Zweiter Auftritt

[134] Es tritt ein die Gesellschaft der an Goethes Faust sich zu tot erklärt habenden Erklärer, bestehend aus Präsident Denkerke, drei Stoffhubern mit Namen Scharrer, Karrer, Brösamle, drei Sinnhubern mit Namen Deuterke, Grübelwitz, Hascherl.


DENKERKE.

Guten Abend, guter Mann!

VALENTIN.

Guten Abend, Herr, bin aber dann und wann

Kein guter Mann.

DENKERKE.

Ach, könnten wir, um unsern Durst zu laben,

Wohl eine gute Bowle haben?


Bärbel tritt wieder ein; Bursche bringen ein Bierfäßchen und gehen ab.


VALENTIN.

Nichts Polnisches gibt's hier,

Hier schenkt man Bier;

Ein guter Roter aus Tiroler-Reben

Wird ausnahmsweise auch gegeben.

GRÜBELWITZ.

Wohl etwas säuerlich? Inzwischen

Kann man ihn ja mit Zucker mischen.

VALENTIN.

Ich habe zweierlei, sind beide gut,

Der Spezial, das feinre Traubenblut.

Schmeckt er euch nicht, so laßt's halt bleiben!

Zum Weine laß ich keinen Zucker reiben.

BÄRBEL zu Valentin.

Weißt, neulich kam ja auch so eine Puppe,

Die wollte Zucker auf Salat und Suppe.

BRÖSAMLE.

Ist guter, feiner Kümmel wohl vorhanden?[135]

VALENTIN.

Schnaps mag man nicht in unsern Landen.

HASCHERL.

Laßt nach dem Essen erst uns fragen,

Ich hab gar einen langen Magen.

BÄRBEL.

's gibt gute Suppen, Gerstl oder Nudl,

Schweinshaxen, Tellerfleisch mit Kraut,

Backhähndl, Erdbirn in der Haut,

Als Mehlspeis Kaiserschmarrn, Tiroler-Strudl.


Die Gesellschaft sieht einander an.


DEUTERKE.

Was diese Wirtsfrau seltsam spricht!

Sie ist wohl aus dem deutschen Reiche nicht?

DENKERKE.

Es ist der Trunk, wonach wir mehr verlangen,

Der Hunger ist uns schnell vergangen.

VALENTIN.

Jetzt kurz und gut: Bier, wenn die Herren wollen!

Beliebt's euch nicht, so könnt's euch wieder trollen!

ALLE.

So sei es Bier!

VALENTIN.

Gut, so stich an, mein Schatz!

Am runden Tisch da nehmet Platz!


Es wird angestochen, eingeschenkt, getrunken.


DENKERKE.

Ei, nicht so übel ist der Gerstensaft!

Laßt munter uns die durst'ge Kehle letzen!

Erneut sich erst die fast erschöpfte Kraft,

Soll uns zum Trunke auch Gesang ergetzen.

SCHARRER.

Warum nicht lieber mit erfrischten Sinnen

Dann ungesäumt das Hauptgeschäft beginnen?

Wir haben doch schon auf dem Marsch beschlossen,

Als wir das neue Schauspiel angesehn,

An die Erklärung unverdrossen

Schon auf der nächsten, längern Rast zu gehn,[136]

Damit am Ziel, im Himmelslosamente,

Die Arbeit um so leichter sich vollende.

DENKERKE.

Wohl, wohl, doch besser muß das Werk gelingen,

Wird erst Gesang die rechte Stimmung bringen.

KARRER.

Den Hymnus der Exakten schlag ich vor,

Er ist so schön, trägt hoch das Herz empor.

DEUTERKE.

Nein, nein! Er ist nicht weit genug an Geist,

Nicht aller Brüder Meinung drückt er aus,

Wir andern suchen die Idee zumeist

In einer Dichtung Körper, Rock und Flaus,

Notizen sind uns Schale nur und Treber,

Wir wollen mehr, wir sind Gedankengräber.

KARRER.

Salbadern ja, ästhetisch Schwadronieren

Ist euer Fach, abstraktes Räsonieren!

DEUTERKE.

Herr Bruder, das verbitt ich mir;

Ihr seid die Kärrner, Architekten wir!

KARRER.

Was ihr? Der Dichter ist der Architekt!

DEUTERKE.

Wer geistvoll deutet, was im Bauriß steckt,

Der hilft durch seine Winke, seine Lichter

Zum Dasein erst dem Bau und so dem Dichter.

