2.

[102] Noch gedenk' ich jenes Morgens,

Da wir uns zum erstenmale

So von ohngefähr gefunden,

Auf dem Esquilin! Des Klosters

Stillem Garten sahn wir mächtig

Sich der Palme Wuchs entheben,

Und in ihrer Herrlichkeit

Roms Ruinen sich entfalten.


Oftmals wanderten wir einsam

Der Metella Riesengrabe,

Oft der Grotte der Egeria,

Oft des Pincio süßen Höhen,

Oder wohl des Tibers Brücken

Und des Forums Tempeltrümmern,

Und dem Colosseum zu,

Wo der Genius uns geführet.


Und wie um der Römertempel

Altergraue düstre Reste

Lustig Laub und heitre Blumen

Gern in flücht'ger Blüthe wuchern,[102]

Wand durch ernstere Gespräche

Still bedächtliche Betrachtung

Sich ein kecker muth'ger Scherz

In verweg'ner üpp'ger Fülle.


Wahr ist es, auf meinem Boden

Wuchs des Unkrauts viel, zerstörend

Traf ihn Sonnenbrand und Stürme;

Zwar die vollsten Rosenkränze,

Doch der Dornen allzuviele

Drückte mir auf's Haupt der Amor,

Dem ich in Genuß und Lust

Als ein irrend Weltkind glühte.


Aber du im Heiligthume,

Nie entweiht, hast ihm als Priester

Seine geist'ge Flamm' erhalten.

Ich verstand dich wohl, und gerne

Hast auch du mich stets geduldet,

Und so wehte mir die Schalkheit

Auch ins Herz den Blüthenduft

Deiner Muse, deiner Scherze.


Aber laß nun, mich zu schelten!

Ist die Sündfluth, die so schnelle

Meine kleine Welt zerstöret,

Endlich doch zurückgewichen,

Und die grünen lichten Höhen

Glänzen schon im Sonnenscheine,

Und der Friedensbogen ruht

Lächelnd im entwölkten Himmel.


Eine Taube ließ ich fliegen –

Deute sie – und einen Oelzweig

Brachte sie zurück! ich habe

Doch mein Bestes mir gerettet.[103]

Freund, mein Herz! In frischer Weihe

Hat es der versöhnten Gottheit,

Hat's der Muse, die dich krönt,

Ew'ge Treue schon geschworen.


Und so könnt' ich wohl es wagen,

Dir die Freundeshand zu bieten;

Wär' ich noch ein Schwärmer, rief' ich

Alle Tempel Roms zu Zeugen,

Doch wozu? Du liebst zu schweigen,

Liebst die Einsamkeit, und freilich

Dir verdenk' ich's nicht, du hast

Alle Grazien zu Gespielen.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Gedichte aus Italien, Band 1: Lieder des Römischen Karnevals und andere Gedichte, Leipzig 1893/1895, S. 102-104.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon