[303] Christian konnte nicht sein ohne Eva. Wenn er sie für kurze Zeit verließ, wurde es dunkel um ihn.
Von ihm zu ihr war alles wie Abschiednehmen. Ging er an ihrer Seite, so war es wie zum letztenmal. Jedes Händereichen und Tauschen von Blicken hatte den Schmelz und Schmerz des letzten Mals.
Demgemäß war auch seine Liebe zu ihr beschaffen. Es war eine anklammernde, darbietende, geduldige, nicht selten sogar gehorsame Liebe.
Es drückte sich in der Art aus, wie er ihr den Mantel hielt, in den sie schlüpfte; wie er ihr das Glas gab, aus dem sie zu trinken verlangte; wie er ihr den Arm zur Stütze ließ, wenn sie müde war; wie er auf sie wartete, wenn sie später an einen Ort kam als er.
Sie spürte es oft, und sie fragte ihn. Er wußte nicht darauf zu antworten. Er hätte vielleicht seine Empfindung des Abschieds ungefähr umschreiben können, aber was dann kommen sollte, nach dem Abschied, hätte er nicht zu sagen vermocht.
Es war ihm auch klar, daß es sich nicht allein um den Abschied von ihr handelte, sondern von allem, was ihm bisher teuer, angenehm und unentbehrlich gewesen war. Aber sonst begriff er nichts, hatte keinen Plan und grübelte auch nicht über einen.
Er war so ohne Begehrlichkeit und Forderung, daß sich Eva zu hundert Wünschen hinreißen ließ und zornig wurde, wenn keiner unerfüllt blieb. Sie wollte aufs Meer; er mietete eine Jacht, und sie fuhren vierzehn Tage lang auf dem Atlantischen Ozean umher. Sie hatte Sehnsucht nach Paris, und er fuhr mit ihr im Auto nach Paris. Sie speisten bei Foyot in der Rue de Tournon, wohin sie ihre Freunde, Schriftsteller, Maler, Musiker bestellt hatte, und am andern Tag kehrten sie zurück. Es wurde von einem Schloß in der Normandie[304] gesprochen, das wie ein Traum vom frühen Mittelalter sei. Sie wollte es sehen, bei Mondschein wollte sie es sehen, und die Reise wurde angetreten, als es Vollmond war und auf wolkenlose Nächte gehofft werden konnte. Dann lockte die Kathedrale von Rouen; dann die berühmte Rosenzucht, die ein Baron Zerkaulen in der Nähe von Gent besaß; dann ein Ausflug in die Ardennen; dann ein Sonnenuntergang an der Zuidersee; dann ein Spazierritt im Park von Richmond; dann ein Rembrandt im Haag; dann ein festlicher Umzug in Antwerpen.
»Wirst du niemals müde?« fragte Christian eines Tages mit seinem unbestimmten Lächeln, das wie Falschheit wirkte.
Eva antwortete: »Die Welt ist groß, die Jugend ist kurz. Das Schöne will zu mir, für mich ist es da, ohne mich stirbt es. Seit ich den Ignifer besitze, ist mein Hunger gar nicht mehr zu stillen. Er leuchtet über meine Erde und macht mir alle Wege leicht. Du siehst nun, was du getan hast, Lieber.«
»Hüte dich vor dem Ignifer,« sagte Christian mit demselben, scheinbar verschlagenen Lächeln.
»Fjodor Szilaghin ist angekommen,« sagte Eva, und ihre Lider senkten sich schwer.
»Es sind ja so viele da,« erwiderte Christian; »ich kenne die meisten nicht.«
»Du siehst keinen, aber alle sehen dich,« sagte Eva. »Alle staunen dir nach. Alle fragen: Wer mag der Schlanke, Vornehme sein, mit den weißen Zähnen und blauen Augen, wer mag es sein? Hörst du nicht das Gewisper? Sie machen mich eitel.«
»Was wissen sie von mir? Laß sie doch.«
»Die Frauen erbleichen, wenn du kommst. Gestern sah ich auf der Promenade eine junge Blumenverkäuferin, eine Flamin. Sie schaute dir nach, und dann fing sie an zu singen. Hast dus nicht gehört?«
»Nein. Was war es für ein Lied?«[305]
Eva verdeckte die Augen mit der Hand und sang leise, mit halb leidvollem, halb schalkhaftem Ausdruck um den Mund: »Où sont nos amoureuses? /Elles sont au tombeau / Dans un séjour plus beau /Elles sont heureuses / Elles sont près des anges / Au fond du ciel bleu / Où elles chantent les louanges /De la Mère de Dieu. / Es griff mir an die Seele, und ich haßte dich eine Minute lang. Wieviel Empfindung strömt aus Menschenherzen und findet kein Gefäß!«
Plötzlich erhob sie sich: »Fjodor Szilaghin ist da,« sagte sie mit brennendem Blick.
Christian ging zum Fenster. »Es regnet,« sagte er.
