V.

[59] Schon am folgenden Tage begann ich meine Wanderungen durch Ragz in Gesellschaft des Hauptmanns Haralan. Markus war während dieser Zeit beschäftigt, verschiedene, auf seine Vermählung bezügliche Formalitäten zu erledigen; man hatte das Datum auf den 1. Juni festgesetzt. Bis dahin waren noch ungefähr zwanzig Tage. Hauptmann Haralan rechnete es sich zur Ehre an, mich mit seiner Vaterstadt bekannt zu machen und zeigte mir jede bemerkenswerte Einzelheit. Es wird kaum einen gewissenhafteren, gebildeteren und liebenswürdigeren Führer geben als ihn.

Obwohl mich die Erinnerung an Wilhelm Storitz mit einer Hartnäckigkeit verfolgte, die mich manchmal selbst in Erstaunen setzte, erwähnte ich diesen Namen ihm gegenüber niemals, wie ich ja auch mit meinem Bruder nur kurz von ihm gesprochen hatte. Da auch er über diesen Punkt Schweigen beobachtete, war es wahrscheinlich, daß sich überhaupt keine Gelegenheit mehr ergeben würde, darüber jemals zu sprechen.

Wie die Mehrzahl der ungarischen Städte hat auch Ragz zu verschiedener Zeit verschiedene Namen gehabt. All diese Städte können einen Taufschein vorweisen, der in vier oder fünf Sprachen – der deutschen, lateinischen, slawischen, magyarischen – abgefaßt und fast ebenso kompliziert ist, wie derjenige ihrer Prinzen, Großherzoge und Erzherzoge.[59]

»Unsere Stadt hat natürlich nicht die Bedeutung von Budapest, sagte Hauptmann Haralan zu mir Trotzdem hat ihre Bevölkerungszahl die Ziffer vierzigtausend erreicht und dank ihrer reichen Industrie und des ausgebreiteten Handels erfreut sie sich eines guten Namens im Königreich Ungarn.

– Es ist eine Stadt von echt ungarischem Aussehen, bemerkte ich.

– Gewiß! Sowohl wegen der erhaltenen Sitten und Gebräuche, als auch wegen der Landestracht, welche die Einwohner mit Vorliebe tragen. Wenn man mit einiger Berechtigung sagen kann, daß die Magyaren den Staat, die Deutschen aber die Städte geschaffen hätten, so ist diese Behauptung auf Ragz nicht zutreffend. Unter den Kaufleuten wird man wohl auch Vertreter der germanischen Rasse finden, aber sie sind in der Minderheit vertreten.

– Ich wußte es, wie ich auch weiß, daß die Bewohner von Ragz sehr stolz darauf sind, ihre Stadt von aller Vermischung rein erhalten zu haben.

– Die Magyaren – sie sind nicht mit den Hunnen zu verwechseln, wie es schon oft geschehen ist – fügte Hauptmann Haralan hinzu, bilden eine feste politische Verbindung und von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, ist Ungarn Österreich überlegen.

– Und die Slawen? erkundigte ich mich.

– Die Slawen sind weniger zahlreich als die Magyaren, mein lieber Vidal, aber in größerer Zahl als die Deutschen vertreten.

– Aber mit welchen Augen betrachtet man sie in Österreich-Ungarn?

– Ich kann nur sagen, daß sie nicht sehr beliebt sind, besonders bei der ungarischen Bevölkerung; es ist erwiesen, daß die Leute slawischer Abstammung in unserer Mitte wie aus ihrem Vaterlande Verbannte leben.«

Hauptmann Haralan schien auch für die Österreicher keine große Zuneigung zu empfinden. Was die Deutschen anbelangt, so erstreckt sich der Rassenhaß zwischen ihnen und den Magyaren auf einen viel längeren Zeitraum. Diese Antipathie tritt unter den mannigfaltigsten Formen zutage und selbst die gebräuchlichsten Redensarten wissen – oft in sehr roher Form – davon zu erzählen.

»Huncut a német«, lautet eine der beliebtesten Redensarten.

Was auf gut Deutsch lautet:[60]

»Der Deutsche ist ein verflixter Kerl.«

Abgesehen von der Übertriebenheit, die so manchem Sprichwort anhaftet, läßt das eben Erwähnte doch auf die wenig freundschaftlichen Beziehungen der beiden Rassen schließen.

