Phaethon an Theodor

[67] Der Schlaf floh mein Auge. Ich durchwachte die halbe Nacht. Ihre zarte Seele schwebte über mir, lächelte mich an, bebte durch mein ganzes Wesen wie mit einem Kusse. Erst gegen Morgen sank ein leichter Schlummer auf mich herab wie ein zartes Taugewölk. Als ich meine Augen öffnete, war's lichter Tag. Ich hatte mich in seligen Träumen gewiegt.

Schon gestern Abend ward mein Amor hinübergetragen. Ich machte mich nun auch auf den Weg. In einer halben Stunde kam ich an einen waldigen Abhang. Der allein verdeckt das Schloß der Gräfin. Ich säh' es sonst von meinen Fenstern aus. Dort lebt sie, dort, die Zarte, Sinnige. Dieser Gedanke bebte zuckend durch mein Tiefinnerstes. Lange saß ich auf einem abgebrochenen Felsenstück und schaute stumm hinüber, und Gott weiß, was ich mir dachte.

Ich stand vor dem Schloß und wußte nicht, wie ich hinkam. Mir war's, als stünd' ich mitten in der Welt der Griechen. Zwei Gebäude traten mir ins Auge. Zwischen dem Hellgrün schlanker Akazien und[68] wilden hohen Rosengebüschen ragte wie eine Ruine ein altscheinendes Häuschen empor mit roten Steinen, und ringsum trugen graue Säulen des Daches niedre Wölbung. Alte moosumwachsne Marmorblöcke, zerbrochne Architrave lagen unter dem jungen frischen Baumgezweig, und am Eingang vornen stand zu jeder Seite die Statue eines griechischen Weisen. Ihm gegenüber war ein Haus von heitrem schönem Geist; von allen Seiten war es frei, und eine edle rührende Einfalt schien jeden Stein an den andern gefügt zu haben.

Ich fühlte die ganze Bedeutung des wunderbaren Gegensatzes. Das Alter ruhte freundlich neben der Jugend, und die Vergangenheit lag hold der Gegenwart am Busen. Ich ging an der Statue vorbei mit einem geheimen ehrfurchtsvollen Schauer und öffnete eine Tür. Katon stand vor mir.

Grüß Dich Gott! rief er. Wie gefällt es Dir bei uns? Ich wußt' ihm nichts zu antworten und deutete nur mit einem schmerzlich wehmütigen Blick auf die Arabesken, die oben an dem grauen dunkeln Getäfer in seltsamen Gestalten hingen. Da schlangen sich geflügelte Liebesgötter um die Blumen wie Brüder. Hier lag ein schöner Knabe und las die schwellenden Früchte auf, die ein noch schönerer aus einem Füllhorn goß. Da schlang einer ein Band um die Mähne eines Löwen. Und dort schüttelt' ein anderer mit schalkhaftem Lächeln einen Köcher. Wo bin ich, seufzt' ich leise. Katon antwortete: Lieber, Du bist bei uns!

Ach, wie mir's war in dieser Umgebung! Das Licht brach nur in matten Strahlen durch das Akazienlaub[69] am Fenster und warf einen ungewissen halbdunkeln Schein auf die antiken Bilder und die griechischen Inschriften an den dunkeln Wänden. Da schien jeder Hauch mir heilig zu sein, und die Brust schwoll ahnend in Betrachtung all der Fülle von Einfalt und stiller Größe.

Bald ergriff mich Katon an der Hand, führte mich schweigend wieder hinaus und ging mit mir auf das schöne freundliche Gebäude zu. Da wohnt Cäcilie, sagt' er, und Atalanta! Mir war's, als sollt' ich in das Heiligtum der Ordnung und der Schönheit treten. Den Eingang zierten ein Paar schlanke Säulen. Ein verwelkter Kranz lag an der Vase der einen. Mit jedem Tritte ward ich feierlicher gestimmt.

Da standen wir vor einer weißen Türe. Katon öffnete sie, und – mir raubte das Entzücken alle Sinne – Atalanten sah mein Auge.

