14

[283] Das Haus, das Eva bewohnte, lag unfern vom Strand. Es war ein alter Herrensitz; Wilhelm von Oranien hatte es erbaut; bis vor wenigen Jahren hatte es der verstorbenen Herzogin von Leuchtenberg gehört.[283]

In den von mächtigen Quadern umschlossenen Räumen fühlte sich Eva wohl. Bei Tag und Nacht vernahm sie das langgezogene Rauschen des Meeres. Sooft sie ein Buch aufschlug, um zu lesen, ließ sie es alsbald wieder sinken und lauschte.

Sie schritt durch die Zimmer mit den alten Möbeln und dunklen Gemälden, froh, sich selbst zu besitzen und ohne Qual den erwartend, der dann kam. Sie begrüßte ihn mit halbgeschlossenen Augen und mit dem Lächeln einer, die sich ergeben hat.

Susanne übte auf einem Klavier mit sordinierten Saiten. Wenn sie ihr Pensum beendigt hatte, verkroch sie sich und blieb verschwunden.

Christian und Amadeus Voß hatten sich in einer benachbarten Villa eingemietet, Voß im Erdgeschoß, Christian oben. Voß, da Christian ihn nicht forderte und hielt, ging am Morgen fort und kehrte am Abend, auch spät in der Nacht, zurück. Wo er gewesen war, was er gesehen und erlebt, darüber schwieg er.

»Einen Menschen wie mich, darf man nicht von der Kette nehmen,« sagte er am Morgen des dritten Tages zu Christian, während sie frühstückten. »Ich schlafe einen andern Schlaf, ich atme einen andern Atem. Meine Seele rast irgendwo herum, ich bin auf der Jagd nach ihr. Erst muß ich sie eingefangen haben, dann werd ich vielleicht wissen, was mit mir los ist.«

»Wir sind heute abend zum Souper bei Eva Sorel gebeten,« sagte Christian, ohne aufzublicken.

Voß machte eine ironische Verbeugung. »Dies Souper sieht für mich verdammt nach Gnadenbrot aus,« erwiderte er bissig. »Spür ich doch den Widerstand gegen mich und die Fremdheit in Fleisch und Knochen. Es ist eine ziemlich überflüssige Komödie. Was soll ich dort? Fast alle reden französisch. Ich bin ein Kleinstädter, ich bin ein Dörfler, und die[284] Lächerlichkeit, die mir anhaftet, ist schlimmer, als wenn ich ein Mörder und Brandstifter wäre. Vielleicht entschließ ich mich zu Mord und Brandstiftung, um nicht mehr lächerlich zu sein; wer weiß.« Er öffnete den Mund zum Lachen, es kam aber kein Ton heraus.

»Mich wundert es, Amadeus, daß Sie mit Ihren Gedanken nicht von dem einen Punkt loskommen,« sagte Christian. »Glauben Sie wirklich, daß es ein so wichtiger Punkt ist, der allein den Ausschlag gibt? Niemand kümmert sich darum, ob Sie reich oder arm sind. Da Sie in meiner Gesellschaft auftreten, genießen Sie volle Gleichberechtigung, und es wäre einfach schlechter Ton, wenn irgendwer dagegen verstoßen würde. Die Gefühle, die Sie äußern, erzeugen Sie in sich selber, und, wie mir scheint, mit einer Art von Freude. Es macht Ihnen Freude, sich zu quälen, und dann rächen Sie sich an den andern. Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Offenheit nicht übel.«

Amadeus Voß grinste. »Man möchte Ihnen manchmal die Wange tätscheln wie ein Schulmeister,« antwortete er geduckt; »das haben Sie brav gemacht, Christian Wahnschaffe, möchte man sagen. Ja ja, es war entschieden brav; brav geladen, brav geschossen, bloß schlecht gezielt. Um mich zu treffen, müssen Sie besser zielen. Eines ist wahr, die Krankheit sitzt in mir; viel zu tief, als daß sie durch ein paar billige Weisheitssprüche zu heilen wäre. Wenn mir dieser russische Fürst oder dieser spanische Legationsrat die Hand reicht, ist mir zumute, als hätt ich Banknoten gefälscht und die Sache könnte jeden Moment entdeckt werden. Wenn diese Dame an mir vorübergeht, mit ihrem unbeschreiblichen Duft und dem Rauschen von Gewändern, da schwindelt mir, als hing ich sechshundert Meter hoch über einem Abgrund, und alles in mir krümmt sich und stöhnt vor Niedrigkeit und Zertretenheit. Es krümmt sich, es krümmt sich, wie soll ichs ändern? In diesem Zeichen bin ich nun einmal geboren. Es ist nicht meine[285] Welt, es kann nicht meine werden. Die Unteren müssen verbluten, die Oberen finden es in der Ordnung so. Ich gehöre zu den Unteren, zu denen, welchen man zuruft: Poche nur, du trüber Geist, zu denen, die man riecht wie faules Fleisch, die man meidet, die mit ewig eiternder Wunde herumgehen; zu denen gehöre ich, das ist mein Gesetz, und darüber haben Sie keine Macht, dagegen hilft keine Übereinkunft. Es ist nicht meine Welt, Wahnschaffe, und wenn Sie nicht wollen, daß ich den Verstand verliere und Unheil anrichte, so führen Sie mich tunlichst bald wieder aus ihr heraus oder schicken Sie mich fort.«

Christian, mit den Fingerspitzen über die Stirn streichend, sagte: »Geduld, Amadeus. Ich glaube, es ist auch meine Welt nicht mehr. Lassen Sie mir noch ein wenig Zeit, ich muß mir das alles erst zurechtlegen.«

Vossens Blick war saugend auf Christians Hand und Lippen geheftet. Die Worte waren ruhig hingesprochen, beinahe kühl, dennoch war etwas schwer Ringendes in ihnen, ein Ausdruck, der Voß bezwang. »Daß man dieses Weib verläßt, wenn man einmal bei ihr ist, will mir nicht einleuchten,« murmelte er mit tückischem Lauern um den Mund; »es sei denn, sie setzt einen vor die Tür.«

Christian konnte sich einer Bewegung des Widerwillens nicht enthalten. »Auf heute abend also,« beendete er das Gespräch und ging.