Die Stadt Ragz ist mit Ausnahme des niederen, am Stromufer erbauten Teiles ziemlich regelmäßig konstruiert. Die hochgelegenen Viertel zeichnen sich sogar durch eine fast geometrische Genauigkeit aus.

Hauptmann Haralan führte mich über den Kai und die Stephansstraße zum Koloman-Markt, zu einer Stunde, da er am belebtesten ist.

Auf diesem Platze, wo die verschiedenen Produkte des Landes zum Verkaufe gelangen, konnte ich nach Behagen den Bauer in seinem Nationalkostüm beobachten. Er hat den reinen Typus seiner Rasse voll bewahrt, den starken Kopf, die etwas stumpfe, breitgedrückte Nase, die runden Augen, den herabhängenden Schnurrbart. Auf dem Haupte trägt er gewöhnlich einen breitkrämpigen Hut, unter dem zwei fest geflochtene Zöpfe sichtbar werden. Rock und Weste sind aus Schafpelz und mit beinernen Knöpfen geschmückt.

Das Beinkleid ist aus unzerreißbarer, dicker Leinwand gefertigt, die an Haltbarkeit dem gerippten Samt unserer nördlichen Provinzen zu vergleichen ist; ein buntfarbiger Gürtel hält es um die Mitte fest; die Beine stecken in hohen Stiefeln, die manchmal mit Sporen versehen sind. Es schien mir, als ob die Frauen ein viel lebhafteres Wesen zeigten als die Männer. Auch unter ihnen bemerkte ich schöne Typen. Sie trugen kurze Röcke in lebhaften Farbentönen, reich gestickte Leibchen und ihre Hüte mit aufgebogenem Rande und Federnschmuck konnten den üppigen Haarwuchs nicht verbergen.

Auch Zigeuner lernte ich kennen, arme Wesen, die elend aussahen und mein Mitleid erregten; alle aber, Männer, Weiber, Greise und Kinder, bewahrten die Originalität ihres Stammes unter den armseligen Lumpen, die mehr Löcher als Gewebe aufwiesen.

Als wir den Markt verlassen hatten, durchquerte ich mit dem Hauptmann ein wahres Labyrinth von engen Gäßchen; mächtige Hängeschilder bezeichneten die Kaufläden zu beiden Seiten, dann wurden die Straßen breiter, geräumiger und wir standen auf dem Kurtz-Platz, einem der größten Plätze der Stadt.[61]

In seiner Mitte erhebt sich ein schöner Brunnen aus Bronze und Marmor, dessen Schale durch mehrere, aus phantastischen Gebilden kommende Wasserstrahlen gefüllt wird. Hoch oben thront die Statue Matthias Corvinus', dieses Helden des 15. Jahrhunderts, der schon im Alter von fünfzehn Jahren die königliche Würde bekleidete und nicht nur den Angriffen der Österreicher, Böhmen und Polen siegreichen Widerstand entgegensetzte, sondern auch die ganze europäische Christenheit vor dem Joche osmanischer Barbarei rettete.

Der Platz ist wirklich sehr schön. Auf der einen Seite erhebt sich der Regierungspalast, ein imposantes Gebäude mit hohen, von Wetterfahnen gezierten Giebeln, das den Charakter der alten Renaissancebauten an sich trägt. Eine Treppe mit eisernem Geländer führt zum Haupttrakt empor und eine mit Marmorstatuen geschmückte Galerie zieht sich längs des ersten Stockwerkes hin. Die Fenster der Fassade zeigen alle gemalte Scheiben, die den steinernen Kreuzen eingefügt sind. Aus dem Mitteltrakt erhebt sich eine Art Wachtturm, der oben eine Kuppel mit Fensteröffnungen zeigt, über welche die in den Landesfarben gehaltene Fahne herabweht. Zu beiden Seiten ziehen sich zwei durch ein Gitter verbundene Flügel hin, die den geräumigen Hof einschließen, dessen Ecken durch dichtes Grün verkleidet sind.

Wir waren auf dem Kurtz-Platze stehen geblieben.

»Hier ist der Regierungspalast, sagte Hauptmann Haralan, wo Markus und Myra in weniger als drei Wochen vor dem Gouverneur erscheinen werden, um dessen Zustimmung zu ihrer Vermählung zu erbitten, ehe sie sich in die Kathedrale begeben.

– Sie müssen seine Zustimmung erbitten? fragte ich sehr erstaunt.

