Phaethon an Theodor

[195] Die Sonne ging auf. Heut ist der Abschiedstag. Morgen vor Tagesanbruch reit' ich vom Schlosse weg. O Theodor, bete für mich!


Den Abend saßen wir noch beisammen und sprachen von all den Freuden, die wir genossen in der Zeit. Näher und immer näher kam die Stunde des Abschieds. Ich ergriff Atalantas Hand und zog sie mit mir hinaus ins Freie.

Der Himmel war mit Sternen übersät. Mein Inneres war übervoll von der Empfindung der Stunde. Mein Auge irrte wild umher auf den Gestalten der Nacht. Zwischen den drei Säulen blinkte der Abendstern in mattem schwankendem Licht. Alles schwieg; nur der leise Windhauch spielte mit den Blättern des Rosengebüsches und erklang wie die Erinnerung geschwundener Abende vor meinen trunkenen Sinnen. Atalanta ging mir zur Seite.[196]

Auch wir schwiegen lange. Nur manchmal bebten unsere Lippen: Gedenke mein! Und dann zerflossen die Worte wieder in die Tränen unsers Schmerzes.

Da begann ich endlich: O blicke hinauf, Geliebte! Hinauf zum gestirnten Himmel! Da wandelt der Schöpfer unter den Sternen wie der Gärtner unter sei nen Blumen. Er ist die ewige Liebe. Gott ist die ewige Liebe. Atalanta, denke diesen erhabenen Gedanken! Er ist das ewige unerklärbare Wesen, das jene schweren Riesenwelten durch die Unendlichkeit gestreut hat wie leichten zarten Samen, das sie aus dem Elemente rief, werden ließ und gestaltete. Wenn die Morgensonne mit ihrem Hochrot über den glühenden Hügeln schwebt und durch die Eichenwipfel quillend unsere Häupter bescheint, wenn das alles stille wird, ein hohes feierliches Gefühl unsern Busen schwellt, und wir zu vernehmen glauben, ein dunkles Etwas wehe mit seinem beseligenden Geiste daher über Wiesen und Gründe, Wälder und Berge, und alles glühe, lebe und öffne sich bei seinem allbelebenden Hauche. Er ist's! Der Gott der Liebe ist's! Wir wandeln auf seiner Erde, die Abbilder seiner Schönheit und Fülle, und liebend drückt er uns täglich an seinen Busen. Er küßt uns, der unsichtbare himmlische Vater, mit dem Strahle des Mondes und der Sonne die Wangen wie seinen geliebten Kindern. Er spricht aus jeder Blume zu unserm Herzen im Geiste seiner Mäßigung und Größe.

Ja, sagte Atalanta, wir wollen nicht mehr weinen! Er ist ja unser Vater; wir sind seine Kinder. Wer ist es, Phaethon, der unsere Herzen füllte mit diesem[197] überschwänglichen Gefühl, mit dieser heilig geläuterten Flamme? Ist es nicht Gott, der sich regt in uns, wenn unsere Seelen beben vom Hauche der trunkenen Ahnung und streben nach einem unerklärbar seligen Etwas und dann ineinander schwimmen wie quillende Lichter? Ist es nicht Gott?

Gott! stammelt' ich weinend und durchschauert von ihrer Heiligkeit.

Wenn zwei Herzen sich einen, Phaethon, fuhr sie fort, dann steigen sie auf wie Weihrauchsäulen zu Gott. Wir sind nur in Gott; wir lieben nur in Gott. Wir sind eins mit ihm, wenn unser Auge sich trifft und unser Verlangen sich stillt. Dann ahnen wir ihn nicht mehr; wir sehn ihn in seinem innigsten glühendsten Weben. Er ist's, wenn unsere Lippen im Kuß aneinanderbeben. Er ist der Kuß selbst. Er ist die Träne, die in unserm Auge zittert, wenn wir fühlen, wie wir uns lieben.

