Phaethon an Theodor

[38] Ach Theodor, warum bin ich so allein?

Sieh, ich weiß oft nicht, wo's noch hinaus will mit mir, wenn ichs denke. Da klopft, da glüht mein Herz, und mein Klavier ist dann mein einziger, mein schmerzlich süßer Trost. O, es ist etwas Großes, Göttliches, sein Inneres so ganz wiederklingen zu hören, wie's kaum von einer harmonischen Seele klingt.

Diese Fülle in meinem Busen und all das Sehnen! O Theodor, mein Herz blutet!

Wäre nur erst die Kunst meine Braut und die Welt die Rosenlaube, worin ich sie umarme! Aber ach, ich fühle mich noch so gering, und viele, die mich kennen, verstehen mich nicht.

Nach Taten dürst' ich wie nach dem stärkenden Labequell der erhitzte Wanderer.

Und was soll ich auch tun? Das Land, wo ich am liebsten wandeln möchte, steht da wie eine verlassene Welt.[39]

Kein Ahorn umschattet mehr am Ilyssos die heiligen Bilder der Nymphen und des Acheloos, und keinen schönen Jüngling bezaubert Sokrates, der göttliche, mehr an den grünen Ufern durch seine erhabenen Lehren. Artemis, die Keusche, spielt nimmer mit den Nymphen am lorbeerumwehten Eurotas. Wo sind die Tauben in Dodonas uralten Eichenwäldern und ihre wunderbaren Säulen? Die Götter flohen, und halbzerbrochne Säulenschäfte, verwitterte Marmorblöcke unterm Schatten der Platanen deuten allein noch schaurig auf die alten Tempel.

O, hinanrennen hätt' ich mögen das Olympische Stadion und siegen, Theodor, daß der Ölzweig meine Stirne kränzte wie ein Abendwölkchen die goldnen Bergesscheitel.

Warum erinnert mich auch alles daran, daß ich allein bin auf der Welt?

Vor einigen Tagen kam Johannes zu mir. Seine Miene war ungewöhnlich heiter; seine Gebärden hastig und munter. Mir fiel es auf. Es war ein schöner Morgen, und wir gingen ins Freie. Johannes ward immer reger und fast wild. Wir setzten uns endlich auf einem Hügel nieder. Lange waren wir still, und jeder erwartete, daß der Andere zuerst sprechen werde. Johannes, was ist Dir? sagt' ich leise. Er schwieg. Da ward ich noch stiller. Ich fühlte mich beleidigt. Der Unmut schwebte wie ein finstres Gewölke über meine Seele. Theodor, Du weißt ja, wie ich bin! Ich kenne kein Maß, und weil mein Herz so unbegrenzt liebt, so fordr' ich es auch von andern. Ich stand auf und sah den Hügel hinunter.[40]

Da fühlt' ich ihn an meinem Hals und seinen Arm wütend um mich geschlungen. Ich sah ihn an. Die ganze Fülle seiner Seele schwamm in hellen Tropfen durch sein Auge. Phaethon! schluchzt' er, ich lieb' ein Mädchen, und sie liebt mich wieder! Ich sah ihm durch alle Winkel seiner Seele und preßt' ihn an meine Brust und rief: Vergib mir, guter biederer Johannes, vergib mir!

Wir setzten uns. Er erzählte mir, wie sie einander lieben und wie so ganz eins sie seien und zusammenschlügen gleich zwei glühenden Flammen. In seinen Augen, voll von Tränen und vom sonnigen Lächeln der Liebe, glänzt' ihm wie ein Regenbogen die trunkene Begeisterung. Ich müsse sie sehen, rief er immer nur, wie schön, wie liebenswürdig sie sei.

Und wie ich heut etwas spät nach Hause kam und durchs Dorf wandelte, und alles schon still war, und ich an die große Linde kam, da tritt er mir entgegen und hat sein Mädchen an der Hand. Das ist sie, Phaethon! lispelt' er leise wie der Abendwind, der durch die Blätter der Linde säuselte. Die schöne kleine Blondine blickte verschämt zur Erde und wollte seine Hand fahren lassen; aber er hielt sie fest, und sie blickt' ihn jetzt so wunderbar an. O Theodor, ich habe noch nie die Liebe so in einem Auge gesehen! Ich gab dem Mädchen die Hand. Sie nahm sie schüchtern, und ich sah, wie sie die Hand des Geliebten ängstlicher und stärker drückte. Wir blieben noch fast eine Stunde unter der Linde sitzen. Lieber, o was ist all unser Treiben gegen eine solche Begeisterung! Du hättest[41] sie sehen sollen, wie sie da saßen, die Liebenden, Arm in Arm, und eins dem andern in das nasse Auge blickte! Theodor, ich habe die halbe Nacht durchweint.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 38-42.
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