– Ja; es ist dies eine uralte, lokale Sitte. Ohne die Erlaubnis der höchsten Autorität der Stadt darf keine Hochzeit gefeiert werden. Diese Autorisation an sich bildet ein sehr festes Band zwischen den beiden, welchen sie erteilt wird: sie sind zwar noch nicht verheiratet, aber sie sind schon mehr als Verlobte und, im Falle ein unvorhergesehenes Hindernis die Heirat unmöglich machen sollte, dürften die beiden unter keinen Umständen ein neues Verlöbnis eingehen.«

Während mir Hauptmann Haralan diesen merkwürdigen Brauch erklärte, waren wir in die Ladislaus-Straße gelangt, die an ihrem Ende von der St. Michaels-Kathedrale abgeschlossen wird, einem Bauwerke aus[62] dem 13. Jahrhundert, das sich nicht gerade durch Reinheit des Stils auszeichnet, denn die Kirche trägt sowohl gotische als auch romanische Motive an sich. Dennoch weist der Bau schöne Partien auf, die dem Kenner auffallen: die von zwei Türmen eingefaßte Fassade, den dreihundertundfünfzehn Fuß hohen Glockenturm, der sich über dem Querschiff erhebt, das Hauptportal mit den sein gearbeiteten Bogenrundungen und der großen Rosette, durch welche die Strahlen der untergehenden Sonne fallen, die dann das große Kirchenschiff hell erleuchten, und schließlich die runde Apsis zwischen den vielen, schlanken Strebepfeilern.

»Wir werden später Gelegenheit finden, das Innere zu besichtigen, bemerkte Hauptmann Haralan.

– Wie Sie glauben, antwortete ich; Sie sind ja mein Fahrer, lieber Hauptmann, und ich bin Ihnen...

– Gut, sehen wir uns noch das Schloß an; dann um gehen wir die Stadt längs der Wälle und kommen gerade rechtzeitig zum Mittagessen nach Hause.«

Ragz besitzt auch einige evangelische und griechische Kirchen ohne allen architektonischen Wert und noch viele andere Gotteshäuser, denn das katholische Glaubensbekenntnis ist in der Majorität vertreten. Ungarn bekennt sich größtenteils zum römisch-katholischen Ritus, obwohl die Hauptstadt Budapest nach Krakau diejenige Stadt ist, welche die größte Anzahl Juden beherbergt. Hier, wie auch anderswo nur allzuhäufig, ist das Vermögen der Magnaten fast gänzlich in ihren Besitz übergegangen.

Während wir uns unserem Ziele, dem Schloß, näherten, kamen wir durch einen sehr belebten Vorort, wo Käufer und Verkäufer einander drängten. Im selben Augenblicke, als wir einen kleinen Platz betraten, erhob sich plötzlich ein furchtbares Geschrei, das unmöglich von dem Lärm des Kaufes und Verkaufes allein herrühren konnte.

Mehrere Frauen hatten ihre Standplätze verlassen und umringten einen Mann, einen Bauer, welcher zu Boden gefallen war und sich jetzt schwerfällig erhob. Der Mann schien sehr zornig.

»Ich sage Euch, jemand hat mich geschlagen... man hat mir einen Stoß versetzt, so daß ich gestürzt bin!

– Wer soll Dich denn geschlagen haben? erwiderte eine der Frauen.... Du bist ja jetzt ganz allein gestanden.... Ich konnte Dich von meinem[63] Platz aus sehr gut sehen.... Es war kein Mensch in Deiner Nähe zu erblicken....

– Und doch hat mich jemand gestoßen, behauptete der Mann; es war ein heftiger Schlag auf die Brust.... Zum Teufel! Ich habe es doch gefühlt!«

Hauptmann Haralan, welcher den Bauer ansprach, erhielt folgende Erklärung: der Mann war ganz ruhig über den Platz gegangen, als er plötzlich einen heftigen Stoß verspürte; es war, als ob ihn ein kräftiger Mann mit aller Macht auf die Brust geschlagen hätte und die Erschütterung war so groß, daß er dadurch zu Boden geschleudert worden war. Wer der Angreifer gewesen, konnte er nicht sagen, denn er hatte, als er sich mühsam aufrichtete, niemanden in seiner Nähe bemerkt.

Was war wahr an diesem Berichte? Hatte der Bauer wirklich einen brutalen, unvorhergesehenen Schlag erhalten? Wenn ein Mensch einen Stoß verspürt, so muß folgerichtig irgend eine Gewalt diesen Stoß verursacht haben, z. B. ein heftiger Wind. Aber nein! Die Luft war vollkommen unbewegt. An der ganzen Sache war nur eines gewiß: der Bauer war gefallen, und zwar auf ganz unerklärliche Weise.