KARRER.

Was Geist! Was Geist! In unsrer Zunft

Ist für ihn keine Unterkunft,

Wir führen einen feinern Hypsometer.

Ist zu besetzen ein Katheder,

Erkundigt man sich nach den Kandidaten,

So ist das schlechteste von allen Prädikaten:

»Der Mann hat Geist«, hinweg mit ihm, hinaus!

Er taugt uns nicht in unser Lagerhaus!

DENKERKE.

Still! Keinen Zank! seid ruhig! Haltet Frieden![137]

In zwei Parteien sind wir zwar geschieden,

Doch beide haben in des Abgangs Stunden

Zu meiner Wahl in Eintracht sich verbunden,

Zur Wahl als Führer, Sprecher, Präsident.

Ihr seid in mir nicht zwei mehr, nicht getrennt,

Zur Einheit aufgehobenes Moment.

So folgt mir auch und löset in Gesang

Die Dissonanz, den unschön harten Klang.

Ihr kennt ein Lied und wißt, wie schön es klingt,

Das der Ideenjagd hohen Wert besingt;

Wohlan, damit kein Zwist uns wieder scheide,

Wir gleichen aus, wir singen alle beide!

Das eine, das ja tief und echt

Dem Werte des Exakten wird gerecht,

Es mag vorangehn. Vorgang in der Zeit

Ist noch kein Vorrang. Singt, ihr seid bereit.

GESANG DER STOFFHUBER.

War's um sechs Uhr oder sieben,

Wann er diesen Vers geschrieben?

War's vielleicht präzis halb achte,

Als er zu Papiere brachte

Diesen Einfall, diesen Witz?


War es vor, war's nach dem Essen,

Als bei Lotten er gesessen?

Was des weitern dann geschehen,

Durfte, fragen wir, es sehen

Der Geliebten kleiner Fritz?


Wie war's mit Corona Schröter?

Rosenrötlich oder röter?

Was ist Sage, was Geschichte?

Auch auf diesen Streitpunkt richte

Sich die Nase scharf und spitz!


Mariane – wer es wüßte,

Ob er nur die Stirne küßte,[138]

Ob er, um nicht bloß zu nippen,

Kühnlich Lippen drückt' auf Lippen,

Amors älterer Noviz?


Ach, die Knöpf an seinem Rocke,

Ach, die Haare jeder Locke,

Wer sie pünktlich könnte zählen,

Würde nicht den Weg verfehlen

Zu der Wahrheit tiefstem Sitz.


Nur ein Schwätzer kann verübeln

Dieses Stöbern, Krabbeln, Grübeln,

Diese kritisch feine Beize,

Frucht der süßen Prickelreize,

Diesen edeln Wunderfiz.


Doch uns lockt nicht nur das Nächste,

Ha! wir wagen zu dem Texte

Konjektürchen anzubringen,

Große Tat! Wird sie gelingen

Unser schönstes Benefiz!


Echter Forschung Morgenröte,

Über Lessing, Schiller, Goethe,

Über groß und kleine Dichter

Glüh' empor, verkünde Lichter,

Neu und blendend wie ein Blitz!


Laß ersterben das Abstrakte,

Laß erblühen das Exakte!

Leuchte, zeuge, ziehe, züchte

Wahrer Literargeschichte

Musterhafteste Miliz!


Laß ersterben die Ästhetik,

Laß erblühn die Arithmetik!

Schüler, auf! zum Heiligtume

Der addierten Bröselkrume

Walle feierlichen Schritts!
[139]

Geist, Entwicklungsgang und Fatum:

Ihr Geheimnis ist das Datum,

Die Geschichte ist Kalender,

Leb' er hoch, der Einsichtspender

Und sein Segen, die Notiz!

DENKERKE.

Macht eine Pause, netzet erst die Kehle,

Damit die Kraft dem zweiten Sang nicht fehlte!

Er preist das höhere Studium,

Der erste war doch nur Präludium.

SCHARRER.

Da danken wir und sagen frei:

Präsidium spricht als Partei!

DENKERKE.

In allen Ehren sollt ihr ja doch gelten,

Gelehrte Vorarbeit, wer wird sie schelten?

BRÖSAMLE.

Was Vorarbeit? Wer darf uns so taxieren?

Die ganze Arbeit ist es, die wir führen.

DENKERKE.

