[370] Amadeus Voß wußte, daß er niemandes Sympathien hatte; niemandes außer Christians. Und diesen beargwöhnte er; er zählte, wog und haderte. In der Angst vor Verstellung und Verrat heuchelte und verriet er selbst. Nichts diente ihm, nichts überzeugte ihn, nichts versöhnte ihn. Daß Christians Blick und Gegenwart eine bändigende Wirkung auf ihn hatte, verzieh er ihm am wenigsten. Seine Erbitterung stöhnte aus Träumen.
Er las in der Schrift: Ein Hausvater pflanzte einen Weinberg; umgab ihn mit einem Zaun; ließ darin eine Kelter graben und einen Wachtturm bauen; und vermietete ihn an Weingärtner und reisete außer Landes. Da nun die Zeit der Früchte gekommen war, schickte er seine Knechte zu den Weingärtnern, um die Früchte in Empfang zu nehmen. Die Weingärtner aber fielen über seine Knechte her, schlugen den einen, töteten den andern und steinigten den dritten. Noch einmal schickte er andre Knechte, und zwar mehr als zuvor; und sie behandelten diese auf gleiche Art. Zuletzt aber schickte er seinen Sohn zu ihnen und sprach: vor meinem Sohn werden sie doch wohl Ehrfurcht haben. Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sagten sie: »Dieser ist der Erbe! Auf, laßt uns ihn töten.« Sie packten ihn, schleppten ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn.
Manchmal wich er stundenlang nicht von Christians Seite, studierte seine Gesten, seine Mienen, und jede Wahrnehmung trieb ihm die fressende Glut ins Gehirn. Dieses ist der Erbe! Dann floh er, zerstörte sich, zerrieb sich, und Schuldgefühl steigerte sich bis zur Zerknirschung. Er kehrte zurück, und sein[370] Wesen war Beichte: ich kann nur bei dir gedeihen. Ihm schien, es müsse gehört werden wie ein Schrei. Es wurde nicht gehört, und der Bruder wurde wieder zum Feind. So schwankte er auf und ab, von der Finsternis durch Feuer und Qualm in die Finsternis.
Er litt unter seiner Befangenheit und unter seiner Aufdringlichkeit. Mitten in dem Luxus und Überfluß, in die er durch einen märchenhaften Glückswechsel versetzt war, litt er unter der Erinnerung an seine frühere Armut, spürte er noch, wie sie ihn geknebelt und gewürgt hatte, bäumte sich noch gegen sie auf. Er griff nicht hin, schloß die Augen, schauderte vor Begierde und Gewissensqual. Die Bildseite des Gewebes wollte er nicht betrachten; er drehte es um und grübelte finster nach dem Sinn der wirr verknüpften Fäden. Da war keine Beziehung, die er nicht verdächtigt, kein heiteres Gespräch andrer, in dem er nicht einen Stachel für sich gefunden, kein Gesicht, das nicht seinen Haß vermehrt, keine Schönheit, die ihm nicht ihr Widerspiel gezeigt hätte. Alles wurde Gift, alles Fäulnis, Blüte ward Unkraut, Sammet Nessus, Licht ein Schwelen, Kitzel eine Wunde; an jeder Mauer stand das mene tekel upharsim flammend.
Er gab sich nicht, wurde nicht weich. Neid glomm weiter, auch wenn das Begehrte errungen war. Was ihn jemals erniedrigt hatte, reizte die Rachlust bei jedem Darandenken. Züchtigungen, die er vom Vater erfahren, verzerrten dessen Bild im Grab; Mitschüler im Seminar hatten ihm einst Pfeffer in den Kaffee geschüttet; er konnte es nicht vergessen; nicht vergessen die Miene Adeline Ribbecks, als sie ihm nach dem ersten Monat den Gehalt im geschlossenen Kuvert überreicht; Unglimpf und Mißachtung von Hunderten, die sich an ihm und nur an ihm schadlos gehalten für die Bedrückungen, welchen sie selbst ausgesetzt waren. Er konnte es nicht verwinden, dem Schicksal nicht verzeihen; die eingeätzten Male brannten frisch.[371]
Dann wieder warf er sich hin, betend, bettelnd, der Verzeihung seinerseits bedürftig. Von religiösen Skrupeln gefoltert, von Reue geplagt, verlangte ihn nach ausgelöschtem Bewußtsein, sprach er Verdammung über sich, verdammte er sich zur Askese.
