Phaethon an Theodor

[153] Deinen Brief hab ich erhalten. Aber ich konnte Dir nicht antworten. Lieber Bruder, diesmal konnt' ich Dir nicht antworten. Es war weit mit mir. Höre!

Die Welt war mir verhaßt an jenem Morgen. Zertrümmert war mein Alles; gelöst die ganze Spannkraft meines Geistes. Ich dachte nicht an sie; nur Katon stand vor meiner Seele. Um Mittag klopft' es an meiner Türe. Sie war geschlossen. Ich öffnete; blieb stehen wie erstarrt. Atalanta stand vor mir.

Ihr Auge war ruhig und voll Frieden. Sie ahnte ja nicht, wie mir war. O Gott, warum war das so?

In meinem Innern regte sich's wie in der Erde, wenn sie die tiefgeheimen Kräfte allzerstörend zum furchtbaren Ausbruch rüstet, und wild in gärenden Wirbeln die empörten Elemente gegeneinander toben.

Lange saß sie mir gegenüber. Endlich sagte sie ängstlich: Phaethon! Deine Augen sind verstört und glühen matt wie halberloschne Flammen. War Dein Schlummer nicht sanft diese Nacht?[154]

Schlummer? murmelt' ich finster. Werd' ich schlummern, wenn meine Welt mir in Trümmer sinkt? Ich konnte fast nimmer! Seufzte: Ach, sie sank so bald!

Was ist Dir, Phaethon? rief Atalanta weinend.

Nicht wohl! war meine Antwort. Ich stand auf und wandelte mit raschen großen Schritten in meinem Zimmer auf und ab. Mein Inneres ward düsterer und immer düsterer.

Ich blieb stehen vor ihr; sah sie starr und bewegungslos an. Sie spielte mit Blumen in ihrem Schoß und fragte mich endlich mit einem unaussprechlich traurigen Blicke: Phaethon, was ist Dir? Du bist schrecklich.

Umsonst. Es ward nur immer nächtlicher in mir. Wer hält den Strom in seinem Laufe, wenn er von himmelhohen Felsenklippen die Flut lautdonnernd in die Tiefe stürzt?

Ich schritt wieder durchs Zimmer. Ein weinend Ach! vernahm ich noch von ihren Lippen. Dann sah ich nichts mehr, hörte ich nichts mehr.

Auf einem Tische lag ein Messer. Ich ergriff's und dreht' es in den Händen. Phaethon, was hast Du? rief sie erschrocken. Ich sprach kein Wort, sondern stieß das Messer gegen meine Brust.

Das Blut floß. Mir ward schwindlig. Ich mußte mich niedersetzen.

Gott! rief Atalanta mit einem entsetzlichen Schrei und rannte durch die Türe.

Die Besinnung schwand mir. Wie ich erwachte, lag ich auf dem Bette. Der Arzt stand neben mir und verband mich.[155]

Das Fieber rüttelte mich fürchterlich. Cäcilie war um mich geschäftig. Sie weinte.

Ich war allein mit Atalanta. Ich sah sie an mit brechendem Auge; ergriff ihre Hand; stammelte: Atalanta! Einen Kuß! O Phaethon! rief sie weinend mit einem namenlosen Ausdruck und sank über mich her. Ihr Mund glühte flammend auf dem meinen. Ihre Haare lösten sich auf und wallten über mich hinunter. Ich küßte die Tränen von ihrem Auge.

Jedes Wort war Schmerz. Gestern Abend! Katon! Das war das Einzige, was ich konnte lispeln.

Sie verstand mich. Ich bin nicht schuldig! rief sie, heftiger weinend, immer noch matt an meiner Brust liegend.

Wo ist Katon? sagt' ich. Sie wußte, was ich wollte, riß sich los und flog durch die Türe.

Einen Augenblick war ich allein. Ich schauderte vor dem Grabe.

Atalanta kam wieder und sagte: Katon will nicht kommen.

Weiß er's?

Er weiß es! schluchzte sie.

Das grämte mich. Fürchterliche Bilder umgaukelten mich den Abend. Das Wundfieber verließ mich die ganze Nacht nicht. Gegen Morgen entschlummert' ich. Wie ich erwachte, standen Katon und Atalanta vor meinem Bette.

