Phaethon an Theodor

[21] Unser Himmel ist nicht für die Kunst. Uns glänzt die Freiheit wie der Dioskuren Liebe nur als ein matter Stern am Himmel. Wo sind die Hirten der Völker?

Die unbeschränkteste Freiheit führte dem göttlichen Aristophanes wie ein launiger Genius den kühnen Griffel.

Die Griechen kannten nicht, was wir Gelehrsamkeit nennen. Der junge frische Geist ward nicht durch Formen ausgetrocknet. Das heitere Gemüt erschwoll am Busen der alliebenden Natur. Darum lernten sie auch früher denken.

So wuchsen sie auf, schön und voll wie die Rosen, ein erhabenes Geschlecht, würdig, abzustammen von den Göttern.

Und ist nicht alles bei ihnen der Abglanz ihrer Schöne? Ihre Werke sind schön wie sie selbst.

Die Religion spiegelte ihre Schönheit wie ein silberklarer Quell zurück. In ihr beschauten sie ihr göttlich Bild. Aus ihr schöpften sie diese Fülle herrlicher[22] Gestalten und füllten ihren Himmel an mit Göttern, schön wie sie.

Die Religion ist's ja, die der Kunst das Auge trocknet, wenn sie weinet über die ersehnte Urschönheit in ihrem höchsten Glanze.

Die Religion reicht der Kunst mit dem warmen aber keuschen Kuß ihrer Lippen die Weihe, der Menschheit das Göttliche darzustellen im schönen Bilde. Sie sind die innigsten Freundinnen und drücken sich ewig an den Busen.

Das ist's, wenn Sokrates, der Gottbegeisterte, den Künstler nur für weise hält, und der tiefe Pindaros den Sängergeist nur Weisheit nennt!

Die Natur, die ewige, die wandellose, war der Gott der Griechen, und Gott ist's, der aus allem, was sie schufen, spricht.

Wir Griechen, sagte der ernste Thukydides, streben nach der Schönheit, ohne viel Anstrengung, und nach der Weisheit, ohne daß wir weichlich werden. Das sagt Thukydides, und klarer hat das Wesen des menschlichsten und göttlichsten der Völker niemand ausgesprochen!

Die Griechen sind Kinder, höchstens Jünglinge.

O herrlich göttlich Land, wo Weisheit, Stärke, Schönheit wie drei Götter wohnten, wo aus dem zarten weichen Knaben der schöne Jüngling wie ein junger Gott emporwuchs, und aus dem Jüngling des Mannes hoher Bau wie aus der vollen Knospe der Stamm sich entwickelt; der Mann mit seinen starken Gliedern, mit der hohen Brust, in der die göttlichen[23] Entwürfe reiften, wo das Geschlecht, das ewigkräftige, gewandt sich auf der heiligen Rennbahn trieb, den schönen Ölzweig sich um seine Schläfe wand und ewigrege wie des Springquells Säule sich jene volle Heldenkraft erwarb, mit der es den Barbaren niederkämpfte!

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 21-24.
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