Und Askese schleuderte ihn in die Ausschweifung, die wahllos war, wüst, unsinnig, mit unsinnigem Verprassen von Geld. Er konnte die Erregungen des Spiels nicht mehr missen und geriet in die Hände von Bauernfängern, in verrufene Lasterhöhlen, äffte dort den reichen Kavalier, den Aristokraten im Inkognito, denn es trieb ihn, die Maske zu erproben und sich ihre Verächtlichkeit zu beweisen. Da man ihn in einer Rolle ernst zu nehmen schien, die ihn selber mit Scham und Verzweiflung erfüllte, verschmerzte er die hohen Verluste und übersah die plumpen Betrügereien. Eines Abends drang Polizei in das Lokal, wo er war; er konnte nur mit knapper Not entwischen. Ein Individuum heftete sich an seine Fersen, spiegelte ihm Gefahren vor, drohte mit Anzeige und erpreßte ihm ein Schweiggeld.
Er wurde die Beute von Kokotten. Er kaufte ihnen Schmuck und Kleider und veranstaltete nächtliche Gelage. Sie waren Verworfene in seinen Augen, die er benutzte wie ein Durstiger aus der Pfütze trinkt, wenn er reines Wasser nicht bekommen kann. Und er gab es ihnen brutal zu verstehen; er zahlte dafür, daß sie es ertrugen, und sie wunderten sich, wehrten sich nur gegen den infamsten Schimpf, machten sich lustig über Züge von Muckertum, die erzählt wurden. Mit einer, die jung und hübsch war, hatte er eine Stunde allein verbracht; er hatte sich dabei die Augen verbunden und war plötzlich wie von Furien gejagt davongestürzt.
Dreimal hatte er den Tag seiner Abreise festgesetzt, dreimal ihn verschoben. Das Bild Johannas war zu Evas Bild getreten. Beide tobten in seinem Hirn. Beide waren in unerreichbarer Welt. Die Häßliche schien ihm verwandt, möglicherweise[372] war sie zu umstricken; die Schöne war wie gellender Hohn seiner Existenz. Er hatte nun von ihrer Kunst so viel gehört und in Zeitungen gelesen, daß er beschloß, den Abend ihrer Vorstellung abzuwarten, um, wie er zu Christian äußerte, sich ein Urteil zu bilden und nicht länger der Gefoppte von Verblendeten und frechen Schmeichlern zu sein.
Es war theatre paré. Er saß neben Christian in dem reichgeschmückten und festlich beleuchteten Saal, in welchem fürstliche Personen, die Familien der Senatoren, die Spitzen der Behörden und der Handelswelt und Abgesandte aus allen Gauen und Städten Deutschlands zu sehen waren. Christian hatte Plätze dicht hinter dem Orchester genommen; Crammon, als Kenner perspektivischer Wirkungen, hatte die erste Reihe des Balkons vorgezogen; Johanna und Botho von Thüngen waren seine Nachbarn; er hatte ihnen eindringlich erklärt, daß in der Tiefe des Theaters das Spiel der Beine und der Füße durch die Rampenlinie schädlich abgeschnitten würde, während es hier, in mittlerer Höhe, harmonisch zum Ganzen fließe.
