[383] Crammon und Johanna Schöntag wollten zu Hagenbeck nach Stellingen fahren, und Crammon bat Christian um das Auto. Sie stiegen gerade in den Wagen, als Christian aus dem Hotel trat. »Warum kommst du nicht mit?« fragte Crammon. »Hast du was Besseres vor? Komm doch mit, es ist lustiger zu dreien.«
Christian wollte ablehnen, da bemerkte er Johannas dringlich auffordernden Blick. Sie konnte viel Wunsch in ihre Augen legen, hinüberziehenden Wunsch, und man wurde widerstandslos. Er sagte: »Gut, ich fahre mit,« und setzte sich neben Johanna. Aber er blieb den ganzen Weg schweigsam.
Es war ein sonniger Oktobertag.
Sie wanderten durch den Park, und Johanna machte drollige Bemerkungen über die Tiere. Bei einem Seehund blieb sie stehen und rief: »Er sieht aus wie der Direktor Livholm. Nein?« Mit einem Waschbären sprach sie wie mit einem geringen Mann aus dem Volk und warf ihm Zuckerstücke hin. Die Kamele erklärte sie für unglaubwürdig; sie verstellten sich nur, weil sie in den Naturgeschichtsbüchern so beschrieben seien. »Beinah so häßlich, wie ich selber,« fügte sie hinzu; und mit einem Verziehen des Mundes: »Aber nützlicher; wenigstens hab ich in der Schule gelernt, daß ihr Magen[383] eine Wassersparkasse ist. Wunderbar, was es alles gibt auf der Welt.«
Weshalb spricht sie stets verächtlich von sich? dachte Christian. Sie beugte den Nacken über eine Steinbrüstung, und da rührte ihn dieser Nacken. Er erschien ihm wie ein Gefäß von armen und verletzten Dingen.
Crammon sagte: »Mit Tieren ist es eine eigne Sache. Die Gelehrten behaupten, sie hätten eine Menge Instinkt. Was ist aber Instinkt? Ich finde sie meistens grenzenlos dumm. Auf dem Gutshof, wo ich meine Kindheit verbrachte, hatten wir ein Roß, ein dickes, blödes, lammfrohes Roß. Es hatte nur ein einziges Laster: es war sehr kitzlich. Bei strenger Strafe war uns, mir und meinen Spielgefährten, verboten worden, es zu kitzeln. Der Erfolg war natürlich, daß uns beständig der Kitzel quälte, es zu kitzeln. Wir waren fünf, ich und vier aus der Nachbarschaft, fünf Kerle nicht höher als die Tischbeine. Jeder verschaffte sich ein Filzhütchen, und darauf befestigte er eine Hahnenfeder. Und als das Roß glotzend vor dem Stall stand, gingen wir hin, einer hinterm andern, und marschierten mit unsern Federn auf dem Kopf unter dem Bauch des dummen Viehs durch. Die Federn kitzelten es aber so schrecklich, daß es mit allen Vieren ausschlug und einen förmlichen Negertanz verübte. Noch heute ist es mir ein Rätsel, daß wir mit heiler Haut davon gekommen sind; aber es war nett, es war erbaulich, und vom sogenannten Instinkt war weit und breit nichts zu merken.«
Sie gingen ins Affenhaus. Viele Leute standen um eine kleine Tribüne, auf der ein zierliches junges Äffchen unter der Leitung eines Wärters seine Kunststücke zeigte. »Affen sind mir ein Greuel,« sagte Crammon; »sie belästigen meine Erinnerung. Ich soll mich ihnen verwandt fühlen, die Wissenschaft fordert es, aber man hat ja schließlich seinen Stolz. Nein, ich erkenne sie nicht an, diese teuflischen Atavismen.« Er kehrte um und verließ den Raum, um draußen zu warten.[384]
Johanna, bei Christian allein, übertrieb in ihrer Schüchternheit eine Wallung von Mut; sie zog ihn am Arm vor die Tribüne des Äffchens. Sie war berückt, ihre Freude war kindlich. »Wie lieb, wie süß, wie arm!« rief sie aus. Christian schlug eine Wärme entgegen, der er sich hingab, weil er ihrer bedurfte, und die brüchige Stimme des Mädchens erregte in ihm Sinnlichkeit und Angst. Sie stand dicht an seiner Seite; er spürte ihr Erbeben, diese ihm so wohlbekannte Wirkung einer in ihm verborgenen erotischen Macht, und was sonst in ihm drängte, wurde stumm.
Er nahm ihre Hand in seine; sie widerstrebte nicht, ihre Züge spannten sich schmerzlich.
Da geschah es, daß das Äffchen in seinen possierlichen Sprüngen stutzte und den lichtlosen Tierblick erschrocken auf die Zuschauer heftete. Eine scheue Wahrnehmung hatte ihm Furcht eingeflößt; es war wie Denken und Sichbesinnen. Als es die vielen Gesichter erblickte, schien sich das Nebelhafte des Bildes in seinem Auge zu Umrissen zu klären; es sah vielleicht eine Sekunde lang die Welt und den Menschen, und damit verband sich ein ungeheuerliches Entsetzen. Es zitterte am Leibe, wie wenn es geschüttelt würde; es stieß einen gellenden Pfiff aus, der Jammer und Grauen enthielt; es flüchtete, und als der Wärter nach ihm griff, sprang es vom Podium und suchte mit verkrampften Bewegungen ein Versteck; seine Augen glitzerten von Tränen, die Zähne klapperten, und trotz des bestialischen Gepräges dieser Äußerungen waren sie zugleich so menschlich und seelenhaft, daß nur wenige Unempfindliche zu lachen wagten.
Christian wehte etwas an von einer fremden Sphäre, von Erde, Wald und Einsamkeit. Seine Brust weitete sich und zog sich dann zusammen. »Gehen wir,« sagte er, und seine eigne Stimme klang ihm nicht angenehm.
Johanna lauschte zu ihm empor. Alles in ihr war Lauschen, Spannung, Unterwerfung.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
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