[244] Es war drei Uhr nachts, als Felix Imhof eine Gesellschaft in der Leopoldstraße verließ, wo hoch gespielt worden war. Er hatte einige tausend Mark gewonnen, und in seiner Manteltasche klirrten Goldstücke, die er achtlos hineingeschüttet hatte.
Er hatte auch viel getrunken; sein Kopf war schwer, bei den ersten Schritten in der frischen Luft taumelte er.
Heimzugehen hatte er trotzdem noch keine Lust; so trat er in ein Kaffeehaus, in welchem Künstler verkehrten. Er erwartete noch einige Leute zu finden, mit denen er schwatzen und streiten konnte. Der gelebte Tag war ihm noch nicht voll genug; es sollte noch mehr Leben hinein.
In dem verräucherten Lokal saßen nur zwei Menschen, der Maler Weikhardt, der vor kurzem aus Paris zurückgekehrt war, und ein andrer Maler, der ziemlich verlumpt aussah und trübsinnig auf die Tischplatte stierte.
Felix Imhof setzte sich zu ihnen, bestellte Kognak, schenkte den beiden ein, vermochte jedoch zu seinem Ärger kein Gespräch in Gang zu bringen. Er erhob sich und forderte Weikhardt auf, ihn zu begleiten. »Na, Sie oller Farbenreiber,« wandte er sich verächt lich-jovial an den Verlumpten, »bei Ihnen scheint der Spiritus ausgebrannt zu sein.«
Der Angeredete rührte sich nicht. Weikhardt zuckte die Achseln und sagte leise: »Nichts zu beißen, kein Bett zum Schlafen.«
Felix Imhof griff in die Manteltasche und warf ein paar Goldstücke auf den Tisch. Der Maler blickte empor, dann raffte er die Goldstücke zusammen. »Hundertsechzig Mark,« sagte er gelassen; »wird am Ersten zurückgezahlt.«
Imhof lachte dröhnend.
»Er glaubt daran,« bemerkte Weikhardt gutmütig, als sie auf die Straße traten; »wenn er nicht felsenfest daran glaubte, hätte er das Geld nicht genommen. Es sind noch elf Tage bis zum Ersten; eine Menge Platz für Illusionen.«[245]
»Mag sein, daß er daran glaubt,« erwiderte Imhof mit seinem trunkenen Lachen, »mag sein. Er glaubt ja auch, daß er existiert, und ist doch bloß ein trauriger Kadaver. Ihr Maler, o ihr Maler!« rief er tobend in die stille Nacht, »ihr spürt ja nicht das Leben. Malt mir doch das Leben, ihr Maler! Ihr hockt noch am Spinnrocken statt am gewaltigen Schwungrad mit sechzehntausend Pferdekräften. Malt mir doch meine Zeit! meine ungeheure Daseinswollust! Riecht, schmeckt, greift, schaut den Koloß! Laßt mich den großen Rhythmus fühlen, gestaltet mir meine grandiosen Träume, bestätigt mich, bejaht mich, schafft mir Leben!«
Weikhardt sagte lakonisch: »Dergleichen hab ich oft gehört zwischen Mitternacht und Morgengrauen. Wenn der Hahn kräht, gibt man sich wieder zufrieden, und jeder Gaul zieht den Karren, vor den er gespannt wird.«