Daher die Ansammlung von Neugierigen.

Entweder sah der Mann am lichten Tage Gespenster oder – er hatte über den Durst getrunken. Ein Trunkener fällt auch ohne Ursache, nur dem Gesetze der Anziehungskraft der Erde gehorchend.


Plötzlich verspürte er einen heftigen Stoß. (S. 64.)
Plötzlich verspürte er einen heftigen Stoß. (S. 64.)

Das letztere schien auch die allgemeine Ansicht zu sein, obwohl der Bauer hoch und teuer beschwor, auch nicht ein Glas über die Lippen gebracht zu haben; der Marktaufseher befahl ihm schließlich in barschem Tone, weiterzugehen.

Der Vorfall war abgetan und wir folgten einem der steilen Wege, die nach dem Osten der Stadt führen. Ein des Ortes Unkundiger könnte sich in diesen vielfach verschlungenen Gassen und Gäßchen unmöglich allein zurechtfinden.

Endlich langten wir vor dem Schlosse an, das trotzig vom Rücken des »Wolkang« getauften Hügels emporragt.

Ja, so mußte die Festung der alten ungarischen Städte aussehen, die Akropolis, oder – um die magyarische Bezeichnung anzuwenden – die »Vár«, die uneinnehmbare Zitadelle des Mittelalters, gleich furchtbar denFeinden von außen, Hunnen und Türken, wie den rebellischen Vasallen des Lehensherrn. Hohe, mit Zinnen gekrönte, mit Schießscharten versehene Mauern wurden noch durch mächtige Türme befestigt; von dem höchsten, dem Wartturm, dem Luginsland aus, vermochte man die ganze Gegend weit hinaus zu überblicken.

Die Zugbrücke, die über den tiefen Schloßgraben geworfen war, in dem jetzt verworrenes Dornengestrüpp sein Dasein fristete, führte uns zur ehemaligen Ausfallpforte, die zwischen zwei außer Gebrauch gesetzten Mörsern lag. Daneben gähnten die drohenden Schlünde mächtiger Kanonen.

Der Rang des Hauptmanns Haralan öffnete uns leicht die Pforte der alten Festung, deren militärische Bedeutung heute nicht mehr sehr groß ist. Die wenigen Soldaten, welchen die Bewachung oblag, erwiesen Hauptmann Haralan die seinem Range gebührenden militärischen Ehrenbezeigungen. Als wir im inneren Burghofe waren, schlug er mir vor, den Wachtturm zu besteigen, der aus der einen Ecke des Hofes dräuend emporstieg.

Nicht weniger als zweihundert Stufen mußten wir auf einer steilen Wendeltreppe erklimmen, ehe wir die oberste Plattform des Turmes erreichten. Während ich dem Geländer entlang schritt, konnten meine Blicke ein viel ausgedehnteres Bild umfassen als von der Höhe des Aussichtsturmes im Hause des Dr. Roderich. Den von hier sichtbaren Teil der Donau, die in östlicher Richtung Neusatz zuströmt, schätzte ich auf sieben Meilen.

»Sie haben bisher unsere Stadt teilweise kennen gelernt, lieber Vidal, sagte Hauptmann Haralan zu mir, zu Ihren Füßen breitet sie sich jetzt in ihrer ganzen Größe aus.

– Und was ich bisher von ihr gesehen habe, antwortete ich, hat mich sehr interessiert, obwohl ich von Preßburg und Budapest komme.

– Wie ich mich freue, Sie so urteilen zu hören; und wenn Sie Ragz erst ganz kennen werden, wenn Sie sich mit all seinen Sitten, Gebräuchen und Eigentümlichkeiten vertraut gemacht haben werden, zweifle ich nicht daran, daß Sie uns und unserer Stadt ein freundliches Andenken bewahren werden. Wir Magyaren lieben unsere Städte mit einer kindlichen Liebe. Hier sind überdies die Beziehungen der verschiedenen Gesellschaftsklassen ganz vorzügliche. Der wohlhabende Teil der Bevölkerung hilft den weniger vom Glück Begünstigten und die Zahl der Armen nimmt alljährlich ab dank der vielen Wohltätigkeitsanstalten. Sie werden hier nur wenigen[67] wirklich Bedürftigen begegnen, denn sobald man Kunde erlangt von einer unglücklichen Existenz, wird ihr auch geholfen.