Geist und Gemüt wie entzückte liebende sich umarmende Kinder wirbelten hinan, küßten sich, verloren sich wie blaue fromme himmeltrunkene Augen in unermeßlichen Fernen.

Sie saß am Fenster. Ihr Köpfchen lag auf den nackten Armen. Ihre Locken flossen wie Wellen über den Nacken. Ein weißes Gewand umschwebte wie eine dünne Wolke die schönen jungen Glieder. Zu ihren Füßen stand ein Korb mit frischen Blumen und Früchten. Sie sah sich um und erblickte mich. Theodor, dieses Engelsauge, das lieblich überrascht auf den jungen Busen sich senkte, und die sanften Worte, die wie Lautenklänge sich schmeichelnd in meine Sinne drängten, und das schüchterne Erröten der Jungfrau auf den[70] vollen Jugendwangen! Und ich sah das und hielt's aus?

Die Mutter will ich rufen, sagte sie verschämt und eilte schnell und leicht wie Artemis durch eine Türe.

Cäcilie kam und brachte die Tochter wieder mit. Katon bot mir einen Sitz.

Saß ich nicht wie unter den Uranionen? Durch die hohen Bogenfenster lag das weite Tal vor uns mit seinen Dörfern und den hellen Gründen und den niedern Hügeln, und der trunkne Blick drang wie über die Schranken der Gegenwart über die fernen Berge hinüber. Ach, und wenn ich so hinausstarrte und dann wieder zurücksah auf die schönen Wesen, die mich umgaben wie unsterbliche Götter, und ich Atalanten ins Auge blickte, und sie lächelnd den Korb mit Früchten mir reichte, und ich einige nahm davon, frisch und jugendlich wie ihre Wangen, und sie zum Munde führte, da fühlt' ich, wie ich ewig, ewig sie im Busen trage müsse.

Katon schlug vor, in den Garten zu gehen. Atalanta band die langen Locken auf dem Nacken zusammen mit einer blaßroten Schleife und nahm die Mutter an der Hand und sagte: Ja, Mutter, wir wollen gehen! Es ist schön im Garten jetzt!

Wir gingen an Katons wunderbarem Säulenhause vorüber. Ich mußte rückwärts blicken, und das jugendliche Schlößchen mit den großen Bogenfenstern gegenüber von dem alten, so ehrwürdig aus den Trümmern sich erhebenden Gebäude kam mir vor wie die schüchterne blühende Tochter vor dem grauen alten Vater.[71]

Plötzlich stand ich wie in einer Welt voll Wunder. Eine kleine Wiese mit weißen Lilien hatten wir noch vorbei zu wandeln. Dann umfing uns ein wildes Rosengebüsch; aus dessen Mitte ragten wie graue Geister drei schlanke Säulen, die eine niedrer als die andre, und auf dem grünen Boden lagen Architrave mit ihren Stäben und Platten, von grünem Efeu umschlungen. Katons Mausoleum – so nannt' er mir sein Haus – lag tief versteckt von hohen Maulbeerbäumen.

Jetzt ergriff der wunderbare Mann mich an der Hand. Wir gingen auf eine grüne Anhöhe zu. Ein kleines Wäldchen von Orangen wölbte sich vor uns. Atalanta flog hinauf. Die schönen braunen Locken flatterten in den Lüften. Ein Meer von Wohlgerüchen strömt' auf uns. Da erblickt' ich einen kleinen Tempel auf der Höhe. Mein Aug' erkannte zwei Gestalten droben. Da klopfte, da schlug mein Busen! Atalanta war's, die Liebliche, und die andre war mein Amor.

Katon! stammelt' ich und weiter nichts. Er lächelte mich an. Drei Marmortreppen führten zu der Statue. Das niedre Tempeldach war nur getragen von sechs Säulen, und am Portale stand geschrieben: Der Liebe!

Mit Staunen blieb ich stehn vor meinem Bild. Ein Kranz von frischen grünen Akazien, Veilchen und Rosen wand sich um seine Schläfe. Er sah gegen Morgen.

