[41] Christian wünschte, daß Crammon mit ihm und Alfred Meerholz, dem Sohn des Generals, zum Wintersport nach St. Moritz fahre; aber Crammon mußte zu Konrad von Westernachs Hochzeit nach Wien. So verabredeten sie ein Zusammentreffen in Wiesbaden, wohin im Frühjahr auch Frau Wahnschaffe und Judith gingen.
Frau Richberta verbrachte den Januar und Februar gewöhnlich in dem Würzburger Stammhaus der Familie; sie hatte viele Gäste dort, und die Langeweile der Provinzstadt war nicht fühlbar. Wolfgang hatte bis jetzt in Würzburg die Staatswissenschaften studiert; aber mit Abschluß des Semesters sollte er nach Berlin, um das Examen zu machen und dann ins Auswärtige Amt einzutreten. Judith sagte spöttisch zu ihm: »Du bist der geborene Diplomat der neuen Schule; wenn du das Zimmer betrittst, wagt niemand mehr zu scherzen. Höchste Zeit, daß du deinen Wirkungskreis vergrößerst.« Er antwortete: »Gewiß; ich werde einem Würdigeren Platz machen, der es besser versteht, euch zu amüsieren.« Und Judith darauf: »Du bist bitter, aber du sprichst wahr.«
Als Christian im April nach Wiesbaden kam, stellte ihn seine Mutter der Gräfin Brainitz und ihrer Nichte Lätizia[41] von Febronius vor. Die Gräfin befand sich zur Kur in Wiesbaden; manche Leute sagten aber, ihr eigentlicher Zweck sei, für Lätizia eine passende Partie unter den reichen jungen Männern des Landes zu suchen. Sie hatte es verstanden, die schwer zugängliche und mißtrauische Frau Richberta für sich einzunehmen; Judith war von Lätizias Anmut ganz bezaubert.
Christian begleitete die jungen Damen auf ihren Promenaden und Spazierritten; die Gräfin sagte zu Lätizia: »In den Mann würde ich mich verlieben an deiner Stelle.« Worauf Lätizia mit ihrem innigsten Augenaufschlag erwiderte: »Ich an Ihrer Stelle, Tante, würde davor die größte Angst haben.«
Crammon kam in übler Laune an. Wenn einer seiner Freunde sich so weit vergaß, zu heiraten, wurde er von einer schleichenden Misanthropie erfaßt, die sein Gemüt wochenlang verdüsterte.
Er wunderte sich, als ihm Christian von den neuen Bekannten erzählte, er wunderte sich über die Fügung, die ihn selbst so unerwartet in Lätizias Lebenskreis führte. Es war ihm nicht recht geheuer zumute.
Über die Gräfin Brainitz zeigte er sich wenig entzückt. Vertraut mit der Genealogie und der Geschichte der toten und lebenden Mitglieder aller adligen Familien des Kontinents und der Inseln, wußte er auch über sie genauen Bescheid. »Sie ist in ihrer Jugend Schauspielerin gewesen,« berichtete er, »eine jener beliebten Naiven, die durch hervorstechende Blondheit und rührend-verlegenes Zupfen am Schürzensaum die Gemüter poesievoll stimmen. Damit hat sie seinerzeit auch den Grafen Brainitz erobert, einen geistesschwachen Podagristen. Sie hatte ihn für reich gehalten, später erwies es sich, daß er gänzlich verschuldet war und vom Chef des gräflichen Hauses ein Jahresgehalt bezog, das nach seinem Tode auf die Witwe übergegangen ist.«[42]
Jetzt war sie nicht mehr blond, sondern hatte weiße Haare, strähnig und metallisch schimmernd wie gesponnenes Glas; früh weiß allerdings, denn sie war kaum älter als fünfzig. Sie war wohlbeleibt; ihr Körper hatte eine besondere Art von gedrechselter Rundheit; auch ihr Apfelgesicht war vollkommen rund und glatt; es leuchtete von einer gesunden Röte, und jeder einzelne Teil darin, die Nase, der Mund, das Kinn, die Stirn, zeichnete sich durch eine gewisse Zierlichkeit und Harmlosigkeit aus.
Von der ersten Sekunde an lag sie mit Crammon im Streit. Über alles, was er sagte, schlug sie entsetzt die Hände zusammen, alles, was er tat, erboste sie. Mit weiblichem Instinkt witterte sie in ihm den Widersacher ihrer listigen Projekte, und er sah in ihr die Erzfeindin, die das Netz knüpfte, in welchem wieder einmal ein Freund gefangen werden sollte.
Sie hatte ihn zu Tisch gebeten; Lätizia hatte es gewünscht. Sie sagte: »Wenn Sie ihn auch sonst nicht leiden mögen, Tantchen, als Tischgenosse wird er sicher Ihren Beifall finden, denn da hat er manche Ähnlichkeit mit Ihnen.« Aber die Abneigung Crammons gegen die Gräfin beraubte ihn sogar der Eßlust, was wieder die Gräfin nicht eben versöhnlich stimmte. Sie selbst aß drei Eier in Mayonnaise, eine halbe Ente, ein gewaltiges Stück Lendenbraten, vier Portionen Schaumtorte, einen Teller Kirschen und verschiedene Kleinigkeiten als Zeitvertreib und Füllsel. Crammon war bestürzt.
Nach jedem einzelnen Gang wusch sie sich mit großer Sorgsamkeit die Hände, und als das Mahl zu Ende war, zog sie sogleich wieder die schneeweißen Handschuhe über ihre runden Händchen.
»Alle Menschen sind Schweine,« sagte sie »alles was von Menschen kommt, ist schmutzig; ich schütze mich, wie ich kann.«
Lätizia saß mit dem ihr eigenen zart-schelmischen Lächeln dabei, und ihre bloße Gegenwart verlieh dem Gewöhnlichen um sie her einen Hauch von Romantik.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
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