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[327] Am andern Tag erhielt Christian eine Depesche von Crammon, worin ihm dieser für die Mitte der Woche seine Ankunft meldete. Er starrte versonnen auf das Papier und mußte sich das Bild Crammons erst Zug für Zug aus der Erinnerung zusammensetzen. Gleich darauf vergaß er es wieder.

Bei Fjodor Szilaghin hatten sich ungefähr zwanzig Personen eingefunden: acht oder zehn Russen, darunter Wiguniewski, die Brüder Maelbeek, junge, belgische Aristokraten, ein französischer Linienschiffskapitän, der Marques Tavera, Mr. Bradshaw, die Fürstin Helfersdorff und ihre Mutter, eine sehr gewöhnlich aussehende Dame, Beatrix Vanleer und Sinaide Gamaleja.[327]

Christian kam später als alle andern, und Szilaghin begrüßte ihn auf einem Sessel halb sitzend, halb liegend; ein junger Wolf kauerte auf seinen Knien, und auf der Armlehne des Sessels stand ein grüner Papagei, von jener Art, die man Kurika nennt. Er entschuldigte sich lächelnd bei Christian, als er ihm die Hand reichte und wies mit einer Miene auf die Tiere, als sei es unmöglich, sich ihrer zu entledigen.

Aus Wiguniewskis Erzählungen wußte Christian, daß Szilaghin solche Schaustellungen liebte. In Oxford war er mit einem Adler an der Kette im Boot gefahren, in der Nacht und allein, in Rom hatte er einst einen Palazzo gemietet und die Hefe der Stadt, Bettler, Krüppel, Dirnen und Zuhälter, zu einem Ball geladen. Die Prahlerei darin war unverkennbar, aber als er vor ihm stand und ihn mit seinen Tieren sah, hatte Christian nicht nur den Eindruck eines krankhaften Übermuts, sondern auch den der Verzweiflung. Nachhaltige Beklommenheit bemächtigte sich seiner.

Die Beleuchtung in den Räumen war auffallend spärlich und düster. Da ein Gewitter heraufzog und wegen der schwülen Hitze die Fenster weit geöffnet waren, streute jedes Aufzucken eines Blitzes unerwartete Helligkeit aus.

Von einigen Gästen aufgefordert, setzte sich Sinaide Gamaleja mit einer Laute unter einen Strauch hochstämmiger Soleil-d'or-Rosen und begann ein russisches Lied zu singen. Um ihre Schultern war ein golddurchwirktes Tuch gebreitet, ein Diamantband schmückte ihr mattschwarzes Haar. Sie war von schmächtigem Wuchs; sie hatte breite Backenknochen, einen breiten Mund und stumpfglühende, weitlidrige Augen.

Der graugelbe Wolf auf Szilaghins Knien erhob den Kopf und äugte schläfrig zwinkernd zu der Sängerin hin; die Melodie hatte einen Traum von der heimatlichen Steppe in ihm erweckt. Auch der Papagei rührte sich; ein unverständliches Wort krächzend, ließ er das schwelgerisch gefärbte Gefieder seines Halses schimmern. Szilaghin mahnte ihn mit dem[328] Finger zur Ruhe; gehorsam duckte der Sittig den Kopf in die Federn, die ein Windhauch aufblies. Ein alter Russe, der sehr geschwätzig war, redete eifrig zu Szilaghin; er überhörte ihn voll Verachtung und sang bei der zweiten Strophe das Lied mit.

Seine Stimme war wohlklingend, ein tiefer, dunkler Bariton. Christian aber dünkte es ein verworfener Wohlklang, so verworfen wie die halbverdeckten, grollenden, schwermütigen, von Menschenverachtung erfüllten Augen, wie das edelgeschnittene, wächserne Gesicht, das für achtzehnjährig gelten konnte, indes die Erfahrungen eines bösen Greises in ihm wohnten, wie die reptilhaft lange, blaße, entnervte Hand, wie das süßliche, müde und geistreiche Lächeln.

