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[308] Sie fuhren zum Jahrmarkt und drängten sich bis zu dem kleinen Marionettentheater durch. Die Bänke waren von Kindern dicht besetzt; um die Bankreihen standen Kopf an Kopf die Erwachsenen. Vom Hafen herüber zogen die Gerüche von Maschinenöl, Leder und gesalzenem Hering, in der Luft[308] widerhallten die Mißtöne von allerlei Musik und die Stimmen der Ausrufer.

Christian bahnte eine Gasse für Eva; die Leute machten halb widerwillig, halb verwundert Platz. Mit heiterer Spannung verfolgte Eva das Spiel. Seit Kinderzeiten liebte sie solche Schaustellungen, und auf die Jahre der Verschollenheit warfen sie einen reizvoll-schwermütigen Glanz.

Der Pulcinell, in der Rolle des geprellten Bauernfängers, mußte erkennen, daß keine Schlauheit gegen den Zauber guter Feen etwas vermag. Seine Einfalt war zu witzig und seine Niederlage zu wohlverdient, um Mitleid zu erwecken. Der Regen von Prügeln, unter dem er endete, war ein befriedigender Sieg der Moral.

Eva klatschte in die Hände und freute sich wie die Kleinsten. »Lachst du nicht, Christian?« fragte sie.

Und Christian lachte. Nicht so sehr über die Albernheiten des Schelms, als weil ihn Evas Lachen bezwang.

Als der Vorhang sich über die kleine Bühne gesenkt hatte, ließen sie sich vom Strom der Lustbarkeiten weiter tragen. Es bildete sich aber hinter ihnen ein Schwanz von Nachläufern; Gewisper ging von Mund zu Mund, und einer machte den andern auf Eva aufmerksam. Insbesondere ein paar junge Mädchen waren hartnäckig in der Verfolgung der apart gekleideten Fremden. Eva trug einen Hut mit Rosen und einen seidenen Mantel, der blau war wie das Meer in der Sonne.

Eines der jungen Mädchen hatte sich einen Fliederstrauß verschafft, und auf dem Platz vor einer Schenke überreichte sie ihn der Verehrten mit zierlichem Knicks. Eva dankte ihr und neigte das Gesicht über die Blumen, da schlossen fünf oder sechs Mädchen einen Ring um sie, faßten sich bei den Händen und drehten sich im Kreise, wobei sie eine übermütige Melodie trällerten.

»Nun bin ich gefangen,« rief Eva munter zu Christian hinüber, der außerhalb des Kreises geblieben war und sich[309] die spöttischen Blicke der Mädchen gefallen lassen mußte.

»Nun bist du gefangen,« antwortete er und suchte Verständigung mit der Fröhlichkeit der Zuschauer.

An der Treppe, die zur Schenke führte, stand ein betrunkener Mensch, der mit unerklärlichem Ingrimm beobachtete, was zwischen Eva und den Mädchen geschah. Zuerst erging er sich in wüsten Beschimpfungen, und als sich niemand darum kümmerte, geriet er in tätliche Wut. Er hob einen faustgroßen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn gegen die Gruppe der Mädchen. Diese schrien erschrocken; einige duckten sich, einige wichen hastig aus. Der Stein fuhr hart am Arm derjenigen vorüber, die die Blumen gespendet hatte, und traf im Niederfallen Evas beide Füße.

Eva verfärbte sich und preßte die Lippen aufeinander. Ein paar Männer stürzten auf den Betrunkenen los, der mit drohend erhobenem Arm in die Schenke taumelte. Auch Christian lief zu der Treppe hin, kehrte aber auf halbem Weg um, denn sich Evas anzunehmen, schien wichtiger. Die Mädchen hatten sich um sie geschart, befragten, beklagten sie, er schob sie beiseite.

»Kannst du gehen?« fragte er. Sie bejahte mit angestrengt beherrschter Miene, hinkte aber, als sie zu gehen versuchte. Da hob er sie auf den Arm und trug sie zum Auto, das in geringer Entfernung hielt. Die Mädchen waren nachgelaufen und winkten beim Abschied mit Tüchern; aus der Schenke drang Geschrei.