Amadeus Voß blieb in seiner vorgefaßten Starrheit. Er sträubte sich nicht etwa, spürte nicht ein Mächtiges, dem er trotzen mußte; er war und blieb kalt, trüb und blöde. Da flog im abgeteilten Raum ein Wesen vogelhaft, der Schwere wunderbar entledigt; da offenbarte sich ein Rhythmus, der Bewegung in Gesang verwandelte; da brachen die Ketten seelischer Bindung, Gefühl war Bild, Handlung Mythos, Schreiten Sieg über die Materie; seine Miene aber drückte aus: wozu dient mir das? Wozu dient euch das? Von geschlechtlichem Ingrimm erfüllt, sah er nur eine aufreizende Schaustellung, und als das Gewitter des Beifalls losbrach, bleckte er die Zähne.
Das letzte Stück war eine Art Tanz-Proverbe, ein lieblicher Scherz, den sie zu einer Musik von Delibes erfunden und ausgearbeitet hatte. Der Inhalt bestand in nichts andrem, als daß ein Pierrot einen Kreisel schlägt und, seinen launenvollen[373] Lauf lenkend und regelnd, in immer neuen Stellungen, Sprüngen und Wendungen den Widerstrebenden und endlich Erschöpften einem Loch zutreibt, in dem er spurlos verschwindet. Der nichtige Vorgang war durch den Wechsel und durch den Reichtum der Positionen mit solchem Leben erfüllt, funkelnder Übermut und die rascheste Grazie, die je auf Brettern sich ihren Eingebungen überlassen, hatten ihn derart zu einem Kunstgebilde erhöht, daß das Zuschauen atemloses Staunen wurde und der Dank eine Raserei.
Im Foyer stürzte Crammon auf Christian zu und zog ihn durch Menschenmassen in einen halbfinstern Gang und hinter die Bühne. Amadeus Voß, von Crammon nicht beachtet, folgte beiden mürrisch und gedankenlos. Der Anblick von Kulissen, papiernen Felsen und Bäumen, aufgerollten Prospekten, Beleuchtungsmaschinen, Flaschenzügen und hin- und herrennenden Arbeitern schürte dumpf-feindselige Neugier.
Erregte Menschen drängten sich in Evas Garderobe. Sie saß, im schwarzundweißgewürfelten Pierrotkleid noch, die zierliche, silberne Peitsche, mit der sie den Kreisel getrieben, in der Hand, unter Blumen, die zu einem Berg um sie gehäuft waren. Vor ihr kniete Johanna Schöntag und schaute mit heißschimmernden Augen zu ihr auf. Susanne Rappard reichte der Herrin ein Glas Sekt; dann begann sie mit den ungerufenen Gästen in einem Kauderwelsch aus fünf bis sechs Idiomen zu verhandeln und ihnen begreiflich zu machen, daß sie im Wege seien. Aber jeder wollte einen Blick, ein Wort, ein Lächeln Evas erobern.
Neben der Garderobe, abgetrennt von ihr durch eine falsche Wand mit einem türlosen Eingang, befand sich ein schmaler Ankleideraum, der außer den Kostümen der Tänzerin nur einen großen Stehspiegel enthielt. Mehr beiseite geschoben, als von eignem Antrieb bestimmt, sah sich Voß unvermerkt in diesem Gemach allein, und als er es einmal betreten hatte, wuchs seine Kühnheit; er wagte noch ein paar Schritte.[374]
Er schaute sich um und starrte auf die Gewänder, die da lagen und hingen; auf die glitzernden Seidenstoffe, die roten, grünen, blauen, weißen und gelben Tücher und Schleier, auf die duftigen Gewebe aus Gaze, Battist und Tüll. Da war das durchsichtige Gespinst und der schwere Brokat; da glänzte ein Kleid wie pures Gold, dort war ein silberdurchwirktes und ein mit Pailletten behängtes; eins sah aus wie von Rosenblättern gemacht, eines war wie ein Netz aus Glasfäden, dieses wie weißer Schaum, jenes wie ein violetter Stein. Und da standen zierliche Schuhe, der Reihe nach; Schuhe aus Maroquin, aus Seide und aus Bast; da waren Strümpfe in allen Farben, und Bänder und Spitzen und allerlei antiker Schmuck. Die Luft war von einem Geruch erfüllt, der seine Sinne aufregte; es roch nach Salben und kostbarem Öl, nach Frauenhaut und Frauenhaar. Seine Pulse klopften, sein Gesicht wurde grau; mechanisch streckte er den Arm aus und griff nach einem kunstvoll bemalten spanischen Schal; er zerknüllte ihn in den Händen, zornig, gierig, fassungslos und grub Mund und Nase hinein, an allen Gliedern zitternd.