Ihr streitet doch bei jedem Schritt!

Gefällt's euch nicht, singt eben ihr nicht mit!

KARRER.

Jawohl, die andern haben auch nicht mitgesungen,

Als vorhin unser beßres Lied erklungen.

DEUTERKE.

So laßt es nur, wir können euch entbehren,

Wir werden um drei Stimmen uns nicht scheren!

Sind ohnedies so dünn wie eine Zaser,

Man hört's, euch fehlt die Kehlkopfmuskelfaser.

Ihr, Brüder, desto heller singt,

Daß laut die Halle wiederklingt!

GESANG DER SINNHUBER.

Lebe hoch die tiefre Deutung,

Bloß Exaktes ist vom Übel!

Hoch die philosoph'sche Häutung,

Schälung dichterischer Zwiebel!
[140]

Hier ist nie ein Ding es selber;

Männer, Weiber, acta, facta,

Löwen, Hunde, Ochsen, Kälber

Sind Begriffe, sind abstracta.


Nur der Geist, er macht lebendig,

Buchstab ist nur Feld im Winter,

Saatkorn schlummert innewendig;

Fraget stets: was ist dahinter?


Wer sich nur am Bild ergetzet,

Sinnlich ist er, soll sich schämen,

Wer den Wert ins Zentrum setzet,

Fragt: was läßt sich draus entnehmen?


Erster Sinn will wenig sagen;

Vorwärts mit bedachten Schritten!

Nach dem zweiten mußt du nagen,

Weiter, weiter nach dem dritten!


Der Poet ist ein Verstecker,

Flieht, was nur sich selbst bedeutet,

Und erwartet den Entdecker,

Welcher den Begriff erbeutet.


Nur erklären, nur erklären,

Aber ja kein Urteil wagen,

Nur verehren, nur verehren,

Ob poetisch? ja nicht fragen!


Doch auf des Parnasses Gipfeln

Mit den dankbaren Poeten

Wandeln unter Lorbeerwipfeln

Arm in Arm die Interpreten.

DENKERKE.

Exest, colloquium!

Stoßt an, stoßt an mit hellem Klang!

Ich hoffe doch, da nunmehr im Gesang[141]

Sich jede der Parteien ausgesprochen,

Dies wirke auf den Riß, der ausgebrochen,

Als heilendes Collodium.

DEUTERKE, GRÜBELWITZ, HASCHERL.

O pharmazeutisch schönes Bild!

SCHARRER, KARRER, BRÖSAMLE.

Auch wir gestehn, es stimmt uns mild!

DENKERKE.

Jetzt an die Arbeit, zu dem ernsten Werke!

Erfrischter Sinn mehrt auch des Denktriebs Stärke.

DEUTERKE.

Erlaubt, Herr Präses, erst als Friedenskuß

Bevorwort ich noch einen Lumpidus;

Dem Einzelnen sei noch das Wort geschenkt,

In eignem Vers zu sagen, was er denkt!

Es fühlt dazu ein jeder wohl den Drang,

Zu wenig ist gemeinsamer Gesang,

Den Witz, das Können der Person

Zeigt nur Improvisation.

DENKERKE.

Nun ja, so trage jeder mit Humor,

Doch auch mit Ernst ein Schnaderhüpfel vor!

Im Wettstreit mögen die Parteien wechseln,

Umlaufend ihre Gnomensprüche drechseln.

Stoffsammlerlinge, Sinnbilddeuterlinge,

Je einer, dann der andre sag' und singe!

Stoffhuber und Sinnhuber laßt mich sagen

Den schlichten Namen mögt ihr immer tragen.

Mag sich denn jeder schnell besinnen!

Bestimmet nur, wer soll beginnen?

DEUTERKE.

Die Frage soll uns nicht entzweien,

Der Präses, der die Einheit der Parteien,

Er sei der erste auf dem Plan,

Er fange an!

DENKERKE nach kurzem Besinnen.

Die Poesie ist sehr viel wert,[142]

Die die Erklärung sehr erschwert!

Jufifallera! Jufifallera!

Jufifalleralala!

CHORUS alle jubelnd, mit den Gläsern anstoßend.

O geistreich! Welcher Wahrheitsschatz

O welcher klangvoll schöne Satz!

Jufifallera – –!

DENKERKE.

Stoffhuber jetzt, Notizenmehrer!

Mir nach! Und folge dann ein Sinnerklärer!