– Ich weiß es, lieber Hauptmann, und ich weiß auch, daß Dr. Roderich mit bedeutenden Mitteln den Armen zu Hilfe kommt und daß Frau und Fräulein Roderich die Werke der Nächstenliebe leiten.

– Meine Mutter und Schwester tun nur, was sie ihrem Range, ihrer Lebensstellung schuldig sind. Meiner Ansicht nach gehört Wohltun zu den ersten und heiligsten Pflichten.

– Ganz gewiß, stimmte ich ihm bei, aber es gibt so viele Arten des Wohltuns!

– Das ist ein Geheimnis der Frauen, mein lieber Vidal, und eine ihrer schönsten Aufgaben hienieden.

– Wenn nicht die edelste von allen!...

– Wir bewohnen eine sehr friedliche Stadt, fuhr Hauptmann Haralan fort, die von dem Feuer politischer Leidenschaften wenig oder gar nicht erregt wird, aber eifersüchtig die Wahrung ihrer Rechte und Privilegien bewacht und dieselben bis zum letzten Blutstropfen gegen Anfeindungen und Angriffe der Machthaber des Zentrums verteidigen würde. Ich kenne an meinen Mitbürgern nur einen Fehler...

– Und der ist?...

– Eine beklagenswerte Neigung zum Aberglauben und ihre Leichtgläubigkeit in bezug auf übernatürliche Dinge. Alte Sagen, die von Gespenstern, Erscheinungen, Beschwörungen und Teufelskünsten handeln, gefallen ihnen mehr als recht ist.

– Nun, sagte ich, Dr. Roderich dürfte wohl dieser Art Leuten nicht zuzuzählen sein – der Begriff »Arzt« schließt kaltes Blut und einen klaren Kopf in sich – aber Ihre Mutter?... Ihre Schwester?...

– Auch sie sind nicht besser als die anderen. Alle sind so! An dieser Schwäche – denn es ist eine Schwäche – prallen all meine Bekehrungsversuche machtlos ab.... Markus wird mich wohl darin unterstützen; vielleicht wird er mehr Erfolg haben!

– Wenn ihn Fräulein Myra nicht auf ihre Seite zieht!....

– Aber jetzt, Vidal, müssen Sie sich über die Brüstung beugen.... Richten Sie Ihre Blicke nach Südosten... erblicken Sie dort nicht, am äußersten Ende der Stadt, einen Aussichtsturm?[68]

– Ja, ich sehe ihn, antwortete ich, und ich glaube in ihm den Turm Ihres Vaterhauses zu erkennen.

– Recht geraten! Aber in diesem Hause gibt es einen Speisesaal, und in diesem Speisesaal wird in kürzester Zeit das Essen aufgetragen, und nachdem Sie dazu eingeladen sind...

– Ich gehorche Ihren Anordnungen, mein lieber Hauptmann.

– Nun, so wollen wir gehen! Wir überlassen die »Vár« wieder ihrer mittelalterlichen Einsamkeit, die wir für kurze Zeit gestört haben und schlagen über die Wälle den Heimweg ein; so lernen Sie auch den Norden der Stadt kennen.«

Wenige Minuten darnach schritten wir wieder über die Zugbrücke hinweg.

Jenseits eines sehr schönen Viertels, das sich bis an die Peripherie von Ragz erstreckt, beschreibt der Stadtwall, der bei jeder größeren, ihn kreuzenden Straße seinen Namen ändert, in einer Länge von mehr als einer Meile drei Viertel eines Kreisbogens, der durch die Donau ergänzt wird. Diese Wälle sind mit einer vierfachen Reihe von in schönster Entwicklung stehenden Bäumen bepflanzt, mit Buchen, Linden und Kastanienbäumen. Nach der einen Seite ziehen sich die aufgeworfenen Schanzen hin, über welche hinaus man die Landschaft überblicken kann; auf der anderen erheben sich zahlreiche Prunkbauten, vor denen meist ein schöner Vorhof liegt, der mit herrlichen Blumenbeeten geschmückt ist. An der Rückseite der Häuser breitet sich ein wohlgepflegter, durch frische Springbrunnen belebter Garten aus.

Schon zu dieser frühen Stunde zeigten sich auf der Fahrstraße des Walles einige trefflich bespannte Equipagen und in den Nebenalleen tauchten Gruppen eleganter Reiter und Reiterinnen auf.

