Phaethon an Theodor

[100] Oft an heiterm Vormittage drängt mich's, mein Zimmer zu verlassen, und ich wandle dann hinaus ins Freie. Ach welch ein Gefühl, zu irren durch die stillen Wiesen und Gründe, wenn alles so still ist umher, und nur selten ein Mensch geschäftig seinen Weg vorüberwandelt! Da leg' ich mich dann am Fuß eines kleinen Abhangs nieder mit einem Buche. Theodor, wenn ich dann aufschau' und hinüberblick' über die schweigenden Dörfer, und die liebe Sonne bald ins Gewölke sich hüllt, bald in all ihrem Lichte wieder heraustritt, und zu meinen Füßen eine Quelle mit tiefbescheidenem Rieseln durch die Gräser sprudelt; wenn's dann immer stiller wird und feierlicher, nur hie und da ein reifer Apfel vom beladnen Aste tönend auf den Boden fällt, oder ferne Stimmen erklingen und wechselnd sich antworten; wenn dann mein ganzer Busen sich füllt, und ich fühle das geheime glühende Leben; wenn Hügel und Berge, Quellen und Wiesen, Bäume, Blumen und Gräser bis ins Tiefste wie von einem Geiste der Fülle und Ruhe beseelt sind; wenn dann die Erinnerungen aus den Tagen[101] meiner Kindheit wie blasse Wolkenbilder in heiligem Schweigen heranschweben, mich linder und süßer umwallen, und alle jene Wünsche meines Innern sich erneuern, jene Träume von Glück und seliger Zufriedenheit; wenn die Welt wieder vor mir steht, wie ich sie damals mir geschaffen, und meine Brust anschwillt, und es klingt wie eine Ahnung: Du wirst noch glücklich werden! – Bruder, wenn dann mein Buch mir aus der Hand fällt, und mein Auge verschwimmt in den grundlosen Äther: Heilige, heilige Natur! Mutter! Allbeseelte! Deine ewige Wärme fühl' ich, Deine Ruhe, und ich komme mir vor, wenn ich unter den Gräsern und Blumen sitze, als sei auch ich Dein Kind und Dein – liebstes Kind!

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 100-102.
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