Wir saßen auf dem Rasen. Drunten lag ein spiegelklarer See, von dunkeln Trauerweiden, Tannen und von kleinen weißen Bildern umgeben. An seinen Ufern schaukelten die Winde einen angebundnen Kahn[72] in den Silberwellen. Drüber hinein lag das Waldgebirg und die Burg.

Und lange schwiegen alle. Atalanta sah auf die Blumen zu ihren Füßen. Ihr weißer Hals war zart gebogen wie ein schlanker Zweig. Die Weste spielten mit ihren losgewundenen Locken.

Da blickte Cäcilie die gekrönte Statue an und dann mich mit ihrem lichten Feuerauge und sagte: Warum krönen wir immer die Götter und nicht auch die Menschen? Ich fühlt' es, was sie wollte. Meine glühende Röte verriet mich. Doch schnell wie ein junger Baumsproß war ich aufrecht und nahm den Kranz vom Haupt des Gottes und drückt' ihn zitternd Atalanten in die Locken.

Ach, wie sie sich sträubte, die Bescheidene! Und wie, feuriger glühend als die Rosen auf ihrem Haupte, ein Hochrot ihr im schönen Antlitz brannte, und das große keusche Auge unter den grünen Zweigen dunkelschauernd sich bewegte und das meinige traf, und sichtbar das blaue Band erbebte vom Drang, der ihren zarten Busen schwellte, und meine zitternde Hand zum erstenmal ihr Haupt berührte – Lieber! – und von der Berührung alle meine Nerven in einem Wirbel bebten! Ach, warum bin ich ihr da nicht in den Schoß gesunken? Warum hab ich da nicht meine flammenden Lippen auf die ihrigen gedrückt und ausgeweint mein unendlich Gefühl an ihrem Busen?

Katons und Cäciliens Auge ruhte mit Wonne auf dem schönen Mädchen, und wie sie sich auch weigerte, sie mußte den Kranz auf dem Haupte dulden.[73]

Ach, Theodor, es war ein goldner Tag! Auch Katon speiste diesmal im Schlosse. Der Sonderling ißt sonst allein in seinem Mausoleum. Und sie! Welch eine Seele! Welch eine Fülle! Welch eine Unendlichkeit ihrer Gemütskraft! O, es wandeln noch Abbilder der höchsten Schönheit auf der Erde. Ich Armer glaubte, der alte Weise hab' übers Morgenrot hinausgeblickt.

Am Abend gingen wir allein im Garten auf und ab, ich und Atalanta. Es war schön, unendlich schön! Die Natur lächelt' uns an wie eine Mutter ihre lieben Kinder. Aus jedem Blättchen, jeder Blume, jedem Quell, aus jedem Grashalm sprach's: Die Welt ist schön! Mein ganzes Wesen war erfrischt wie die Wiese nach einem warmen Regen. Sie ging neben mir, die Schöne, Heilige, und öffnete keine Lippe, als wollte sie kein leises Säuseln in den Blumen überhören. Ihr Angesicht war wie ein sichtbar gewordener, gestalteter, Herz und Geist durchschauernder Klang. Ihr Busen schwoll der Natur entgegen wie eine Schwester der andern, und auf ihren Wangen wehte die Vorwonne eines großen heiligen Kusses. O dieser Augenblick! Keine Äonen wiegen ihn auf!

Alles, alles sprach zu unsern Herzen. Wie ein Säuseln des alliebenden Vaters klang jeder verwehende Windhauch. Ich hatte keinen Sinn mehr für alles. Ich dachte nur, was sie fühlte.

O Natur! sprach sie endlich, du Mutter mit deinen Blumen und Kindern! Allheilige! Welch ein Bewegen und Schwellen! Welch ein Säuseln und[74] Rauschen! Welch ein Wogen und Wiegen um und um! Liebe aus Allem! Liebe aus allen Kindern für sie, die Mutter! Liebe im Wasser! Liebe im Licht, wenn sie wallend sich küssen! Liebe aller Blumen und Kräuter, alles Lebendigen! Und Eins doch Alles! Er, der wandellose, alles durchquillende Geist! Alles in ihm! Und er in Allem! Gott!

