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[240] Die Gräfin Brainitz fuhr mit ihrer Gesellschafterin, dem Fräulein Stöhr, in der Welt herum.

Sie war bei einer uralten Fürstin Neukirch in Berchtesgaden zu Gast, langweilte sich dort und ging nach Venedig, Ravenna und Florenz. Mit dem Baedeker und dem Cicerone ausgerüstet, besah sie sich die Galerien, die Kirchen, die Basiliken, die Palazzi, die Grabmäler, die Monumente und setzte das Fräulein Stöhr durch ihre Unermüdlichkeit in Verzweiflung.

Sie zankte mit den Gondolieri um das Fahrgeld, mit den Kellnern um das Trinkgeld, mit den Geschäftsleuten um die Preise der Waren. Jede Münze hielt sie für falsch und berührte aus Angst vor Schmutz und Ansteckung keine Türklinke, keinen Stuhl, keine Zeitung und keines Menschen Hand. Sie wusch sich ununterbrochen, kreischte ununterbrochen und erregte durch ihren Appetit Aufsehen an der Table d'hote.

Mit Groll im Herzen schied sie aus dem Land der Wunder und des kleinen Betrugs. Sie besuchte ihre Neffen in Berlin, die Brüder Stojenthin, die sich hochentzückt zeigten, sie zu sehen und bei Austern und Champagner eine Anleihe von tausend Mark bei ihr machten. Dann fuhr sie zu ihren Schwestern Hilde Stojenthin und Else von Febronius nach Stargard.

Sie amüsierte sich über die Damen von Stargard, von denen ihr jede einen Hofknicks schuldig zu sein glaubte. Bei den Kaffeekränzchen thronte sie in der Mitte eines Kanapees, welches einen getüpfelten Kattunbezug hatte. Da erzählte sie der andächtig lauschenden Runde Geschichten aus der großen Welt.[240] Sie waren manchmal so gewagt, daß die Amtsrichterswitwe ihre gräfliche Schwester warnend in den Arm zwickte.

Frau von Febronius kränkelte seit Beginn des Winters. Durch eine unvorsichtige Schlittenfahrt zog sie sich eine Brustfellentzündung zu, die alsbald eine Wendung zum Schlimmen nahm. Die Gräfin, welche Krankheiten nicht nur für sich fürchtete, sondern auch an andern haßte, wurde unruhig und sprach von Abreise.

»Als mein seliger Mann sein Ende kommen sah, schickte er mich nach Mentone,« sagte sie zu Fräulein Stöhr; »so dumm und verständnislos er sonst war, nicht dümmer und verständnisloser übrigens als alle Männer, in diesem Punkt zeigte er ein lobenswertes Zartgefühl. Ich bin nun einmal nicht für den Anblick von Leiden geschaffen. Das Karitative liegt mir nicht.«

Fräulein Stöhr machte ihre geistlichen Augen, mit Blick nach oben. Sie kannte ihre Gebieterin zur Genüge, um zu wissen, daß die Geschichte von dem sterbenden Grafen und der Verschickung nach Mentone ein Erzeugnis der Einbildungskraft war. Sie sagte: »Der Mensch sollte sich beizeiten an den Todesgedanken gewöhnen, Frau Gräfin.«

Die Gräfin erwiderte entrüstet: »Liebe Stöhr, sparen Sie sich die Brahminenweisheit für Zeiten der Not. Geistliche Tröstungen sind nicht mein Fall. Ihre Aufgabe ist es nicht, mir Wahrheiten zu predigen, sondern mich angenehm zu täuschen.«

Eines Abends verlangte Frau von Febronius nach der Gräfin. Die Gräfin ging zu ihr, in Hut und Schleier, mit dicken Wollhandschuhen, angstbleich. Seufzend setzte sie sich an das Bett der Schwester und maß die Entfernung daraufhin ab, daß sie außer dem Atembereich der Kranken blieb.

Frau von Febronius lächelte nachsichtig. Die Krankheit hatte die Sorgenfurchen und die Alltagstraurigkeit aus ihren Zügen gewischt, und in den weißen Kissen ähnelte sie auffallend[241] ihrer Tochter Lätizia. »Verzeih die Belästigung, Marion, aber ich muß mit dir reden,« begann sie; »ich habe etwas auf dem Herzen, es beschwert mich, und ich muß es einem Menschen anvertrauen, damit es einer weiß, der mich kennt, und es nicht mit mir ins Grab geht.«

»Ich beschwöre dich, Elschen, mein gutes, armes Kind, sprich nicht von Grab und solchen Sachen,« rief die Gräfin weinerlich; »da schmeckt mir eine Woche lang kein Bissen mehr. Folge mir, wirf die Arzneiflaschen aus dem Fenster, und jag die Quacksalber zum Teufel, so bist du übermorgen gesund. Ich flehe dich an, laß auch das Beichten sein; es ist ja gräßlich, woran einen das erinnert.«

Frau von Febronius fuhr fort: »Es nützt nichts, Marion, es muß heraus. Ich wende mich an dich, weil du Lätizia soviel Liebe erwiesen hast und weil Hilde, so verständig und treu sie ist, mich doch nicht recht begreifen würde. Sie denkt zu bürgerlich dazu.«