»Pulcinell ist rabiat geworden,« sagte Eva lächelnd und verbiß ihren Schmerz. »Es ist nichts, Liebling,« flüsterte sie nach einer Weile, »es vergeht; sei unbesorgt.« Sie fuhren mit hundert Kilometer Geschwindigkeit.

Eine halbe Stunde später saß sie in einem Zimmer der Villa in einem Fauteuil, und Christian kniete vor ihr und hielt ihre beiden nackten Füße in seinen Händen.

Susanne war angstverstört herbeigelaufen, hatte Ratschläge[310] gestammelt, von denen einer dem andern widersprach, hatte die Leute zusammengerufen und aufgeregt nach dem Arzt verlangt, hatte der Herrin Schuhe und Strümpfe abgerissen und mit weiten Augen voll Entsetzen die roten Flecke betrachtet, die von dem Steinwurf herrührten. Schließlich hatte Eva sie zur Ruhe verwiesen und aus dem Zimmer geschickt.

»Es tut fast nicht mehr weh,« sagte Eva und schmiegte die nackten Füße wohlig in Christians trocken-kühle Hände.

Die Zofe brachte ein Becken mit Wasser und zwei Tücher für Umschläge.

Christian hielt und betrachtete die beiden nackten Füße, diese herrlichen Werkzeuge, vergleichbar den Händen eines großen Malers oder den Schwingen eines weit- und hochfliegenden Vogels. Indem er sich noch an der Form erfreute, der Klarheit der Muskulatur, der vollendeten Wölbung, den rosigen Zehen und durchsichtigen Nägeln, kam eine innere Aufmerksamkeit über ihn, und es sprach jemand: Da kniest du, Christian, da kniest du. Ja, ich knie, antwortete er im stillen und nicht ohne eine gewisse Bestürzung, warum sollt ich nicht? Er begegnete den Blicken Evas, und der lustvolle Glanz in ihren Augen vermehrte seine Bestürzung.

Eva sagte: »Deine Hände sind gute Doktoren, und daß du vor mir kniest, ist wunderbar, mein süßer Freund.«

Die Dämmerung war eingebrochen; vor den Fenstern, zwischen leise bebenden Gardinen, strahlte der Abendstern.

»Was findest du so wunderbar daran, daß ich knie?« fragte Christan stockend.

Eva schüttelte den Kopf. »Ich liebe es eben,« erwiderte sie, und ihre halbgelösten Haare fielen auf die Schultern. »Ich liebe es eben,« wiederholte sie, legte die Hände auf seinen Scheitel und drückte sein Haupt tiefer hinab. »Ich liebe es eben.«

Da kniest du ja, hörte Christian abermals. Und er sah einen Waschkrug mit abgebrochenem Henkel; und ein schiefes[311] Fenster mit einem Schneerand in der Rille; und einen einzelnen Stiefel mit einer Kotkruste an der Sohle und einen Strick, der von einem Balken herunterhing, und eine Petroleumlampe mit geschwärztem Zylinder. Nur Dinge, niedrige und armselige Dinge.

»Sind es viele, vor denen du schon gekniet hast wie einer, der anbetet?« fragte Eva.

Er antwortete nicht, und ihre nackten Füße wurden schwer in seinen Händen. Die sinnliche Empfindung, die sie ihm durch ihre Wärme, ihre Glätte, ihre triebartige Beweglichkeit eingeflößt hatten, verschwand und machte einem Gefühl Platz, das aus Furcht, Scham und Trauer gemischt war. Diese menschenhaften Gebilde, diese Füße einer Tänzerin, Glieder einer geliebten Frau, das Seltenste und Kostbarste der Welt, schienen ihm auf einmal häßlich und abstoßend, und jene niedrigen und armseligen Dinge, der Krug mit dem abgebrochenen Henkel und der grünen Bemalung, das schiefe Fenster mit dem Schneerand, der Stiefel mit der Kotkruste, der Strick, der vom Balken hing, und das Lämpchen mit dem berußten Zylinder waren dagegen schön und verehrenswert.