Ich weinte, hatte keine Worte, sah ihr ins Auge.

Ein klares Gewässer sprang aus moosbewachsnem Tuffgestein und sprudelte wie eine dünne Säule übers wankende Gesträuch und wallte dann durch Ranunkel dahin. Die Kiesel, die er mit sanftem Quillen überhüpfte, blickten durch die Wasser wie Atalantas Seele durch ihr klares Auge.

Setzen wir uns nicht da nieder? sprach ich unwillkürlich und erschrak, wie mir's einfiel, ich habe die heilige Stille unterbrochen. Sie lispelte: Ja! und senkte nieder sich aufs Gras und stützte ihr niedlich Füßchen auf einen Stein, der aus den Wassern sich erhob.

Wie oft saß ich als Knabe so an den Ufern eines Baches! sprach ich und schaute zu, wie eine Welle nur die andre schiebt, wie alle, alle fort und immer fort sich drängen und endlich gar verschwinden und nie, nie mehr zurückkehren. O, da stampft' ich den Boden in meiner kindischen Wut und weinte bittre Tränen, wenn ich rief, sie sollen stehen bleiben, und die Wellen mir nicht gehorchten. Es ist schrecklich, daß die Stunden unsers Glückes eilen wie diese Wassertropfen!

Atalanta blickte mich an. Mir schien's, als taut' ihr eine Trän' im Auge. Sie brach eine Rose und[75] warf sie hinunter in den Bach. Schwimme hinunter! rief sie. Du Blume, Bild der Jugend!

Da warf auch ich eine Rose hinein und rief: So schwimmt miteinander hinunter, ihr Blumen, Bilder der Jugend! O, es ist süß, unendlich süß, wenn Eines mit dem Andern fühlt, und das Leiden an zwei Herzen schlägt wie an zwei Ufer die Welle!

Atalanta ward rot und blickte zur Seite. Ist Phaethon nicht glücklich? seufzte sie endlich und blickte mich dabei an mit einem solchen Auge voll Schmerz und Liebe, daß ich glaubt', ich säh' in einen offenen Himmel.

Er ist es nicht, Atalanta! rief ich und blickt' in den Bach. Phaethon ist nicht glücklich!

Sollt' es möglich sein? sagte sie. Die Welt ist so schön!

Ach, aber allein darin zu sein?

Allein, Phaethon? fragte sie und sah mich mit großen Augen an. Allein? Ist's nicht Undank? Wie lebt's und webt's in diesem Augenblick um uns! Das klare rege Wasser, die lieben Blumen, die wachsen und vergehn wie wir und lieben wie wir. Die Blätter auf den Bäumen, sie leben, und die Keime schwellen daraus und entfalten uns die lieblichen Früchte. Die Vögel in den Lüften, auf den Zweigen, die Fische im Wasser, selbst die Mücken, die uns umsummen, und die Grillen, die neben uns singen, und die Winde, die uns schmeichelnd die brennenden Lippen kühlen! Und aus all dem jene ewige Liebe, jenes ewige Leben und Glühen, jenes Werden und Sein, jene Fülle von Licht, wie ausgesprochen[76] sein Name, der Name des Höchsten, Unerschaffenen, der Geist des Lebens und der Liebe! Phaethon, wir sollten allein sein?

O Theodor, ich fühlt' es, wie sie recht habe, wie mich hingerissen mein namenloser Schmerz; ergriff ihre Hand, benetzte sie mit meinen Tränen und rief: Vergib mir, Atalanta! Mich hat mein Sehnen übermannt. Ich glaubte mich ungeliebt!

Das ist kein Mensch! sagte sie und zog ihre Hand sanft aus der meinen und stand auf. Ich folgt' ihr stumm.

Seitdem ist sie mir noch heiliger. Meine Worte meß' ich ab vor ihr wie vor einem göttlichen Wesen, zu dem man betet.

Was will noch werden aus all dem?

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 67-77.
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