Phaethon an Theodor

[138] Lieber, wenn ich an meinem Klavier sitze, und Atalanta sitzt neben mir, wenn die Töne bald schmelzend und tiefschmerzlich wie mein Inneres klingen und in sanften verschwebenden Akkorden, in linden unendlich empfindungsreichen Akzenten eine namenlose Sehnsucht hauchen wie das Auge der Geliebten, und unsere Herzen erbeben und zerschmelzen und weinend ein unerklärbares Verlangen fühlen; bald wie aus der Tiefe wie ein unterirdisches Donnern zittern, als verkündigten sie das Aufsteigen der schauervollen Geisterwelt, und immer weiter anwachsen und schwellen, und unsere Seelen wie in einem Sturm unaufhaltsam fortgewirbelt werden, und alles um uns und über uns zittert und wankt: da ergreif' ich oft ihre Hand. Ihr Auge wird wie die durchsichtige aber unergründbare Luft, wie das endlose unermeßliche Meer, und ich finde keinen Grund und kein Ende und glaube zu vergehen im Anschaun dieser überschwänglichen Schöne.

Ich ahne jene Sagen der Vorwelt, geheimnisvoll wie die Vorwelt selbst, wo die Macht der Töne sogar das Leblose mit Leben und Wärme füllte, jenen göttlichen Musenruf des diskäischen Schwanes:


[139] Strophe I


Goldne Leier, Dir, Apoll, und

Euch mit dem dunkeln Gelock,

Musen, gleichrechtmäßiges Gut,

der aufhorcht der harrende Fuß zu des Festes Anfang,

Deinem Zeichen lauscht der Sängerchor,

wann Du die Gesänge, die reigenführenden,

tief vom Schlag erzitternd, zum Vorspiel erklingst.

Auch des Blitzstrahls ewig glühenden Flammenkeil

löschest Du aus. Auf des Zeus Szepter schläft der

Adler, der Fittiche hurtig

schwebend Gefieder in Ruh

niedersenkend.


Antistrophe I


Er ist der Vögel Fürst. Du gossest

Nachtgrau des Schlummergewölks

ihm ums runde gebogene Haupt,

sanft das Augenlid ihm zu schließen. Tief im Schlafe

schwillt von Deinem Wollustklange sein

weichwallender Rücken. Und Ares selbst, wild in

Tatkraft, läßt ja ferne des mordenden Speers

scharfen Stahl und labt des Herzens Drang in des

Schlafes Genuß. Es besänftigt ja Götter-

herzen selber der Zauber, bei Phoibos

Lied und der Musen, die tief-

busigen Schwestern.


Epode


Aber so viele nicht Zeus liebt,

die erschrecken, hören sie[140]

klingende Musengesänge,

auf dem Land wie auf dem unendlichen Meer.

Auch der hunderthauptige Typhos,

der, den Himmlischen verhaßt,

im Bette des Tartaros liegt, den einst des Ki-

liker weitbuchtige Höhle geschützt. Nun aber drückt

ihm das meerumwogte Gestade von Kyma,

Sikela auch, dem Ungeheuer, die

zottige Brust. Auch hält ihn fest die

himmelanwirbelnde Säule,

die beschneite Ätna, des schnei-

denden Gestöbers ewige Amme.


Strophe II


Ihres Abgrunds Klüfte spein un-

nahbaren Flammenlichts

lauteren Quell empor. Bei Tag

strudelt auf grauqualmende Ströme von Rauch die Flut;

aber durchs Nachtdunkel wirft blut-

rotwirbelnde Flamm' in die tiefe Meeresflur

dumpf hintosende Trümmer von Felsen hinab.

Jenes Gräueltier strömt des Hephaistos all-

furchtbare Wirbel herauf, Wunderzeichen,

so zum Erstaunen im Anschaun

wie zum Erstaunen der Wand-

rer zu hören.


Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 138-141.
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