht einmal vier Stufen im Jahre bedeutet, scherzte Hauptmann Haralan.

– Aber bleibe unten, liebe Mutter; wir treffen uns im Garten wieder.

– Auf! In den Himmel!« rief Myra fröhlich.

Sie flog die Stufen hinan und wir hatten Mühe, ihren leichten Schritten zu folgen. In zwei Minuten war die Höhe erreicht und von der Terrasse bot sich meinen entzückten Blicken das herrlichste Panorama.

Gegen Westen breitete sich die Stadt mit ihren Vororten aus; sie wird von einem Hügel, Wolkang genannt, überragt, der von einem alten Schlosse gekrönt ist; sein befestigter Wachtturm ist halb verborgen durch die lang herabwallende ungarische Flagge. Im Süden windet sich die einhundertfünfundsiebzig Klafter breite Donau durch das Land, deren Wellen unaufhörlich von zahllosen Fahrzeugen durchfurcht werden; im Hintergrunde erheben sich die fernen Berge des Serbenlandes. Den Norden nimmt die Pußta ein mit ihren dichtgedrängten Wäldern, die den Eindruck von Baumgruppen in einem Parke machen, ihren Wiesen, Feldern und Weideflächen; eingeleitet wird sie durch eine ganze Ortschaft von Bauernhäusern, die leicht an ihren spitzen Taubenschlägen zu erkennen sind.

Ich war ganz entzückt von dem prachtvollen Rundblick, der so abwechslungsreiche Szenerien bietet; es war ein herrlicher Tag und das Auge konnte bei dem hellen Sonnenschein bis zu den äußersten Grenzen des Horizontes dringen.

Fräulein Myra glaubte, mir einige Erklärungen geben zu müssen.

»Hier sehen Sie, sagte sie, das aristokratische Viertel mit seinen Palästen, Privathäusern, Plätzen und Monumenten.... Auf der anderen Seite, Herr Vidal, erblicken Sie das geschäftliche Viertel; Sie sehen die Märkte und in den Straßen drängen sich geschäftige Menschen... Und erst die Donau – denn wir kommen immer wieder auf unsere Donau zu sprechen – sehen Sie nur. welch ein Leben auf ihr!... Und dort die grüne Svendor-Insel mit ihren Baumgruppen und blühenden Wiesen. – Mein Bruder darf nicht vergessen, Sie hinzuführen.[55]

– Sei ruhig, antwortete Hauptmann Haralan, Herr Vidal muß mir in jeden Winkel von Ragz folgen; nichts wird ihm geschenkt.

– Und unsere Kirchen, nahm Fräulein Myra wieder das Wort, sehen Sie unsere Kirchen mit ihren Türmen und den vielen Glockenspielen? Die werden Sie Sonntags erklingen hören. Und unser Rathaus mit der Festhalle, dem hohen Dach, den großen Fenstern und dem Uhrturm, dessen laute Stimme die Stunden verkündet!

– Schon morgen, sagte ich, will ich ihm meinen Besuch abstatten!

– Und Sie, mein Herr, fragte Fräulein Myra, indem sie sich an ihren Bräutigam wandte, was bewundern Sie, während ich Ihrem Bruder das Rathaus zeige?

– Die Kathedrale, Myra... das imposante Gebäude, die Türme der Fassade, den hohen Vierungsturm, der sich dem Himmel nähert, wie um unsere Gebete hinauszutragen und vor allem diese herrliche, monumentale Treppe!

– Warum, fragte Myra, verschwenden Sie so viel Enthusiasmus auf diese Treppe?

– Weil man über sie auf einen bestimmten Platz im Chor, gerade unter dem hohen Turm, gelangt, antwortete Markus, indem er seine Braut, in deren Wangen eine leise Röte stieg, anblickte, wo...

– Wo?... fragte Myra.

– Wo ich aus Ihrem Munde das süßeste und inhaltsreichste aller Worte hören werde, obwohl es nur aus einer kurzen Silbe besteht.«

Wir waren ziemlich lange auf der Galerie des Aussichtsturmes geblieben und gingen nun in den Garten, wo uns Frau Roderich erwartete.

Ich speiste an diesem Tage an der Familientafel; den Abend verbrachten wir im engsten Kreise. Fräulein Myra setzte sich mehrmals ans Klavier und begleitete selbst jene so originellen ungarischen Melodien, Oden, Elegien, Epen und Balladen, die sie mit klangvoller Stimme vortrug und die man nicht ohne tiefe Bewegung hören kann. Es war wunderschön und unser Beisammensein hätte sich vielleicht bis in eine ziemlich vorgerückte Stunde der Nacht verlängert, wenn Hauptmann Haralan nicht das Zeichen zum Aufbruch gegeben hätte.

Als wir uns wieder im Hotel Temesvár, in meinem Zimmer befanden, wohin mir Markus gefolgt war, fragte er:


Fräulein Myra setzte sich mehrmals ans Klavier. (S. 56.)
Fräulein Myra setzte sich mehrmals ans Klavier. (S. 56.)

»Habe ich übertrieben, oder glaubst Du, daß es auf der ganzen Welt ein anderes junges Mädchen...

– Ein anderes! unterbrach ich ihn. Ich frage mich überhaupt, ob es dieses eine gibt, ob Fräulein Myra Roderich wirklich existiert?

– Ach, Heinrich! Wenn Du wüßtest, wie ich sie liebe!

– Das ist sehr begreiflich und setzt mich gar nicht in Erstaunen, mein lieber Markus. Wäre es nicht der Fall, würde ich meinen Bruder verleugnen.«

Darauf suchten wir unser Lager auf. Keine Wolke hatte diesen friedvollen, glücklichen Tag verdüstert.

Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 48-49,51-57,59.
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