Wir sahen uns lange starr an. Dann sagt' er dumpf: Du bist ein schlechter Freund! Ein Blick von Atalanta milderte seinen Ernst. Er ging fort und ließ uns allein.[156]

Aber zürn' ihm nicht!

Theodor, Du wirst staunen! Katon hat den Schleier abgeworfen, und seine Seele steht in ihrer ganzen Größe vor mir da.

Gegen Abend trat Cäcilie mit Atalanta in mein Zimmer. Katon folgte. Er war wie ein anderer Mensch; wie verjüngt. Sein Bart war geschoren; seine Miene geheimnisvollfreundlich. Er trat zwischen mich und Atalanta und sagte: Ich hab Euch entzweit. Ich will Euch wieder einen. Atalanta! (O, dies sprach er mit einem unbeschreiblichen Schmerze.) Atalanta, ich bin Dein Vater! Cäcilie ist nicht Deine Mutter!

Die Welt verschwamm vor meinen Augen. Erwarte nicht, daß ich die Szene Dir beschreibe! In solchen Augenblicken handelt der Mensch, ohne es zu wissen. Cäcilie verhüllt' ihr Angesicht. Atalanta lag vor Katon und stammelte weinend: Vater!

O, wie der schöne hohe Mann, vom Abendlicht der Sonne verklärt, da stand, und zu seinen Füßen die Jungfrau, meine Geliebte! Wie er die Arme nach ihr ausstreckte und sie ans Herz drückte! Wie sie nun sich losriß und vor Cäcilie kniete und rief: O Mutter, Mutter! und es wieder stille ward, und sie endlich wieder schluchzte: Warum mußt' ich den Vater bekommen, da ich die Mutter verloren?

Es ward wieder ruhig. Vater und Tochter blickten sich an wie freundliche Sterne. Auch Katon weinte.

Ich ergriff seine Hand; sah ihn an mit tränendem Auge. Er lächelt' und erwiderte: Ein andermal![157]

Dann faßt' er Atalantas Hand und sagte: Noch etwas, meine Tochter! Du bist eine Griechin!

Griechin! rief ich außer mir. Ihr Auge war, als wollt' es zerfließen in Wasser. So sanft, so schmerzlichmild, so ganz Gefühl und Seele! O, und nur ich verstand sie!

Katon war unbeweglich stehen geblieben. Dann setzt' er noch hinzu: Doch fragt mich nicht mehr, bis ich selbst Euch das Geheimnis löse! und ging dann fort.

Die halbe Nacht wiegt' ich mich in der Betrachtung der wunderbaren Entschleierung; aber noch konnt' ich das unterirdische Gewölbe nicht enträtseln, und weiter fragen dürfen wir ihn ja nicht.

Man verband mich täglich. Die Wunde war nicht gefährlich. Ich ward ruhiger.

Oft las mir meine Griechin vor. Sie saß dann neben meinem Bette.

Wenn ich sie so ansah, wie sie da saß in ihrer unbegreiflichen Schönheit, und die großen seelenvollen Augen auf dem Buche glühten und dann mich wieder unendlich liebend ansahen; wenn die holden Lippen so melodisch die Worte sprachen, und sie mir erschien, dem Kranken, Verletzten, wie die ewige Jugend, wie die unverwelkliche Gesundheit; wie ich endlich ihre Hand ergriff, und sie schwieg, ihr Haupt über mich herein senkte und einen glühendheißen Kuß auf meine Wange drückte ... Da fühlt' ich, daß wieder Gesundheit schwellte durch mein Innerstes wie der Lebenssaft durch die getränkte Blume. Mein kalter Busen erwärmte sich an dem ihrigen und sog Leben und[158] Fülle aus ihrem Munde wie die Biene Honig aus der Rose.

Jeden Abend kamen Cäcilie und Katon zu mir. Aber er schwieg immer. Nur einmal sagt' er beim Hinweggehn: Bald wird sich's lösen!

Meine Wunde hörte auf mich zu schmerzen. Der Schlaf erquickte mich wieder, und ich fühlte mich an einem warmen Nachmittag gestärkt genug, an Atalantas Arm durch den Garten zu wandeln. Ich grüßte jede Blume, jede Quelle, jeden Berg. Ich fühlte mich wieder ganz als den Liebling der Mutter Natur.

O, so müßt' es dem sein, der aus dem Reich der Toten wieder ans Licht der allerwärmenden Sonne träte!

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 153-159.
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