Eine Stunde später sah Amadeus Voß Christian und Eva am Strand. Er kam von den Dünen her, sie gingen unten, über den Schaum der letzten Wellen. Er blieb stehen, deckte die Hand über die Brille und schaute aufs Meer hinaus, als gewahre er weit draußen ein Segel. Jene sahen ihn nicht. In einem Gleichschritt, wie ihn das bewährte Einverständnis der Körper verleiht, wanderten sie dahin. Nach einer Weile blieben auch sie stehen, eng beieinander, und waren wie zwei dunkle, schlanke Säulen ins Lichtgrau von Luft und Wasser geschnitten.[286]

Voß warf sich in das klirrende Gras und wühlte die Stirn in den Sand. So lag er viele Stunden lang.

Es kam der Abend. Das große Ereignis war, daß Eva unter ihren Gästen mit dem Diamanten Ignifer im Haar erschien. Sie trug ihn in einem kunstvoll gearbeiteten Platingestell, und er leuchtete über ihrem Haupt, abgelöst und radial entbrannt, eine geisterhafte Flamme.

Sie fühlte ihn mit jedem Herzschlag; er war ein Teil von ihr, ihre Rechtfertigung, ihre Krone. Er war nicht mehr Schmuck; er war ein aufstrahlendes und alle sofort überzeugendes Sinnbild.

Einige Sekunden lang herrschte ein fast bestürztes Schweigen. Die schöne Beatrix Vanleer, eine belgische Bildhauerin, schrie vor Erstaunen und Bewunderung laut auf.

Da verschwand das zart-trunkene Lächeln aus Evas Gesicht, und ihre Augäpfel drehten sich in die Winkel. Ihr Blick war auf Amadeus Voß gefallen. Dessen Gesicht war bläulichweiß.

Der Mund war halb offen wie bei einem Blöden, der Kopf brutal vorgestreckt, die herabhängenden Arme zuckten. Er trat langsam näher, die Augen stier auf den unsäglich glühenden Edelstein gerichtet. Die rechts und links von ihm standen machten ihm erschrocken Platz. Eva wendete das Gesicht von ihm und wich zwei Schritte zurück, Susanne tauchte neben ihr auf und breitete schützend die Arme aus, im selben Moment ging Christian auf Amadeus Voß zu, ergriff ihn bei der Hand und zog den stumm Gehorchenden aus dem Kreis.

Christians Haltung und Miene hatten etwas unmittelbar Beruhigendes für alle Anwesenden, und es begann auch, wie wenn nichts geschehen wäre, ein lebhaftes und angeregtes Gespräch.

Voß und Christian standen auf dem steinernen Balkon. In tiefen Zügen atmete Voß die Salzluft ein. Er fragte heiser: »Ist das der Ignifer?«[287]

Christian nickte. Er horchte gegen das Meer. Die Wogen donnerten wie von einem Berg stürzende Blöcke.

»Nun hab ich das Geschlecht begriffen,« murmelte Voß, und der Krampf in seinem Gesicht löste sich unter dem Einfluß von Christians Nähe. »Ich habe Mann und Weib begriffen. In diesem Diamanten sind eure Tränen und eure Schauder eingeschlossen, eure Wollust und eure Finsternis. Loskauf, Blendwerk, unseliges Blendwerk; Fetisch, verfluchter Fetisch! Wie ich eure Nächte spüre, Wahnschaffe, wie ich alles weiß und sehe von Ihnen und ihr, seit ich dies gleißende Mineral erblickt habe, das der Herr aus Schleim geschaffen hat wie mich und euch beide. Es ist ohne Schmerz; irdisch und ganz und gar ohne Schmerz, rein geglüht und gnadenlos. Mein Gott, mein Gott, und ich, und ich!«

Der ihm unverständliche Ausbruch erschütterte Christian. Seine Gewalt fegte den Unwillen hinweg, den die schamlose Beredsamkeit Vossens in ihm entfacht hatte. Er horchte gegen das Meer.

Voß raffte sich zusammen. Er trat an die Brüstung und sagte auffallend gefaßt: »Sie haben mir heute Geduld angeraten. Was wollten Sie damit? Es hat so allgemein und vieldeutig geklungen wie das meiste, was ich von Ihnen zu hören bekomme. Von Geduld zu reden, ist auf jeden Fall bequem. Es ist ein Luxus, den Sie sich gestatten, ein Luxus wie jeder andere, nur weniger kostspielig. Kein hassenswerteres und verächtlicheres Wort als Geduld. Es ist ein Lügenwort. Genau besehen, heißt es Feigheit, Trägheit. Was haben Sie denn vor?«

Christian gab keine Antwort, oder vielmehr, er nahm seine Antwort als gegeben an und stellte nach geraumer Weile und aus versunkenem Sinnen die Frage: »Glauben Sie, daß es etwas nützt?«

»Ich verstehe nicht ...« sagte Voß und sah ihn an. »Was: nützen, wie: nützen?«[288]

Aber Christian äußerte sich nicht weiter darüber.

Voß wollte nach Hause gehen, doch Christian bat ihn, zu bleiben. Sie kehrten zurück und gingen mit den andern in den Speisesaal.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 283-289.
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