BRÖSAMLE.

Ameisen sind wir, Bröselein

Sammeln wir mit Eifer ein,

Körnlein, Larven, Moderrest

Aufgepackt und schnell zu Nest!

Jufifallera – –!

CHORUS.

Jufifallera – –!

DEUTERKE.

Was verständlich ohne Not,

Gleicht gemeinem Hausmannsbrot,

Seines Ofens feinste Brezel

Reicht der Dichter uns im Rätsel.

Jufifallera – –!

CHORUS.

Jufifallera – –!

SCHARRER.

Hennen sind wir, fleiß'ge Hennen,

Kratzefuß soll man uns nennen,

Scharren gackernd auf dem Mist,

Bis ein Schatz gefunden ist,

Ein Notizlein oder mehr:

Brief von Goethe, inhaltsleer!

Jufifallera – –!

CHORUS.

Jufifallera – –![143]

HASCHERL.

Am reinsten strahlt der Dichtung Zauberlicht,

Wenn man vergebens sich den Kopf zerbricht.

Jufifallera – –!

CHORUS.

Jufifallera – –!

KARRER.

Heiß' er Goethe, Schiller, Ramler,

Ohne uns, die Lumpensammler,

Ist der Dichter nur ein Stammler!

Jufifallera – –!

CHORUS.

Jufifallera – –!

GRÜBELWITZ.

Dichtungseuter, wird es welker,

Um so eifriger die Melker,

Rinnt die Milch auch dünner, dünner,

Wir die Sennen, wir die Sinner

Sind Ideen-Käs-Gewinner.

Jufifallera – –!

VALENTIN.

Beliebt den Herren, Käs zu essen?

Ein guter Pharao-Kuhkäs ist vorhanden,

Mein Weiberl hat's zu sagen nur vergessen.

GRÜBELWITZ zu Valentin.

Dank, Dank, ihr habt uns falsch verstanden,

Nur geistig war das Wort vom Käs gemeint.


Zu Denkerke, lachend.


Auch einer, der nur wahrnimmt, was da scheint,

Stoffhuber, keines tiefern Sinns Entdecker.

VALENTIN mürrisch wegtretend, für sich.

Da sieht man's wieder, diese Schlecker!

DENKERKE.

Zuvörderst nun, vereinigte Parteien –

BRÖSAMLE.

Ich bitte, haltet noch ein wenig ein,[144]

Da kommt mir noch ein Verselein:

Ei, die Forschung ist nicht blöde,

Ist bedeutend vorgeruckt,

Zählt sie doch, wieviel von Goethe

Jetzo Briefe sind gedruckt,

Jufifallera – –!

DEUTERKE unterbrechend.

Ist es erlaubt, noch etwas nachzubringen,

So weiß auch ich ein Versehen noch zu singen:

Klebe, kitte, schweiße, löte

Sand an Sand und Tand an Tand,

Und so bringst du noch von Goethe

Die Biographie zustand!

Jufifallera – –!

DENKERKE unterbrechend.

Genug, genug! Jetzt nicht mehr unterbrechen!

Kein bittres Wörtlein weiter sprechen!

Der Lumpidus ist aus,

Vergessen sei der Strauß! –

Wohlan denn, nun vereinigte Parteien,

Zum sichern Pfand,

Daß ihr euch künftig nimmer wollt entzweien,

Zum schönen Band

Reicht euch die Hand!

O wie ist Liebe lenis, dulcis, mollis,

Gleich Gruppen auf des Musenhaines collis!

Wohlan, ihr Lieben, Guten, trinket Schmollis!


Allgemeine Umarmung und Schmollis-Trinken.


Jetzt in der warmen Stimmung, der befreiten,

Laßt uns zu dem beschloßnen Werke schreiten!

ALLE.

Ja, ja, gleich leitet die Debatte ein,

Parlamentarisch soll verfahren sein!

DENKERKE.

Gern, gern, doch taugt des Reimes heitres Rosa

Nicht wohl zum strengen Werk, es fordert Prosa.[145]

Die Form zu wechseln, wie auch Shakespeare tut,

Gibt eben er, der große, mir den Mut!