Da gewahrte ihn Susanne Rappard und deutete befremdet hinein. Eva wurde aufmerksam, schob Johanna sanft von sich weg, erhob sich und schritt auf die Schwelle. Als sie den Verzückten, besessen Versunkenen erblickte, war ihr, als geschähe Unflätiges, und sie stieß einen leisen, kurzen Schrei aus. Amadeus Voß zuckte, ließ das Tuch fallen und schaute sie wild und schuldbewußt an. Mit einem Ausdruck lachender, unsäglich tiefer Verachtung, einem monatealten Abscheu, hob Eva die silberne Peitsche und schlug ihn ins Gesicht, das nun jede Spur von Farbe verlor und sich zu wollüstigem Schrecken verkrampfte.
In dem bestürzten Schweigen ging Christian auf Eva zu, nahm der Erstaunten die Peitsche aus der Hand und sagte mit einer Stimme, die sich kaum von der unterschied, mit welcher er sonst redete: »Das nicht, Eva; das sollst du nicht[375] tun.« Er hielt die Peitsche an beiden Enden und bog sie so lange, bis das zarte Metall brach. Dann warf er sie zu Boden.
Sie sahen einander an. In Evas Zügen loderte noch der Abscheu; nun kam das Erstaunen über Christians Vermessenheit. Christian dachte: sie ist schön; und er liebte sie. Er liebte sie in dem schwarzundweißgewürfelten Pierrotkostüm mit den großen, schwarzen Samtknöpfen und der Kegelmütze auf den Haaren, von der eine Quaste leichtsinnig baumelte; er liebte sie, unvergleichlich schien sie ihm, und sein Blut schrie nach ihr wie in den Nächten, aus denen sie ihn verstoßen hatte. Aber er fragte sich auch: warum ist sie böse geworden? Da fühlte er ein sonderbares Mitleid, eine sonderbare Befreiung, und er lächelte. Es dünkte allen, die es beobachteten, ein wenig albern, dieses Lächeln.
Amadeus Voß las in der Schrift: Was reibt ihr auf mein Volk und zermalmt das Gesicht der Armen? Weil stolz sind die Töchter Zions und einhergehen mit hochaufgereckten Hälsen und geschminkten Augen, und mit tändelnden Schritten daherkommen, und Spangen an ihren Füßen tragen, so wird der Herr den Scheitel der Töchter Zions kahl machen und entblößen ihre Scham. Und wird allen Schmuck beseitigen, den Schimmer der Fußkettchen, die kleinen Sonnen und die kleinen Monde, die Ohrgehänge, Armbänder und die Schleier, den Kopfputz, die Gürtel, die Riechfläschchen, die Amulette, die Fingerringe, die Oberkleider und Mäntel, die weiten Gewänder und die Beutel, die Spiegel, Hemden und Kopfbinden. Und statt Balsamduft wird Modergeruch sein, statt Gürtel Stricke, statt Haargeflecht Kahlheit, statt eines weiten Mantels ein enger Sack, und statt der Schönheit Brandnarben. Fallen werden deine Männer durch das Schwert und deine Helden im Kriege. Wehklagen werden dann und trauern deine Tore, und beraubt wird jene auf der Erde sitzen.
Am selben Abend fuhr er nach Berlin.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
|
Buchempfehlung
Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.
68 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro