6

[255] Becker wohnte in einem einsamen Vorstadthaus, das in einem verwilderten Garten stand. Er empfing sie in einem unordentlichen Zimmer, das so groß wie ein Saal war. Auf dem Tisch brannten zwei Kerzen.

Er sah abgemagert aus. Er ging ruhelos umher, auch nachdem er Eva begrüßt hatte.

Sie sprach mit einiger Hast von ihrer bevorstehenden Gastspielreise nach Rußland und fragte, ob er Aufträge für sie habe. Er verneinte.[255]

»Der Großfürst war bei mir,« sagte sie dann und blickte ihn erwartungsvoll an.

Er nickte. Nach einer Weile setzte er sich und begann: »Ich will Ihnen einen Traum erzählen, den ich hatte. Oder nein, es war kein Traum, denn ich lag mit wachen Augen, es war eine Halluzination. Hören Sie.

Um eine reichgedeckte Tafel saßen fünf oder sechs junge Weiber. Sie waren in Gesellschaftstoilette, tief entblößt, lachten ausgelassen und tranken Sekt. Mit ihren frivolen Wortspielen und verführerischen Gebärden wandten sie sich an einen, der am oberen Ende der Tafel saß. Der aber hatte keine Gestalt; er war wie ein Kloß oder ein Stück Lehm. Die Diener zitterten, wenn sie in seine Nähe kamen, und die Frauen wurden unter der Schminke bleich, wenn er sie anredete. Mitten auf dem blendend weißen Tischtuch lag, unbemerkt von allen, eine Leiche. Der Körper war mit Früchten bedeckt, und aus der Brust ragte, zwischen Pfirsichen und Trauben, der Griff eines Messers heraus. Durch die Fugen des Tisches rann Blut und tropfte in leisen Schlägen auf den Boden.

Die Mahlzeit war zu Ende, alle waren in übermütigster Laune, da erhob sich der Gestaltlose, packte eine der Frauen, zog sie an sich und forderte Musik. Und während rauschende Musik erschallte, dehnte sich der Kloß und wuchs; er bekam einen Schädel, aus dem Schädel blickten Augen, und die Augen sprachen: ich begehre, ich begehre. Das Weib, das er hielt, wurde zusehends bleicher, sie suchte sich aus seiner Umklammerung zu befreien, ihm jedoch wuchsen spindeldürre Arme, mit denen er sie still und gewalttätig an sich preßte, immer stärker, so stark, daß sie zu röcheln begann, daß ihr Gesicht blau wurde, daß ihr Leib in der Mitte einknickte. Schließlich lag sie ihm entseelt in den Armen, und es schien nichts mehr von ihr übrig als das Kleid. Da richtete der Tote, der mit dem Messer in der Brust unter Früchten und Konfekt[256] begraben war, den Kopf in die Höhe und sagte mit geschlossenen Augen: Gib sie mir wieder.

Auf einmal strömten viele Menschen in den Raum, Bauern, Fabrikarbeiter, Soldaten, ärmlich gekleidete Frauen, Juden und Jüdinnen. Ein alter Mann mit weißem Bart sagte zu dem Kloß: Gib mir meine Tochter wieder. Mehrere, die hinter ihm standen, schrien gleichfalls, wie außer sich: Gib uns unsre Töchter wieder, unsre Bräute, unsre Schwestern. Einige Bauern drängten sich vor; mit bekümmerten Mienen beugten sie sich zur Erde und riefen: Gib uns unser Land, gib uns unsre Wälder. Dazwischen gellten die Stimmen von Frauen: Unsere Söhne gib uns, unsere Söhne. Der Kloß wich Schritt für Schritt ins Leere, bekam aber eine immer deutlichere Gestalt. Das Angesicht, die Hände und die Kleider waren braun, wie mit Rost überzogen oder mit verkrustetem Schlamm. Die Züge erweckten nicht die geringste Vorstellung von seinem Wesen, und ebendieser Umstand trieb die Verzweiflung aller auf den Gipfel. Sie riefen ununterbrochen: Unsre Brüder! Unsre Söhne! Unsre Schwestern! Unsre Länder! Unsre Wälder, du in Ewigkeit Verfluchter!«

Eva schwieg.

Iwan Becker stützte den Kopf in die Hand. Nach einer Weile sagte er: »Eines steht fest: Er ist der Anlaß von so viel Tränen, daß der See, den sie gesammelt bilden würden, tiefer wäre, als der Kreml hoch ist; aber das Blut, das er vergossen hat, wäre ein Meer, in dem man ganz Moskau versenken könnte.«

Er stand auf, machte ein paar Schritte, setzte sich wieder und fuhr fort: »Er ist der Schöpfer und Usurpator eines beispiellosen Schreckensregiments. Unsre lebendigen Seelen sind seine Opfer. Wo eine lebendige Seele bei uns ist, wird sie sein Opfer. Sechstausendachthundert Intellektuelle wurden in den letzten zwölf Monaten deportiert. Wo sein Fuß hintritt, ist der Tod. Seinen Weg bezeichnen Leichenfelder und Trümmer.[257] Diese Ausdrücke sind nicht bildlich zu nehmen, sondern ganz und gar wörtlich. Er hat die Organisation des vereinigten Adels geschaffen, die das Land unter Druck hält, ein modernes Folterinstrument größten Stils. Die Pogrome, die finnischen Mordexpeditionen, die Mißhandlungen in den Gefängnissen, die Greueltaten der Schwarzen Hundert, alles sein Werk. Er verschwendet unermeßliche Summen aus dem Staatsschatz, er begnadigt Schuldige und verdammt Schuldlose; er erdrosselt den Geist und löscht das Licht aus. Er darf es. Niemand verwehrt es ihm. Er ist allmächtig. Er ist der Gegner Gottes. Ich beuge mich vor ihm.«

Eva blickte überrascht empor, doch Becker bemerkte es nicht. »Es gibt niemand, der ihn kennt. Niemand vermag ihn zu durchschauen. Ich glaube, er ist satt. Vielleicht sind es nur noch Reize der Epidermis, die auf ihn wirken. Es wird erzählt, daß er manchmal zwei schöne nackte Frauen miteinander kämpfen läßt. Sie haben Dolche und müssen einander zerfleischen. Davor muß man sich beugen.«

»Ich verstehe nicht,« flüsterte Eva mit weiten Augen. »Warum beugen?«

Becker schüttelte abwehrend den Kopf, und seine eintönige Stimme erfüllte wieder den Raum. »Ihm ist alles käuflich zwischen Himmel und Erde. Käuflich die Freundschaft, die Liebe, die öffentliche Meinung, die Langmut des Volkes, die Justiz, die Kirche, der Krieg und der Frieden. Befehl und Gewalt kommen zuerst, das versteht sich von selbst; aber was Befehl und Gewalt nicht zustande bringen, wird gekauft. Es scheint freilich, daß Befehl und Gewalt manches zustande bringen, woran gewöhnliche Sterbliche scheitern würden. Auf einer Bärenjagd im Kaukasus war sein Liebling und Günstling, der Fürst Fjodor Szilaghin, schwer erkrankt. Mit hohem Fieber wurde er in eine Tscherkessenhütte getragen. Dieser Fürst Szilaghin, nebenbei, ist ein Mensch von verderbtestem Typus, zwanzig Jahre alt, eine weibische, aber[258] trotzdem erstaunliche Schönheit. Infolge einer Wette ging er einmal eine Nacht lang als Kokotte verkleidet in den Straßen und Vergnügungslokalen Petersburgs herum und brachte allerlei Schmuck und Juwelen, die man ihm seiner Schönheit wegen geschenkt hatte, zu den Freunden, unter anderm ein kostbares Smaragdarmband. Der also wurde im Gebirge krank. Ein reitender Bote ward in den nächsten Ort geschickt und schleppte auf seinem Pferd einen alten unwissenden Landarzt herauf. Der Großfürst, indem er auf den in Delirien sich bäumenden Szilaghin wies, sagte zu dem Alten: Stirbt mir dieser, so stirbst auch du. Rette ihn, damit du am Leben bleibst. Der Doktor flößte dem Fiebernden von Stunde zu Stunde eine Medizin ein; in der Zwischenzeit kniete er zitternd und betend am Lager. Die Fügung wollte es, daß Szilaghin gegen Morgen das Bewußtsein wiedererlangte und dann allmählich genas. Sein Gebieter war überzeugt, daß das unerbittliche Entweder-Oder, vor welches er den alten Arzt gestellt, geheime Kräfte in ihm entbunden und eine Art Wunderheilung bewirkt habe. Er macht nicht Halt vor der Natur.«

Evas Züge belebten sich hastig. Sie erhob sich, trat ans Fenster und öffnete es. Der Sturmwind schüttelte die Bäume. Ein zerzauster Ruysdaelscher Wolkenhimmel, vom verborgenen Mond schwach erhellt, wölbte sich über dem Dunkel. Ohne sich umzudrehen sprach sie: »Sie sagen, niemand kann ihn durchschauen. Es ist aber nichts zu durchschauen. Er ist wie ein Abgrund, offen und finster.«

»Mag sein, daß Sie recht haben und daß er wie ein Abgrund ist,« antwortete Iwan Becker leise, »aber wer wird den Mut haben, hinunterzusteigen?«

Ein Schweigen entstand. »So sprechen Sie es aus, Iwan Becker, sprechen Sie es endlich aus!« rief Eva in die Nacht hinein, zum offenen Fenster hinaus. Jede Faser an ihr, von den Haarspitzen bis zum Kleidsaum, der den Boden streifte, war angehaltenes Lauschen.[259]

Aber Becker erwiderte nichts. Er wurde nur furchtbar bleich.

Eva kehrte sich um. »Soll ich mich in seine Arme stürzen, um eine neue Ordnung in der Welt zu machen?« fragte sie dann ruhig und stolz; »soll ich seine ungeheuerliche Meinung von dem, was käuflich ist, noch um einen Grad, um so viel eben, wie ich mich selbst einschätze, herunterschrauben? Oder glaubt man, ich könnte ihn dazu bringen, die Schlachtbank mit dem Beichtstuhl zu vertauschen, das Henkerbeil mit einer Flöte?«

»Ich habe nicht davon geredet, ich werde nicht davon reden,« sagte Iwan Michailowitsch mit feierlich erhobener Hand.

»Ein Weib vermag viel,« fuhr Eva fort; »sie kann sich verschenken, sie kann sich wegwerfen, sie kann sich feilbieten, sie kann ihre Gleichgültigkeit überschminken, ihren Haß verleugnen; gegen das Grauen vermag sie nichts. Das Grauen reißt die Brust auseinander. Zeigen Sie mir einen Weg. Machen Sie mich unempfindlich gegen das Grauen, und ich will den Tiger an die Kette legen.«

»Ich weiß keinen Weg,« antwortete Iwan Michailowitsch; »ich weiß keinen, mir selber graut vor ihm. Der ewige Gott möge Sie erleuchten.«

Die Einsamkeit des Zimmers, des Hauses, des sturmdurchpflügten Gartens war herunterdonnerndes Geröll.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 255-260.
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