Phaethon an Theodor

[223] Der Wirbel wird nicht lange mehr dauern!

Höre!

Nur Gott weiß es, der Alliebende, aber auch der Allgerechte! Meine Unschuld ist befleckt! Ich bin nicht mehr rein! O schaudre! Schaudre!

Und sie! O Theodor, mein Theodor, ich sehe keine Rettung mehr!

Nur einmal meine Hand zu tauchen in die Feuerwogen des Morgenrots und erwärmt zu werden von seiner unsterblichen Fülle über und über! Nur einmal Gott zu schauen, wie er ist, ohne Hülle, Bild, Gestalt und Farbe. Ihn! Die ewige wandellose Liebe! Dann gäbe es kein Nichts mehr für mich! Meine Brust wäre voll von den Wellen seines unversiegbaren Lichtquells! Leben wieder in mir! Frieden und Ruhe der Gottheit!

Unsterbliche Liebe! Eins ist Alles, und Alles ist Eins. Das fühlt' ich einst! Und nun?

Meine Seele hing einst an der Natur wie der Säugling an den Brüsten der Mutter. Ich fühlte mich so groß, so ewig, so geliebt![224]

Glühend, zerfließend weinte meine Seele vor Wonne! Ein Lied des Dankes, eine Freudenträne war mein Leben.

O, sie hätte mich glücklich gemacht! Bruder, wenn ich vor ihr stand, und mein Blick sich verlor im Seelenmeer ihres Auges, und ihr Mund lächelte, als ob er mich bäte, ihn zu küssen, so innig, ganz Liebe, so ganz Hingebung, und sie nichts wußte, nichts kannte als mich; ich ihr alles, alles war, und sie so ganz befriedigt; all ihr Sehnen und Wünschen gestillt schien in meinen Armen!

Ihr Auge befruchtete die Keime meiner Seele. Sie schossen alle auf und standen alle in Blüte. Ihre Tränen waren der linde tränkende Tau. Ihre Seele floß von ihrem Busen, von ihrem Auge in das meine, unbegrenzt, endlos, ewig!

Nun ist auch sie allein! Es wandeln ja schwere ungeheure Sonnen durch die Räume des Alls ohne Erde.

Es schwimmen ja grenzenlose ungestaltete Flecken im Unermeßlichen, die noch nicht gereift sind, die sich erst in Jahrtausenden zu Riesenwelten bilden.

Sie und das ganze All des unendlichen Gottes ist mir Eines. Es drücken beide mich nieder.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 223-225.
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