Bei der letzten Abzweigung gingen wir den Tököly-Wall hinab, um dann in den Batthyány-Kai einzubiegen.

In einer Entfernung von wenigen Schritten erblickte ich in der Mitte eines Gartens ein einsam stehendes Haus; die Fensteröffnungen waren mit Rolladen verschlossen, die niemals geöffnet zu werden schienen; die Steine des Unterbaues waren mit Moos bewachsen und von einem Dornengewirr umgeben. Es bildete einen auffallenden Gegensatz mit den übrigen, wohlgepflegten Bauten des Stadtwalles. Durch das Gitter, an dessem Fuße[69] Disteln wuchsen, gelangte man in einen kleinen Hof, in dem zwei vom Alter gebeugte Ulmen standen, deren weit klaffender Stamm die innere Fäulnis allen Blicken preisgab.

Eine Türe, deren ursprüngliche Farbe durch den Einfluß von Wind und Wetter und Winterschnee zerstört war, führte ins Innere des Hauses; man gelangte zu ihr über drei morsche Stufen.

Über dem Erdgeschoß erhob sich ein Stockwerk mit einem Dach aus großen Schieferplatten, über dem sich ein viereckiger Ausguck aufbaute, dessen schmale Fenster durch dichte Vorhänge verhüllt waren.

Das Haus machte den Eindruck, unbewohnt zu sein, wenn es überhaupt bewohnbar war.

»Wem gehört dieses Haus? fragte ich.

– Einem Original, antwortete Hauptmann Haralan.

– Es ist ein Schandfleck für das Viertel, sagte ich. Die Stadt sollte es ankaufen und niederreißen.

– Umsomehr, mein lieber Vidal, als der Eigentümer, wenn das Haus vom Erdboden verschwunden ist, wahrscheinlich der Stadt auf Nimmerwiedersehen den Rücken kehren und sich zum Teufel scheren würde, seinem nächsten Anverwandten, wie die Klatschbasen von Ragz steif und fest behaupten!

– Was Sie nicht sagen!... Und wer ist denn diese höchst bemerkenswerte Persönlichkeit?

– Ein Deutscher.

– Ein Deutscher?

– Ja, ein Preuße.

– Wie heißt er?«

Im Augenblicke, wo Hauptmann Haralan den Mund öffnete, um meine letzte Frage zu beantworten, öffnete sich die Haustüre. Zwei Männer traten heraus. Der ältere, welcher wohl sechzig Jahre zählen mochte, blieb auf der Schwelle stehen, während der andere den Hof durchschritt und aus dem Gitter trat.

»Hm! brummte Hauptmann Haralan vor sich hin, er ist also wieder da!... Ich dachte, er wäre verreist....«

Jetzt wandte sich der Mann um und erblickte uns. Kannte er Hauptmann Haralan? Ich konnte nicht daran zweifeln, denn die beiden warfen[70] sich haßerfüllte Blicke zu, die mir genug sagten. Aber auch ich hatte ihn erkannt, und als er einige Schritte entfernt war, konnte ich mich nicht länger zurückhalten und rief: »Das ist er ja!...

– Sie sind diesem Menschen schon begegnet? fragte mich der Hauptmann, wie mir schien, nicht wenig verwundert.

– Gewiß, antwortete ich; er war auf der »Dorothea« mein Reisegefährte von Budapest bis Vukovár. Ich hätte nicht gedacht, daß ich ihn in Ragz wiederfinden würde.

– Es wäre jedenfalls besser für Sie gewesen, Sie hätten ihn niemals wiedergesehen, sagte Hauptmann Haralan hastig.

– Sie scheinen nicht in den angenehmsten Beziehungen zu diesem Deutschen zu stehen, warf ich hin.

– Wer könnte das auch?... Ich habe übrigens ganz speziell Ursache. ihm feindlich gesinnt zu sein. Ich erwähne nur, daß er die Unverschämtheit gehabt hat, um die Hand meiner Schwester anzuhalten. Aber mein Vater und ich haben ihn auf eine Art und Weise heimgesandt, daß ihm die Luft zu einem nochmaligen Versuche vergangen sein dürfte.

– Wie! Das ist dieser Mensch?...

– Ah, Sie wußten um diese Sache?...

– Ja, mein lieber Hauptmann und ich weiß nun auch, daß der Mann kein anderer ist als Wilhelm Storitz, der Sohn Otto Storitz', des berühmten Chemikers aus Spremberg.«

Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 59-65,67-71.
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