Imhof blieb stehen, legte Weikhardt etwas theatralisch die Hand auf die Schulter und sah ihn mit seinen pechschwarzen, blutunterlaufenen Augen starr an. »Ich mache eine Bestellung bei Ihnen, Weikhardt,« sagte er. »Sie haben Talent; Sie sind der einzige hier, der von der Palette los kann. Porträtieren Sie mich. Es mag kosten, was es will, zwanzigtausend, fünfzigtausend, ganz gleich. Es mag dauern, solange es will, zwei Monate oder zwei Jahre. Aber mich müssen Sie mir zeigen, mich, mich. Abstrahieren Sie von dieser Geiernase, von dieser Habsburgerlippe, von diesen Gorillaarmen und Spinnenbeinen, von diesem Frack und diesem Chapeau claque und geben Sie die Idee davon. Ich pfeife auf meine zufällige Visage, die aussieht, als ob ein boshafter Töpfermeister dran herumgepfuscht hätte. Geben Sie meinen Ehrgeiz, meine Unruhe, meine innere Farbigkeit, mein Tempo, meinen Hunger, meine Zeithaftigkeit. Aber beeilen Sie sich. Ich verbrenne schnell. In ein paar Jahren bin ich hin. Meine Seele ist wie Zunder. Photographieren Sie diesen Prozeß mit dem göttlichen Objektiv der Kunst, und ich bezahle Sie mediceisch.[246] Aber ich muß die Flamme sehen, den Aufstieg, den Untergang, die Zuckungen, alles will ich sehen, und wenn darüber die ganze Tradition seit Raffael und Rubens in Fetzen ginge.«
»Sie sind ein kühner Mann,« sagte Weikhardt trocken; »haben Sie Geduld mit uns und mäßigen Sie die Bewunderung für das Jahrhundert. Ich lasse mich nicht von der Zeit übertölpeln. Die ehrfürchtigen Schauder vor der Geschwindigkeit und vor der Maschine kenn ich nicht, von denen viele unsrer jungen Leute jetzt befallen sind wie von einer neuartigen Epilepsie. Ich empfinde nun einmal keine Andacht vor Siebenmeilenstiefeln, D-Zügen, Dreadnoughts und aufgebauschten Impressionen; ich suche mir meine Götter woanders; und Ihr Maler, scheint mir, bin ich nicht. Sie waren wieder unterwegs, waren verreist?«
»Ich bin immer unterwegs,« versetzte Felix Imhof. »Eigentlich doll, so ein Leben. Hören Sie, wie ich die letzten fünf Tage verbracht habe. Montag abends fuhr ich nach Leipzig. Früh neun Uhr Verhandlung mit einigen Schriftstellern wegen Gründung einer neuen Revue. Prachtvolle Kerle, lauter Frondeure und Jakobiner. Dann Besichtigung einer Majolikenausstellung. Schöne Dinge gekauft. Mittags nach Hamburg; im Coupe zwei Romane und ein Drama in Handschrift gelesen; junges Genie, wird riesiges Aufsehen machen. Abends Sitzung der Ostafrikanischen Gesellschaft, bis spät in die Nacht gekneipt, zwei Stunden geschlafen, dann nach Oldenburg zu einem alten Herrenfest der Offiziere meines ehemaligen Regiments; viel geredet, getrunken, getanzt, wenn auch ohne Damen. Sechs Uhr morgens nach Quackenbruck, schäbiges Land- und Moorstädtchen, wo kleines Offiziersrennen gelaufen wurde. Ich wurde um einen Kopf geschlagen. Im zweiräderigen Jagdwagen zur Bahn; am andern Morgen Berlin; Geschäfte im Auswärtigen Amt erledigt, Agenten empfangen, in der Klinik einer merkwürdigen Operation beigewohnt, nach Johannisthal, wo ein neuer Flugapparat probiert[247] wurde, abends im Deutschen Theater bei einer fabelhaften Aufführung von Peer Gynt; die Nacht mit den Schauspielern durchgezecht; am Morgen nach Dresden, Konferenz mit zwei amerikanischen Freunden, und heute wieder hier. Die nächste Woche wird nicht viel anders sein, die übernächste auch nicht. Ich sollte mehr schlafen. Das ist das einzige.« Er fuchtelte mit seinem dicken Bambusrohr in der Luft herum.