»Sprich, sind es viele, vor denen du gekniet hast?« vernahm er Evas beinahe angstvoll zärtliche Stimme, und ihm dünkte, Iwan Becker antwortete für ihn: »Daß Sie vor ihr niedergekniet sind, das war es, das allein. Das andre, darin lag Verhängnis und Bitterkeit. Aber daß Sie hingekniet sind, das, ja das.«

Er atmete tief, mit geschlossenen Augen und war bleich. Und jetzt erlebte er deutlicher, näher und wahrer jene Stunde des Schicksals. Er spürte den Kuß Beckers auf seiner Stirn, und er begriff den Sinn davon. Er begriff die fieberhaften Verwandlungen des bösen Gewissens, daß er selbst zum Krug, zum Fenster, zum Stiefel, zum Strick und zum Lämpchen geworden war, bloß um zu fliehen und Zeit zu gewinnen; und daß er, im Wechsel von Gestalt zu Gestalt, die Menschen[312] wohl gesehen und gehört, den Bettler, das Weib, Iwan Michailowitsch, die kranken, halbnackten Kinder, daß es aber dabei sein innigstes Bemühen gewesen, sie noch von sich abzuhalten, eine kleine Weile noch, ehe sie mit ihrer Qual, ihrer Verzweiflung, ihrer Besessenheit und ihrer Grausamkeit über ihn stürzten wie die wilden Hunde über ein Stück Fleisch.

Die Frist war verstrichen. Er erhob sich mit einem Ausdruck von Eile und Festigkeit. »Entlasse mich, Eva,« sprach er zu ihr; »schick mich fort. Es ist besser, du schickst mich fort, als daß ich mich losringen muß, Schritt um Schritt, Riß um Riß. Ich kann nicht bei dir bleiben, ich kann für dich nicht sein.« In diesem Augenblick fühlte er die Liebe zu ihr wie einen Flammensturm, und er hätte sein Herz dafür ausgerissen, wenn er das Gesagte wieder ungesagt hätte machen können.

Eva schnellte pfeilrasch auf. Regungslos stand sie da und packte mit den Händen Strähne ihres Haars.

Er trat ans Fenster. Er erblickte den ganzen Raum des Himmels vor sich, den Abendstern und das bewegte Meer. Und er wußte, daß dies alles täuschte, dieser Frieden, dieser blitzende Stern, die leicht phosphoreszierende Flut, daß es nur ein Gewand war, ein bemalter Vorhang, und daß man sich nicht davon beruhigen lassen durfte. Dahinter war Schrecken und Furchtbarkeit, dahinter war unergründlicher Schmerz. Er begriff, er begriff.

Er begriff die Tausende und Tausende am Ufer des Stroms, ihr finsteres Schweigen. Er begriff die Tochter des Schiffers, die geschändeten Leibes auf schlechtem Linnen lag. Er begriff den Todeswillen Adda Castillos. Er begriff Jean Cardillacs trübsinniges Herumirren und seinen Kummer über Weib und Kind. Er begriff den siebzigjährigen Wollüstling, der hinter Klostergittern schrie: Was soll ich tun, Herrgott, und du, mein Heiland, was soll ich tun? Er begriff den taubstummen Dietrich, der sich ertränkt hatte; er begriff Beckers[313] Hinweis auf den nassen Mantel und Franz Lothars Entsetzen über die Leichname, die sich umschlungen hielten; er begriff Amadeus Vossens lechzenden Hunger und das Wort vom Silberstrick und von der Ölflasche. Er begriff den versteinerten Gram der Fischerweiber, und er begriff den Opernsänger mit seinen zwanzig Franken in der Tasche.

Er begriff, er begriff.

»Christian,« rief Eva mit einem Ton, als spähe sie in die Finsternis.

»Es ist Abend geworden,« sagte Christian bebend.

»Christian!« rief Eva.

Er gewahrte plötzlich Amadeus Voß, der draußen aus dem Dunkel von Bäumen trat und auf ihn gewartet zu haben schien, denn er machte lebhafte Zeichen gegen das Fenster. Mit hastigem Gruß verließ er das Zimmer.

Sie schaute ihm nach, ohne sich zu rühren.

Ein wenig später ging sie, die noch schmerzenden Füße vergessend, in ihr Ankleidegemach, öffnete die Schmuckkassette, nahm den Ignifer heraus und betrachtete ihn lange und mit grübelndem Ernst.

Dann steckte sie den Stein ins Haar und trat vor den Spiegel: kühl am Leibe, blassen Gesichts, ruhigen Auges. Sie verschränkte die Arme und blieb im Anschauen verloren.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 308-314.
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