Wiguniewski, die Maelbeeks, der Kapitän und Tavera hatten sich im Raum nebenan zum Bakkarat gesetzt. In den Pausen des Gesangs vernahm man das Klirren von Gold und das Aufschlagen der Karten. Die fremden Geräusche erregten den Kurika; er vergaß die empfangene Warnung und stieß wieder sein mißtönendes Gekrächz aus. Sinaide Gamaleja warf ihm einen zornigen Blick zu; eine Sekunde lang krampfte sich ihre Hand über den Saiten.

Da richtete sich Szilaghin auf, packte das Tier mit der einen Hand bei den Füßen, mit der andern beim Kopf und drehte dem entsetzt aufkreischenden, schauerlich sich sträubenden Vogel den Hals rund um seine Achse. Die grüne Leiche schleuderte er mit einer Miene von Ekel auf den Boden und intonierte gleichmütig die dritte Strophe des Liedes.

In Sinaida Gamalejas Augen flammte es befriedigt. Der alte Russe, der mit seinem endlosen Geschwätz die Bildhauerin heimgesucht hatte, schwieg plötzlich. Der Wolf gähnte, und um seine gute Gesinnung zu erhärten, drückte er die Lefzen schmeichelnd auf den Arm seines Herrn.

Christian schaute auf den getöteten Vogel hinab, der mit zerzaustem Gefieder dalag und in einem über den Estrich hinlohenden[329] Blitz wie ein phantastisch großer Smaragd funkelte. Auf einmal wurde ihm das tote Tier zu einem Siegel all des Verworfenen, Eitlen, Lügenhaften, Aufgeputzten und Gefährlichen, das er um sich sah und spürte. Er heftete einen Blick auf Szilaghin, einen Blick auf die Gamaleja und ihre Laute, einen Blick auf den schwatzhaften Alten, einen Blick auf die Spieler und wandte sich ab. Eine Schärfe war in seiner Kehle, ein Brennen in seinen Augen. Er machte ein paar Schritte gegen das nächste Fenster; draußen rauschte das Laub der Bäume und Donner rollten. Da erhob sich in ihm die Frage: wo kommt all dieses Böse her? Wo kommt es her, und warum ist es so schwer, es von sich zu tun?

Es trieb ihn davon. Die Nacht, der Regen, das nahende Gewitter lockten. Der Wunsch erwachte in ihm, sich zu verlieren, im Finstern, im Sturm, fern von Menschen. Er fürchtete sich vor aufsteigenden Tränen, zum erstenmal seit er denken konnte; denn so lange er ein bewußtes Leben führte, hatte er nie geweint. Sein ganzer Körper war durchtobt von einer Erschütterung ohnegleichen, die er noch immer, mit dem Aufgebot aller Kräfte, zu verbergen imstande war. Gerade als er nach der Türklinke greifen wollte, wurde von einem Lakaien die Tür geöffnet, und Maidanoff und Eva erschienen auf der Schwelle. Christian blieb stehen. Aus seinem Gesicht wich jede Spur von Farbe.

In die Gesellschaft kam lebhafte Bewegung. Szilaghin sprang auf und eilte den Ankömmlingen entgegen. Maidanoffs verwitterte Hagerkeit bot einen grellen und düstern Gegensatz zu Evas freudig blühendem Ebenmaß. Sie trug ein Kleid, das fast nur Hauch war, tief ausgeschnitten, an den Schultern mit Perlenschnüren befestigt. Ihre Haut hatte einen fließenden Goldglanz, Hals, Arme, Rumpf und Beine spielten in durchpulstem Leben.

Für Christian war sie Erscheinung ganz. Er starrte sie an; indes sein Name mit andern Namen genannt wurde,[330] die Maidanoff neu waren, starrte er sie an wie ein unergründliches und verhängnisvolles Gebilde. Es war ihm so eisig ums Herz, so ungeheuerlich verlassen; so wild und so stumm; die aufgelockerte Brust konnte die Spannung nicht mehr ertragen; schon maßen ihn Blicke: eine fehlende Hemmung, und das Aufstöhnen aus verworrenstem Schmerz, das draußen vier leere Wände und zwei blöd-erstaunte Diener aus dem Mund des Fliehenden hörten, hätte ihn drinnen lächerlich gemacht und erniedrigt.

Es regnete in Strömen, als er aus dem Haus trat; aber ohne nach seinem Wagen zu rufen, ging er die Straße hinab.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 327-331.
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