Phaethon an Theodor

[24] Ich wandelte gestern durchs Gebirge. Es ist ein hohes männliches Gefühl, zu schreiten durch diese alten Rieseneichen. Es scheint, als ob die Natur diese gewaltigen Stämme zum Beispiel für den Menschen schuf. Strecken sie sich nicht in die Lüfte wie Titanen, und wandelt der Mensch nicht wie ein Zwerg unter diesen kühnen ragenden Gewächsen? Aber ach, auch die Eichen stehn nicht fest. Ich stand an einem tiefen Geklüft. Durch übereinander geworfnes starrendes Gestein und hohes Waldgebüsch schob tosend in dem Abgrund sich ein Gießbach fort, rasch, unaufhaltsam wie das Leben des Menschen; und aus den Wurzeln vom Sturm gerissene Eichenstämme lagen in wilder Zerstörung über die Schlucht hin. Eine dunkle Masse schattender Tannen hob sich in düstern Gruppen an dem Abgrund, und eine gewaltige Felswand ragte drüber hinaus wie die finstre Stirn eines alten Gottes. Da dacht' ich mir den Titanen Prometheus an die graue ungeheure Felsenwand geschmiedet, und grausend ging ich meinen Weg vorüber. Und wie ich nun auf einem[25] einsam steilen Bergpfad eine Stelle fand, wo fürchterlich jäh der Fels hinabschoß, und schlankstämmige Eichen über mir sich wölbten, und ich durch das wildverschlungene Gezweig ins tiefe Tal hinabsah wie in einen Kessel; und drüben die waldbewachsenen dunkeln Bergesrücken, das Rauschen der nahen Wasserleitung und das einsame Flüstern des Windes in den geschüttelten Ästen, und aus dem tiefen Forst den schallenden Hammer der Steinbrecher, durch die Finsternis hin das verwitterte Ruingestein der zerfallenen Beste! Theodor, mir fuhr ein Schauer durch die Brust, wie ich so klein mich sah unter diesen riesigen Gestalten!

Ach, und das Traurigste folgt noch! Die Sonne brannte glühendrot durch die vergoldeten Eichenwipfel, und ich wandelte wie im Schwindel meinen Pfad dahin.

Da hört' ich eine Stimme. Mir fuhr's durch Mark und Bein, und wie ich schnell mich umsah, erhob sich ein alter Mann von einem Trümmer und wankte langsam wie ein schüchterner Geist auf mich zu. Seine Locken waren weiß wie der frische Schnee und seine Stimme wie eines Abgeschiedenen. Da faßte mich ein noch tieferes Graun. Der Alte bettelte. Theodor, er war achtzig Jahre alt! Ich stand vor ihm wie ein Gerichteter. Was suchst du noch auf der Welt, dacht' ich und warf ihm schaudernd etwas in den Hut. Ich rannte weiter. O Lieber, das hat mich furchtbar gestimmt! Wenn's nur einst hinüberginge von der Fülle ins Nichts wie eine lohe Feuersäule! Aber so! Nur stufenweise! Weiter und immer weiter![26] Theodor, wie mir der Mann seinen Segen mit Freudentränen nachwinselte und rief, bis ich ihn nimmer hören konnte! Der Alte dem Jungen! Gott! Wie war mir's? O, was ist all unser Leben?

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 24-27.
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