Da verließ Eva das Zimmer, indem sie mit erstickter Stimme sang: »Où sont nos amoureuses? / Elles sont au tombeau.«
Am Abend gingen sie den Strand hinab. »Ich habe das Fräulein Gamaleja gesehen,« erzählte Eva. »Fjodor Szilaghin hat sie mir vorgestellt. Sie ist seine Geliebte. Eine Tatarin. Schön wie eine Giftschlange. Seltsam wie unbekannte Landschaften, die man träumt. Sie maß mich, und wir rangen heimlich miteinander. Wir sprachen von Marie Bashkirtseff und ihrem Tagebuch. Sie meinte, solche Wesen müßten bei der Geburt erdrosselt werden. Aber ich seh dirs an, mein armer Freund, daß du nicht weißt, wer Marie Bashkirtseff war. Nun, eine von den Frauen, die um ein Jahrhundert zu früh gelebt haben und die erfrieren müssen wie Blumen im Februar.«
Christian schwieg. Er dachte an die Gesichter der toten Fischer, die er in der Nacht zuvor gesehen.
»Fräulein Gamaleja brachte mir aus London Grüße vom Großfürsten,« fuhr Eva fort. »Er wird in einer Woche hier sein.«
Christian schwieg. Zwölf Frauen und neunzehn Kinder waren um die Leichen der Fischer herumgestanden, alle dürftig gekleidet, alle in eisigen Schmerz versunken.
Als sie weiter gingen und sich vom Lärm der Wogen entfernten,[306] sagte Eva: »Warum lachst du nicht? Hast du das Lachen verlernt?« Es war wie ein Aufschrei.
Christian schwieg.
»Morgen ist Jahrmarkt in Dudzeele,« sagte Eva hastig und griff nach ihrem Schleier, der in der Luft wehte, »komm mit mir nach Dudzeele. Pulcinell spielt. Wir wollen lachen, Christian, wir wollen lachen.«
»In der letzten Nacht war ein Sturm,« berichtete Christian; »du weißt es, wir waren ja lange in den Dünen oben. Gegen Morgen bin ich noch einmal an den Strand gegangen, denn ich konnte nicht schlafen. Gerade als ich kam, trugen sie die angeschwemmten Leichen von den Fischern weg. Drei Boote waren in der Nacht zerschellt, ganz nah vom Molo, man hatte ihnen keine Hilfe bringen können. Sieben Männer trugen sie auf Bahren in die Totenkammer. Einige Leute gingen mit, lauter armes Volk, und da ging ich auch mit. Dort in der Totenkammer brannte eine Laterne, und wie sie die nassen Leichen hinlegten, sammelte sich eine Menge Wasser an. Über die Gesichter der Ertrunkenen waren die Mäntel gebreitet, und von den Frauen sah ich nur eine einzige weinen. Sie war so häßlich wie ein morscher Baumstrunk, aber als sie weinte, war alle Häßlichkeit verschwunden. Warum soll ich lachen, Eva? warum soll ich lachen? Ich muß an die Fischer denken, die Tag um Tag auf dem Meere draußen ihr Brot verdienen. Warum soll ich da lachen? Gerade heute?«
Eva drückte ihren Schleier mit beiden Händen an die Wangen.
Im Ton der Unerheblichkeit, den er nie steigerte, fuhr Christian fort: »Gestern zeigten sie mir in einer Bar, Wiguniewski und Botho Thüngen, einen fünfzigjährigen Mann, einen ehemaligen Opernsänger, der berühmt gewesen war und viel Geld verdient hatte. Er war den Tag vorher auf der Straße zusammengebrochen, und zwar aus Hunger. In seiner Tasche befanden sich aber zwanzig Franken. Als man ihn[307] fragte, weshalb er seinen Hunger nicht gestillt habe mit Hilfe dieser zwanzig Franken, antwortete er, das Geld habe er als Reisevorschuß erhalten; er sei in einem Kabarett in Havre engagiert; nach monatelangen Bemühungen sei es ihm gelungen, den Posten zu bekommen, doch koste die Fahrt bis Havre fünfunddreißig Franken, und seit sechs Tagen war er unaufhörlich unterwegs gewesen, um die fehlenden fünfzehn Franken zusammenzuscharren. Jeder Versuchung, die zwanzig Franken anzutasten, die er bei sich getragen, habe er widerstanden, denn er habe genau gewußt, daß sein Leben, wenn er nur einen einzigen Centime davon nahm, endgültig zerstört sei. An jenem Tag war auch der Termin verstrichen, an dem er in Havre hätte sein müssen, und er ging später zu dem Agenten und gab ihm das Geld zurück. Den Mann haben sie mir gezeigt. Er saß mit aufgestützten Armen bei einer leeren Tasse. Als ich mich zu ihm setzen wollte, war er schon fort. Er war auch nicht mehr zu finden. Warum soll ich lachen, Eva, während ich an so etwas denken muß? Verlang nicht von mir, gerade heute, daß ich lachen soll.«
Eva sagte nichts. Aber als sie zu Hause waren, stürzte sie wie außer sich in seine Arme und rief: »Ich will dich küssen.«
Sie küßte ihn und biß ihn dabei so heftig in die Lippe, daß das Blut hervorquoll.
»Geh jetzt,« sagte sie mit fortweisender Gebärde, »geh. Und morgen, vergiß es nicht, wollen wir zum Jahrmarkt nach Dudzeele.«
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
|
Buchempfehlung
Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?
58 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro