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[331] Nach einem Verlust von achtundzwanzigtausend Franken, soviel hatte er nach und nach von Mr. Bradshaw und Fürst Wigunieswki erhalten, stand Amadeus Voß vom Spieltisch auf und wankte ins Freie. Als trübes Ziel schwebte ihm vor, Christian zu unterrichten, damit er innerhalb vierundzwanzig Stunden die Schuld begleichen konnte.

Er ging aufs Telegraphenamt und schickte eine Depesche an Christian ab.

Dann stand er unter einer blühenden Kastanie und stammelte: »Bruder, Bruder.«

Als ein Weib des Weges kam, schloß er sich ihr an. Doch plötzlich stieß er ein Gelächter aus, schwenkte in eine Seitengasse ab und ging allein weiter.

Er ging und ging und ging, sechs Stunden lang, bis zwei Uhr morgens, da war er in Heyst. Sein Gehirn zog sich zu einem Klumpen zusammen, in dem kein Licht und kein Gedanke mehr war.

Grauschwarze Wellenhügel, die sich wälzten, zeigten sich ihm als Leiber von Frauen. Die Wolken, die in der heißen[331] Nacht gegen Norden zogen, waren Mäntel über begehrenswerten Formen. Er sehnte sich dumpf über die Länder hin, in denen Liebe war, woran er keinen Teil hatte.

Am Gartentor der Villa stehend, starrte er zu den Fenstern von Christians Zimmern hinauf. Sie waren offen und beleuchtet. »Bruder,« murmelte er, »Bruder.« Da trat Christian an ein Fenster. Der Anblick seiner Gestalt flößte Voß besinnungslosen Haß ein. »Hüte dich, Wahnschaffe!« schrie er.

Christian ging vom Fenster weg und kam alsbald aus dem Tor. Amadeus erwartete ihn mit geballten Fäusten. Aber als Christian näher kam, wandte er sich um und flüchtete, Christian schaute ihm nach, die Straße hinunter. Amadeus' Gang verlangsamte sich, und er folgte ihm.

Nachdem Voß eine Weile planlos herumgeirrt war, verspürte er quälenden Durst. An einer Matrosenkneipe vorübergehend, hielt er inne, überlegte und ging dann hinein. Er ließ sich einen Grog geben, berührte ihn aber nicht. Fünf oder sechs Männer saßen an mehreren Tischen. Drei schliefen, die übrigen stierten betrunken. Der Wirt, eine feiste Galgenphysiognomie, thronte hinter dem Schenktisch und musterte den späten Gast mit der eleganten Kleidung und dem unnatürlich bleichen und verstörten Gesicht. Einer, dems an den Kragen geht, war das Ende seiner Betrachtung, und er gab dem Schankmädchen, einer schwarzhaarigen, schmutzigen Wallonin, einen Wink, daß sie sich zu ihm setzen solle.

Sie setzte sich in freche Nähe und begann ein Gespräch. Er verstand sie nicht. Sie lachte gemein und legte die Hand auf sein Knie. Ihre Brüste bewegten sich hinter dünnen bunten Fetzen wie Tiere. Alles roch nach Tierheit an ihr. Ihm schwindelte. Mordlust regte sich.

Er griff in die Tasche und holte alles Geld hervor, das er noch besaß. Es waren siebzig Franken, drei Goldstücke und fünf Silberstücke. »Hexenzahl,« murmelte er und verfärbte sich noch mehr; »drei und fünf; E.V.A. Hexendrei, Hexengold.«[332]

Die Wallonin schaute begehrlich zu. Ihre Blicke liebkosten das Geld. Der Wirt wälzte sich heran, ein Geschäft witternd.

»Tu deine Kleider von dir, und du sollst alles haben,« sagte Amadeus Voß.

Sie blickte auf seinen Mund. Der Wirt sprach deutsch und übersetzte ihr die Worte. Sie lachte grell und deutete einwilligend gegen die Türe. Amadeus schüttelte den Kopf. »Nein; jetzt; hier,« versteifte er sich. Das Mädchen wandte sich an den Patron, und sie beratschlagten flüsternd. Aus ihren Gebärden war zu entnehmen, daß sie sich aus den ringsum sitzenden Schnarchern und Betrunkenen nichts machten. Das Mädchen verschwand hinter einem braunen Vorhang, der ehemals gelb gewesen war. Der Wirt strich die siebzig Franken vom Tisch, schlich von Fenster zu Fenster, um zu prüfen, ob die roten Tücher keinen Spalt freiließen und stellte sich dann als Wache an die Tür.

Amadeus saß wie in siedendem Wasser. Wenige Minuten verflossen, da wurde der braune Vorhang beiseite geschoben, und die Wallonin trat nackt hervor. Die Matrosen schauten auf. Einer erhob sich und gestikulierte. Einer begann toll zu lachen. Die Wallonin stand mit gesenkten Augen, trotzig, gleichgültig und rieb einen Fuß am andern. Sie war ziemlich dick, ohne jeden Reiz und hatte zerstörte Formen.

Aber für Amadeus Voß mußte es eine überirdische Erscheinung sein, denn er schaute sie entgeistert an. Seine Arme waren aufgestützt und vorgestreckt, die Finger krallenartig eingezogen, um den Mund zuckte es. Die Fischer sowie der Wirt sahen jetzt nicht mehr das Mädchen, sondern nur ihn. Sie empfanden Furcht; der Anblick war so ungewöhnlich für sie, daß sie das Öffnen der Tür unbeachtet ließen. Zu spät stieß der Wirt einen leisen Warnpfiff aus, der Eintretende, es war Christian, gewahrte noch die Nackte, als sie eilig hinter den Vorhang schlüpfte.

Er ging auf Amadeus zu, jedoch dieser nahm keine Notiz[333] von ihm. Unbeweglich starrte er auf die Stelle, wo die Wallonin gestanden war.

Christian legte die Hand auf seine Schulter. Nun erst riß Amadeus den Blick los, kehrte ihn langsam, wie fragend Christian zu, und seinem zuckenden Mund entrangen sich seltsam die Worte: »Est Deus in nobis agitante callescimus illo.«

Dann brach er nieder, fiel mit der Stirn auf die verschränkten Arme, über Nacken und Rücken lief ein Zittern.

Der Patron murrte.

»Komm, Amadeus,« sagte Christian ruhig.

Die betrunkenen Fischer glotzten.

Amadeus richtete sich auf und tastete wie ein Blinder nach Christians Hand.

»Komm, Amadeus,« sagte Christian, und seine Stimme schien tiefen Eindruck auf Voß zu machen, denn er folgte ihm ohne Widerspruch. Der Wirt wie auch die Fischer drängten ihnen nach bis auf die Gasse.

Der Wirt sagte zu den Fischern: »Das sind nun Herren. Wie schlecht unsre Welt regiert wird, erkennt man daraus, daß Herren sich so aufführen.«

»Es wird schon Tag,« sagte einer der Fischer und wies auf einen Purpurstreifen am östlichen Himmel.

Auch Amadeus und Christian schauten in den purpurgesäumten Osten. »Est Deus in nobis agitante callescimus illo,« sagte Amadeus.[334]

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 331-335.
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