»Es kann einem angst und bang werden,« sagte Weikhardt, dessen Phlegma augenscheinlicher wurde, da es sich im Gegensatz zur Exaltation seines Begleiters gefiel; »und Ihre Frau? Was sagt die zu Ihrem Leben? Jemand hat sie mir neulich gezeigt; sie sieht nicht so aus, als ließe sie sich ohne weiteres an die Mauer drücken.«
Imhof blieb wieder stehen. Mit gespreizten Beinen stand er da, bog den Oberleib nach vorn, stützte sich auf den Stock und lachte. »Meine Frau!« rief er, »wie das klingt! Ich habe also eine Frau. Ehrenwort, lieber Freund, wenn Sie mich nicht daran erinnert hätten, ich hätt es rein vergessen diese Nacht. Nicht als obs an ihr läge, gewiß nicht. Judith Imhof, geborene Wahnschaffe, alle Achtung. Aber es liegt, weiß der Deibel, woraus liegt ... na, an dieser gottverfluchten Hetzjagd vielleicht. Sie haben recht, an die Mauer drücken, nee, das gibts nicht bei ihr. Die schafft sich Raum, so –« er beschrieb mit dem Stock einen weiten Kreis – »und da drinnen residiert sie, kühl bis in die Fingerspitzen, gespannt wie ein Drahtseil. Eine großartige Natur; energisch; mit einem starken Sinn für das Dekorative. Respekt, mein Lieber.«
Weikhardt wußte hierauf nichts zu sagen. Die Mischung von Prahlerei und Ironie, von Zynismus und Rausch entwaffnete und ermüdete ihn. Sie waren an einer Seitengasse angelangt, die gegen den Englischen Garten führte und in der das Häuschen stand, das der Maler bewohnte. Er wollte sich verabschieden, da fragte Imhof, der noch immer nicht allein sein mochte: »Haben Sie was auf der Staffelei?«[248]
Weikhardt zögerte mit der Antwort; dies genügte, um Imhof zum Mitgehen zu veranlassen. Der Himmel wurde weiß.
Felix Imhof rezitierte leise vor sich hin: »Wo am letzten Rastort Reiter / Und geschmückter Züge Leiter / Spähen nach erreichten Zinnen: / Stillen Wanderer ihr Dürsten / Bieten Wasserträgerinnen / Ihm den Krug und grüßen heiter / Niemand kennt den frühern Fürsten.«
Weikhardt, der Imhof in der Kenntnis und Liebe des Dichters Stephan George nichts nachgab, fuhr im selben zärtlichen Tonfall fort: »Lachend dankbar. Kein Erbittern / Ist in ihm, doch flieht er weiter /Scheu, weil Seine Hoheit bricht. / Jede Nähe macht ihn zittern, / Und er fürchtet fast das Licht.«
Sie betraten das Atelier; Weikhardt zündete die Lampe an und ließ ihren Schein auf ein nicht ganz vollendetes Bild fallen. Es war eine Kreuzabnahme.
»Altmodisch, was?« fragte Weikhardt mit schlauem Lächeln. Er war blaß geworden.
Imhof schaute. So wie er, Liebhaber im innersten Grund, verstand keiner sonst zu schauen. Die Maler wußten es.
Das Gemälde, an die Visionskraft und den Pinsel Grecos gemahnend, war bizarr im Aufbau, inbrünstig in der Bewegung und von ekstatischer Leidenschaft erfüllt; die Formensprache eines alten Meisters, in der es sich ausdrückte, war nur Schein. Es hatte etwas Hingeschleudertes und Brennendes. Die Figuren, ohne Veraltetes und Phrase, sahen aus wie Wolken, die Wolken wie Architektur, Dinge waren kaum noch da. Ein Chaos, das zu Sinn und Ordnung erst in der gesammelten Empfindung des Beschauers gedieh.
Felix Imhof schlang die Hände ineinander und murmelte: »So etwas können, großer Gott, so etwas können!«
Weikhardt senkte den Kopf. Er legte diesem Wort geringe Bedeutung bei. Vor ein paar Tagen war er einmal vor der Leinwand gestanden und hatte sich eingebildet, neben ihm[249] stehe ein Bauer; ein alter Bauer oder sonst ein Mann aus dem Volk. Und es hatte ihm möglich geschienen, daß dieser Bauer, dieser einfache Mensch, der nichts von Kunst verstand, niederkniete, um zu beten. Nicht etwa aus Frömmigkeit, sondern weil er von der Sache selbst bis zur Bestürzung überwältigt wurde.
Beinahe schroff wandte sich Imhof an den Maler und sagte: »Das Bild gehört mir. Unter allen Umständen. Es ist mein Bild. Ich muß es haben. Gute Nacht.« Mit seinem schiefsitzenden Zylinder und dem übernächtigen, verwüsteten Gesicht war er eine Gestalt zum Erschrecken.
Endlich ging er nach Hause.
Am andern Tag meldete ihm Crammon seine Ankunft. Crammon war gekommen, weil Edgar Lorm ein Gastspiel in München gab.
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