Goethe sei mit uns! – Verehrte in ihm, im Meister! Mitgestorbene, Mitaufgelöste in ihm! Welches Wunderbare an uns herangetreten, als wir selig gestorben in unsrem Beruf, himmelsreisebereit in jener germanischen Stadt, der Pflegerin alles Idealen, uns zusammenfanden – ihr wißt es. Wir finden des Schauspielhauses Pforten umdrängt, umstürmt, wir lesen auf errafftem Theaterzettel den Namen einer neuen dramatischen Schöpfung, der unser tiefstes Interesse erregt, mit unsern verdünnten, schon halb verklärten Körpern finden wir unschwer Platz im überfüllten Hause, und von Staunen starr, phrenetisch entzückt schauen, schauen, hören wir. Das schriftfertige Mitglied unsrer Gemeinde, Herr Brösamle, stenographiert. Am andern Tag wird unsere Himmelsreise fortgesetzt, wir machen Rast in schattigem Buchwaldgrund, ich fixiere mir mit Geistesflug eine Reihe von Fragen, von riesigen Forsch- und Denkaufgaben, die aus dem ungeheuren, Unendliches im Schoß bergenden Ganzen jedem feineren Geist entgegenquellen, und wir beschließen, nicht unkundig der Gebirgsreise-Unterkunft, der cantionera am Himmelsrande, die uns augenblicklich beherbergt, hier etwas längere Rast zu machen und diese Fragenkolonne zu einer ersten näheren Prüfung uns vorzulegen. Wer mag der unermeßlich Hohe, abgründlich Tiefe, der einzig auserkorene Erbe des Goethegeistes sein, der unter den sinnspritzend, symbolstrotzend klangreichen vier Namen als Verfasser sich verbirgt?

SCHARRER. Ich habe hierüber bereits nachgedacht: vier Namen, der eine deutsche, der zweite italienisch, der dritte serbisch oder illyrisch, der vierte polnisch –

DENKERKE. Ich bitte, bitte, wir können darauf noch nicht eintreten, ich muß ja doch vorher erst –

KARRER. Ein polnischer Faust – zwar Twardowsky genannt –[146]

DENKERKE. Aber noch einmal, halten Sie doch Ihren edlen Eifer noch zurück –

MEHRERE STIMMEN. So lassen Sie doch den Herrn Präses fortfahren! Keine Unterbrechungen!

DENKERKE. – Wer dieser echte Erbe des Goethegeistes in seinem höchsten Reifestand? Dies allerdings eine Frage, die ich – da doch Herr Scharrer schwerlich schon die ganze Beantwortung gefunden haben wird – unsern gesamten Herrn Stoffhubern dringend ans Herz lege. Nun aber, welche Welt von lösungsbedürftigen Rätseln liegt vor uns! Noch ist der erste und zweite Teil der ewigen, allumfassenden Goethe-Schöpfung lange nicht völlig erschöpfend kommentiert, und nun wächst dieser neue Wald von Fragezeichen uns zu, schüttet sich dies neue Rätselfüllhorn vor uns aus! – Nicht wenig zwar ist geschehen in Entzifferung der zwei Teile des unsterblichen Nichtpseudonymen. Unsere Sinnhuber, um diese zunächst zu nennen, haben Großes geleistet. Einiges nur aus den schon gehäuften Schätzen kann ich nicht umhin zu erwähnen. Ideenperlen sind gefischt wie folgende. Einer unsrer Köpfe, Schüler des großen Philosophen Crispus, hat die Welt belehrt, daß, wenn Faust unruhig im Sessel sich herumwirft, dies bedeutet: er oszilliert wie die ihren Pol suchende Nadel; der Pudel ist die personifizierte Sinnlichkeit, der niedre, das Geistige störende Trieb; das Pentagramma die irdische Hülle des Menschen, die Ratte, die es zernagt, das den leiblichen Menschen zerstörende Prinzip; die Hexenküche ist das Bild des Unsinns in der deutschen Literatur zur Zeit, da sie geschrieben wurde, Helena im Spiegel das Ideal des natürlich Schönen, wie es Faust nachher in Gretchen verwirklicht sieht; mit Grund darf man vermuten, die Saufbrüder in Auerbachs Keller seien ein Bild der zweiten schlesischen Dichterschule und ihrer wilden Sinnlichkeit; die Geschichte mit Gretchen – es scheint zwar, als ob sie keine Allegorie sei, allein es scheint auch nur so:[147] die Kunst des Dichters hat hier fast sich selbst übertroffen, indem sie uns eine Allegorie so hinstellt, daß wir sie kaum für eine solche, weit eher für eine wirkliche Geschichte halten möchten: was sie eigentlich enthält, das sind die Bestrebungen Goethes als Dichter in seiner ersten Periode; speziell das Geschmeidekästchen bedeutet seine ersten Dichterleistungen, insbesondre Werthers Leiden. Gretchen ist überhaupt das einfach Schöne, einfach Wahre und Gute, nach welchem der jugendliche Dichter rang; ihr Fall besagt, daß solches durch das Unvollkommene, Unreine befleckt wird, welches so weit geht, daß Valentin, der Repräsentant der sittlichen Kraft und Würde, getötet wird. Dieser ausgezeichnete Sinnhuber ist es auch, der entdeckt hat, was in dem Verse »Der Frühling webt schon in den Birken, und auch die Fichte fühlt ihn schon« für eine Anspielung steckt! Das bezieht sich auf die satirische Schrift des Philosophen Fichte gegen Nicolai: Friedr. Nicolais Leben und sonderbare Meinungen etc. Nicht minder leuchtende Aufhellung verdankt diesem Geiste der zweite Teil des Dramas; führe ich nur an, daß er im Kaiser des ersten Akts den europäischen Menschheitsgeist, in Philemon und Baucis nebst ihrem Gütchen das Gebiet der reinen Religion mit ihrer freien Aussicht ins Unendliche erkannt hat, so läßt sich genügend erschließen, was derselbe zur Hebung der sinnig halb verborgnen Schätze noch alles geleistet.

Die Verdienste der Schule des Philosophen Hamulus um unsre Dichtung – ihr kennt sie; könnt ihr vergessen haben, was sein Schüler Boccula geleistet hat, dieser elektrische Kopf, dem bei allem alles einfällt, der rechte Mann, der Welt aufzuweisen, daß Goethes Faust überhaupt alles enthält – das letzte Ergebnis des sich in der Zeit entwickelnden Weltgeistes, der ungeheuren Arbeit der Weltgeschichte, das Resultat der Wissenschaft überhaupt? Soll ich noch Geistesblicke von ihm anführen wie den, daß, wenn Mephistopheles auf dem Blocksberg zu[148] Faust sagt: »du mußt des Felsens alte Rippen packen«, unter dem Fels der dogmatisch derbe und sichere Wortverstand gemeint ist, daß der Schlüsselbund, womit Faust Gretchens Kerker öffnet, die falsche Selbsthilfe moralischer und intellektueller Kraft, das Nachtlämpchen, das er mitbringt, die seichte Verstandesaufklärung, den matten, düsteren Schein vereinzelter Vernunft bedeutet, womit sie im Lichte zu wandeln meint? O dieser, hätte er den zweiten Teil, geschweige diesen wundervollen dritten erlebt, welche Ideenschatzkammer hätte er aufgetan gesehen und wie hätte er die Schätze gehoben?

Um noch andere Kleinode spekulativer Entdeckung nur flüchtig vor unsern Augen noch einmal aufschimmern zu lassen, erinnre ich, wie der scharf- und tiefsinnige Albus nachgewiesen hat, daß Fausts Schritt zum Selbstmord, unnatürlich, wenn buchstäblich verstanden, nur den sittlichen Selbstmord, die geistige Selbstvernichtung bedeuten könne, welche im Abfall zum Bösen, in der Empörung gegen Gott liege; daß das Gift in der Phiole demnach die sublimierte Natur des Bösen versinnbildliche, ferner –

GRÜBELWITZ. Ich bitte, Herr Präsident –

DENKERKE. Ich bitte, mich fortfahren zu lassen –

GRÜBELWITZ. Kurze Zwischenreden müssen erlaubt sein, weil sonst wertvolle –

DENKERKE. Nein! nein; sonst gelangen wir ja nimmer an die viel wertvolleren –

GRÜBELWITZ. Ich will, darf, muß sagen – der Ofen in Fausts Zimmer wohl nicht geheizt, weil lauer Ostertag – bedeutet – (meine Entdeckung) –: den Mangel an innerer Wärme, denn –

DENKERKE. Gut, meinetwegen! Aber um Gottes willen –

BRÖSAMLE. Ja, um Gottes willen – fortfahren lassen! Hat doch von den Verdiensten der Stoffhuber unser Herr Präsident noch kein Wort gesagt –


Quelle:
Friedrich Theodor Vischer: Faust, Der Tragödie dritter Teil. Stuttgart 1978, S. 134-149.
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