Nun erzählte sie flüsternd die Geschichte von Lätizias Geburt. Wie ihr Mann durch ein frühes Leiden der Hoffnung auf Nachkommenschaft beraubt worden; wie er sich trotzdem nach einem Sohn, einem Kind überhaupt gesehnt, und wie dieser Wunsch schließlich alle Bedenken verscheucht, alle andern Empfindungen dermaßen zurückgedrängt habe, daß ein Fremder, für den er Sympathie gefaßt, von ihm erwählt wurde, das Geschlecht fortzupflanzen. Wie er sie, die Frau, die er mehr als alles geliebt, hiezu überredet und sie nach langem Kampfe endlich in das unerhört Sonderbare gewilligt; wie aber, als das Kind dagewesen, eine wachsende Melancholie sich des Mannes bemächtigt habe und zu einem unheilbaren Übel geworden sei, unter dessen Gewalt er sein Haus, sein Vermögen, sich selbst zugrunde gerichtet. Von dem Glück, das ihm sein Wahn vorgemalt, habe er nichts verspürt; im Gegenteil, er habe Lätizia stets eine verächtliche Abneigung fühlen lassen und sei ihr aus dem Weg gegangen, wo er es gekonnt.[242]

»Mich wundert das gar nicht,« bemerkte die Gräfin; »du warst ungewöhnlich naiv, Liebchen, wenn es dich gewundert hat. Kuckuckskind ist Kuckuckskind; auf welche Manier es ins Nest kommt, spielt keine Rolle. Immerhin, es ist eine märchenhafte Begebenheit, und ich sehe, daß ich dich unterschätzt habe und daß dus hinter den Ohren hast. Und wer ist der Vater des Kindes? Wer hat meinen süßen Engel in die Welt gesetzt? Der Mann ist unter allen Umständen zu loben.«

Frau von Febronius nannte den Namen. Da schrie die Gräfin auf und fuhr von ihrem Sitz empor wie gestochen. »Crammon? Bernhard von Crammon?« Sie schlug die Hände zusammen. »Ist das wahr? Träumst du nicht? Überleg dirs, Liebchen; du fieberst. Ach ja, du delirierst. Trink einen Schluck Wasser, tu mir den Gefallen, und dann denk einmal genau nach und rede keinen Unsinn mehr.«

Erstaunt sah Frau von Febronius die Schwester an. »Kennst du ihn denn?« fragte sie.

»Ja, ich kenne ihn,« antwortete die Gräfin erbittert, »ich kenne ihn. Und sag mir das eine: weiß er es, dieser ... dieser Mensch? Hat er es immer gewußt?«

»Er weiß es. Er hat Lätizia vor zwei Jahren in Klein-Deussen gesehen, seitdem weiß er es. Aber du tust ja, als sei er der Gottseibeiuns, Marion. Hast du Zank mit ihm gehabt, oder was war sonst? Wie du nur alles übertreibst!«

Die Gräfin ging erregt hin und her. »Er weiß es, das Scheusal,« murmelte sie; »er hat es gewußt, der Bösewicht. Und solche Verstellung! Solche Heuchelei! Warte nur, Scheusal, das werd ich dir eintränken; warte nur, Bösewicht, ich werde dich zu finden wissen!« Sich an die Schwester kehrend, sagte sie laut: »Entschuldige, Elschen, aber das Temperament ist wieder einmal mit mir durchgegangen. Du hast recht, der Name hat einen verjährten Zorn in mir wachgerüttelt. Ich koche, ich kann nichts andres sagen als: ich koche. Gewiß war der Mann in seiner Jugend ein Ehrenmann[243] und Kavalier, da du dich in so verwegene Dinge mit ihm eingelassen hast. Was er heute ist, will ich nicht näher untersuchen. Verschwiegen ist er noch immer, darüber kannst du beruhigt sein; es gibt aber eine Grenze für die Verschwiegenheit, behaupte ich, und wo die überschritten wird, schütteln die honetten Leute den Kopf, und die Tugend sieht aus wie Niedertracht. Voilà.«

»Was du da vorbringst, ist mir rätselhaft,« antwortete Frau von Febronius müde, »und ich habe auch keine Lust, es zu ergründen. Ich wollte dir ein Geheimnis mitteilen, das mich bedrückt hat. Bewahre es bei dir, und mache nur dann Gebrauch davon, wenn du durch seine Eröffnung ein Unglück verhüten oder Lätizia einen Dienst erweisen kannst. Zwar seh ich nicht, wie es dazu kommen soll, aber der Gedanke tröstet mich, daß außer mir und jenem Mann noch ein Mensch um das Geschehene weiß.«

Die Gräfin schaute ihre kranke Schwester sinnend an. »Dein Leben war eigentlich gar nicht lustig, Elschen,« sagte sie.

»Nein; lustig war es gerade nicht,« antwortete Frau von Febronius.

In den nächsten Tagen erholte sich Frau von Febronius ein wenig. Dann trat ein Rückfall ein, der keine Hoffnung mehr ließ. Mitte März starb sie.

Zu dieser Zeit hatte die Gräfin schon längst das Weite gesucht. Ihr Tun und Treiben war planlos und vielfältig wie je, aber ihre stets gehegte Lieblingsvorstellung war: Crammon zu treffen, mit dem neuen Wissen ihm gegenüberzutreten, Rache an ihm zu üben, ihn herauszufordern und niederzuschmettern, kurz, über ihn zu triumphieren. Bisweilen, wenn sie allein war oder auch im Beisein von Fräulein Stöhr, die sich darüber erstaunt zeigte, furchte sich plötzlich die kindliche Stirn der Gräfin, ihre kleinen Fäuste ballten sich, ihr glattgescheuertes Gesicht wurde krebsrot, und ihre Vergißmeinnichtaugen blitzten kampfdurstig.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 240-244.
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