Wir müssen uns trennen, Geliebter! Aber wir lieben uns ja in Gott. Wir finden uns auch wieder in ihm. Darum ist unsere Trennung nur scheinbar. Wir sind ewig ineinander, ewig Eines; wir sind eins in Gott! Wenn Du des Nachts durch die schweigenden Fluren wandelst und den Mond am Himmel blinken siehst, und die heilige Stille Dich umwaltet, dann denk': Auch ihr Auge blickt ja empor voll Tränen; auch um ihre Lippen spielt sein bescheidenes Licht wie um die Deinigen! Dann wirst Du mich finden im Lichte des Mondes. Wir werden eins sein in ihm. Unser Sehnen wird sich kühlen und stillen in ihm, und Du wirst Deine Liebe erkennen im Geiste der Natur, die um Dich liegt,[198] zu der ich gehöre wie Du; und Du wirst dann stille werden und die Tränen trocknen und glauben, ich läg' an Deinem Busen.

O Atalanta, Geliebte! rief ich halb wahnsinnig und stürzte mich ihr zu Füßen. Vergib mir, Heilige, den Schmerz meiner Seele!

Da sank auch sie auf ihre Knie und betete mit gefalteten Händen: Du Gott, unser liebender Vater, wir fühlen Deine Nähe!

Dann blickte sie mich an – die ganze Fülle des Himmels quoll aus ihrem Auge – und sprach: Mein Herz ist rein und keusch, o Gott, wie das Blau Deines Himmels, wie die Blumen auf Deiner Erde! Jüngling, bleibe auch Du rein; dann finden wir uns wieder in Gott!

Sie konnte nicht mehr; sank an meine Brust. Wir lagen stumm aneinander in einem glühenden Kusse; tranken unsterbliche Wonne aus unsern Lippen. Unsere Seelen stiegen aus der Hülle wie der reine körperlose Duft aus der Blume. Wir sahen nichts mehr, hörten nichts mehr; die Sinne schwanden uns. Unsere Entzückung war zu groß.

Wir erwachten aus der Betäubung; hoben uns auf. Wir wandelten zurück. Mein Auge wandte sich nicht vom Himmel. Ich träumte, wir wandelten so, Arm in Arm, von Stern zu Stern durch die weite unermeßliche Schöpfung Gottes.

Nun standen wir vor dem Hause. Da fühlte ich ganz, ganz den Schmerz der Trennung. Sie schwieg. Aber ich wußte doch, wie es in ihrem Herzen schwoll.[199]

Wie wir uns trennten, Theodor, ich weiß es nicht! Nur das weiß ich, daß wir uns noch einmal am Busen lagen. O Lieber, wie sie weinte! Wie sie weinte!

Kaum war ich wieder auf meinem Zimmer, da traten Katon und Cäcilie herein. Der Vater meiner Atalanta drückte mich warm aber gefaßt an seine Brust, zog mich ans Fenster und sagte voll wunderbarer Innigkeit: Freund, schone sie! Solch ein überschwängliches Gefühl wie das ihre zu Dir begreift in seiner Unaussprechlichkeit nicht ein Mensch auf Erden. Es ist nicht Liebe, was sie fühlt, wenn sie mit Geist, Seele, Gemüt in Dich verschwimmt. Nenne es, wie Du willst! Du findest keinen Namen. Ein Hinaufschauern zu Gott mit Dir ist all ihr Wesen. Daß ob dem Geiste nur der junge schöne Körper nicht leide! O, schone sie!

Ich verstand ihn. Sie war vor mir in ihrer ganzen Heiligkeit, in ihrer ganzen unendlich durchsichtigen Seele. Alles, alles Seele! Die Worte schwanden mir. Meine Tränen sprachen!

Nun sitz' ich allein beim Schein der Lampe an meinem Tische. Meine Seele ist zu voll. O, schone sie!

Lebe wohl, Theodor! Mir ahnet, als ob ich Dir nie mehr schriebe von hier.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 195-200.
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