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[40] Es gab eine Weinstube im Schloß zu Waldleiningen, worin sich gemütlich kneipen ließ. Dort tranken Crammon und Christian eines Abends Bruderschaft. Und als sie die Flasche Liebfrauenmilch geleert hatten, sagte Crammon, es sei eine schöne Nacht, man könnte noch ein wenig im Park spazierengehen. Christian wars zufrieden.

Sie gingen im Mondschein über die Kieswege; Busch und Baum schwammen in silbrigem Duft.

»Nebelglanz und Herbstesfäden, alles, wie's im Buch steht,« sagte Crammon.

»In welchem Buch?« erkundigte sich Christian.

»Na, im Gedichtbuch, mein ich.«

»Liest du denn Gedichte?« fragte Christian neugierig.

»Hin und wieder mal,« antwortete Crammon, »wenn mirs in der Prosa nicht mehr gefällt. Da zahl ich dann dem Weltgeist meine Schulden ab.«

Sie setzten sich auf eine Bank unter eine mächtige Platane. Christian schaute eine Weile schweigend vor sich hin, dann richtete er unvermittelt die Frage an Crammon: »Sag mal, Bernhard, was ist das eigentlich, wovon die[40] meisten Leute so viel Aufhebens machen: der Ernst des Lebens –?«

Crammon lachte leise vor sich hin. »Nur Geduld, mein Lieber, nur Geduld,« antwortete er, »das wirst du schon erfahren.«

Er lachte wieder und faltete behäbig die Hände über dem Bauch; dennoch bekam die schöne Nacht, die schöne Landschaft einen Schleier von Schwermut.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 40-41.
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