Phaethon an Theodor

[42] Ich mußte einen Menschen kennen lernen, der auf sein Wissen sich gewaltig viel zu gut tut. O, wie sich die Menschen nur einbilden können, sie wüßten etwas. Das ist der Fluch unsrer Zeit, daß sie ewig nur belehren will mit geschichtlichem Wissen! Es ist sündhaft, so elend sein Leben zu verschleudern. Wo die Vernunft, der überirdische Funken, sonst frei aus ihrer Tiefe wie aus Apolls Priesterin Orakel sprach, da soll der tote Buchstabe ersetzen ihr Licht und ihre Kraft? Sie erkühnen sich auszumessen den Umfang der Sonne und vergessen drüber, wie die Heilige alliebend uns wie eine Mutter an ihrem Busen voll Wärme hält. Die Armen! Weil sie an der Flamme sich die Hand verbrennen, so fassen sie die Asche mit den Händen!

Und gleichen solche Menschen nicht dem Knaben, der Licht will, am Herd, auf dem das heilge Feuer brennt, vorübergeht, und die Lampe ins kalte Wasser taucht, worin gleich einem Traum das Feuerbild des Mondes schwebt?[43]

Was die Hand erschafft, wird nur durch sie bewegt. Ohne ihre Kraft ist es tot. Solche Menschen lieben das tote Werk mehr als die lebendige schaffende Hand.

Wenn's nur etwas zu scheiden, zu zerschneiden, abzuteilen gibt! Selbst das Unermeßliche messen sie. Wo etwas Ganzes, wo eine Fülle waltet, da kommen sie mit Fächern, Teilen, Geschlechtern, Arten und Gattungen. Ihr Toren! Warum zerspaltet Ihr den Körper? Wißt Ihr denn nicht, daß der Geist, das unsichtbare gestaltlose Wesen, Euch unter den Händen entwischt? Was wollt Ihr machen mit dem seelenlosen Körper, wenn Ihr ihn getrennt? Ihr hebt ihn auf als eine Mumie; denn das Tote liebt Ihr ja!

Das ist, wie sie's heißen, ein systematischer Weg. Aber wer faßt den Grundsatz aller Philosophie, den Einzigen und Ewigen, in Worte? Im Leben sucht ihn und nicht in Buchstaben, Zeichen und Zahlen! O, dieses verfluchte Wissen! Unselige Gesichte, Fratzen und Blendwerke läßt es dem Getäuschten wie Bankos Königsstamm vorüberschweben.

Die Wissenschaft ist gar nichts anders als ein toter Körper. Bringst Du den Geist, bringst Du Dich selbst nicht hinein, so hast Du ewig nur ein totes Maschinenwerk.

Was soll auch das ewige Lesen und Schreiben? O könnt' ich nur wirken, Theodor, und handeln auf eine schickliche Weise! Und glaubst Du mir nicht, eine sehende Begeisterung, eine glückliche Ahnung ist am Ende doch das Höchste?[44]

Jene ewige rege Spannkraft des ungeschwächten Geistes, die sich der Grieche aus seinen Gymnasien erwarb und aus der innigen Gemeinschaft mit der Natur, jene Harmonie des Körpers und des Geistes ist's, was uns soweit zurücksetzt gegen die Alten.

Freund, mit Einem alle meine Brüder zu umarmen, – und Brüder sind wir alle! – die Menschen sind, alle zu schließen an diese glühende Brust, und eins zu sein mit allen in einem Kuß, das ist mein göttlichster, mein menschlichster Gedanke!

O, die Harten, die auf dem Markte wandeln mit der Laterne und sagen, sie suchten Menschen und fänden keine! Sie sind keine Menschen; denn sie fühlen nicht menschlich. Das ist der törichte Übermut eines eingebildeten Narren, sich selbst allein für einen Menschen zu halten unter so vielen. Und das war möglich in Griechenland?

Der brave Mann, der seine Felder baut mit demselben starken Arm, mit dem er Weib und Kinder treu ernährt, sein angebetet Vaterland verteidigt, er ist als Mensch so viel wert als der bleiche Sohn des Wissens, und mag der Tor in seinem Wahn den frischen Sohn des Lebens auch verachten.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 42-45.
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