Phaethon an Theodor

[136] Auch ich war einst von Wissensdrang geplagt. Aber ach, mein ewig Weinen und Sehnen ward da nicht gestillt, und was das innigste geliebteste Heiligtum meines Herzens war, das fühlt' ich ungeregt. O Theodor, bei allem Suchen und Streben hab' ich nichts wahr gefunden als den Schmerz.

Einen wahren beseligenden Genuß verschafft mir noch die Welt der Dichter. Hier darf ich ja nicht fragen: Wozu? Woher? Warum? Das befriedigte Streben, das gestillte Sehnen meines Geistes ist die Antwort.

Von den Alten les' ich Homer und von den Neuen Shakespeare und Calderon. Wenn andere Dichter eines Volkes sind, so ist Shakespeare Dichter des Erdballs. Du lächeltest oft schon über meine grenzenlose Anbetung dieses erdgeborenen himmelstürmenden Riesen; aber lächle nur! Er ist doch nach Homer der erste aller Dichter.

Und ist wirklich seine Welt mir fast zu real – ich schweb' im Äther – so lieb' ich im Calderon das[137] Zerflossene, das Unbegrenzte, das Blumige. Calderons Welt ist wie ein unendlicher Garten, wo auf lachend jungen Gründen unter glühend südlichem Himmel die üppigste Fülle von farbigen Blumen sich wiegt und aus tausend Kelchen und Glocken das lächelnde Kinderhaupt geflügelter Liebesgötter blickt. Seine Gestalten schieben sich in reizender Unordnung wie Arabesken durcheinander, und alles ist mit den holdesten Blumengewinden wie von göttlicher Hand durcheinander geschlungen.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 136-138.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Phaeton
Phaeton: Roman