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[385] Randolph von Stettner war angekommen. Er hatte noch einige Tage vor sich bis zur Abfahrt des Schiffes und wollte nach Lübeck, um von einer dort verheirateten Schwester Abschied zu nehmen. Christian zögerte, zu versprechen, daß ihn Stettner bei seiner Rückkehr noch in Hamburg finden würde; erst nach langem Drängen des Freundes sagte er es zu.

Sie aßen am Abend in Christians Zimmer und unterhielten sich über Verhältnisse in der Heimat, über gemeinsame Erinnerungen. Christian, einsilbig wie immer, wunderte sich im stillen, wie fern das alles war.

Als der Kellner abgedeckt hatte, erzählte Stettner, was ihn zu dem Entschluß getrieben, über den Ozean zu gehen. Während er sprach, schaute er mit dem gleichen Blick und Ausdruck fortwährend auf das Tischtuch.

»Es ist mir in den letzten Jahren eng geworden in des Königs Rock; du weißt es. Außer den gemessen voneinander liegenden Stationen des Avancements sah ich kein Ziel. Es gibt welche, die setzen ihre Hoffnung auf Krieg. Schließlich, Krieg: da könnte man sich bewähren und erweisen. Aber wer wird darauf warten? Andre nützen ihre Beziehungen aus; andre angeln nach einer vorteilhaften Heirat; andre verlieren sich im Sport und im Jeu. Für mich waren das keine Ziele. Der Dienst befriedigte mich in keiner Weise. Ich erschien mir im Grunde als ein Müßiggänger, der anspruchsvoll auf fremde Kosten lebt.

Sieh mal: Man steht auf dem Kasernenhof; es regnet; der Sand glänzt feucht; die paar armseligen Bäume triefen; die Mannschaft wartet auf das Kommando mit der Wachsamkeit dressierter Hunde; das Wasser läuft von ihren Monturen herunter, der Wachtmeister brüllt, die Unteroffiziere knirschen vor Eifer und Wut; du aber denkst beständig, mit der Eintönigkeit, mit der die Regentropfen auf deine Mütze[386] fallen: was wird heute abend sein? Was wird morgen früh sein? Was wird morgen abend sein? Das Jahr liegt vor dir wie eine aufgeweichte Landstraße. Du denkst an deine öde Stube mit den drei Dutzend Büchern, den nichtssagenden Bildern an den Wänden und dem Teppich, der von Fußtritten abgeschürft ist; du denkst an den Rapport und an die Kantinenrechnung und an die Stallinspektion und an den nächsten Offiziersball, wo du mit den namenlos prätenziösen Frauen der Vorgesetzten tödlich langweilige Konversation wirst machen müssen; denkst es im Kreis herum, immer dasselbe Nichtige, Unfrohe, Graue, Regnerische; ist das zu ertragen?

Ich legte mir eines Tages die Frage vor: was leistest du eigentlich und was wird dir dafür gewährt? Die Antwort war: die Leistung ist, von einem menschlichen und geistigen Gesichtspunkt aus betrachtet, gleich null. Gewährt wurde mir dafür ein Privileg, vielmehr eine Summe von Privilegien, die zusammen eine hohe soziale Rangstufe ausmachten, allerdings um den Preis des vollkommenen Verzichts auf Persönlichkeit. Ich hatte nach oben hin zu gehorchen, nach unten hin zu befehlen, weiter nichts. Dabei war die Befehlsmacht bedingt durch die Gehorsamspflicht. Jeder, ob er nun über oder unter mir stand, hatte dieselbe Aufgabe: nach oben zu gehorchen, nach unten zu befehlen. Man war einfach ein Schaltapparat in einer komplizierten Leitung. Nur die Untersten, die große Masse hatte ausschließlich zu gehorchen; die Verantwortungen nach oben hin verloren sich irgendwo ins Ungewisse. Das Gebäude der militärischen Organisation hat ja trotz seiner Primitivität letzten Endes eine sehr geheimnisvolle Struktur; zwischen der Willkür einzelner und der unbegreiflichen, erschütternden Unterwerfung der Masse bewegen sich die Glieder nach ehernem Gesetz, und wer da versagt oder sich auflehnt, wird zermalmt.

Viele behaupten, daß dieser Zwang sittliche Wirkungen ausübe und zu einem höheren Grad von Freiheit erziehe. Ich[387] selbst war lange der Ansicht. Ich konnte sie auf die Dauer nicht aufrechthalten. Ich fühlte das Versagen kommen, die Auflehnung gärte mir im Blut. Ich nahm mich zusammen; ich bekämpfte Zweifel und Kritik in mir; es war umsonst. Es ging nicht mehr. Die Sicherheit im Befehlen schwand, und gleichzeitig fiel mir der Gehorsam schwer. Ein quälender Zustand. Ich sah über mir lauter unerbittliche Götzen und unter mir lauter wehrlose Opfer. Ich selbst war Götze und Opfer in einem, unerbittlich und wehrlos zugleich. Wo mein Pflichten- und Tätigkeitskreis begann, hörte die Menschheit auf, so schien es mir. Mein Leben erschien mir nicht als ein Teil des allgemeinen Lebens, sondern als eine durch die Formeln Befehl und Gehorsam bewirkte fossile Versteinerung.

Das konnte natürlich nicht verborgen bleiben. Die Kameraden rückten von mir ab. Ich wurde beobachtet, und man mißtraute mir. Ehe ich Zeit gewann, die Dinge zu reinlichem Austrag zu bringen, kam mir ein Ereignis zu Hilfe, das mir die Entscheidung abzwang. Ein Regimentskamerad, Rittmeister von Otto, war mit der Tochter eines Gerichtspräsidenten verlobt. Die Hochzeit, die schon festgesetzt war, konnte nicht stattfinden; er mußte wegen einer leichten Erkrankung der Lunge Urlaub nehmen und ging nach dem Süden, um sich auszuheilen. Etwa vier Wochen nach seiner Abreise war Kaisergeburtstagfeier, und unter den geladenen Damen befand sich auch die Braut des Rittmeisters. Alle waren an diesem Abend in ziemlich ausgelassener Stimmung; besonders übermütig war aber ein lieber Freund von mir, Georg Mattershausen, der eben an dem Tag zum Oberleutnant befördert worden war, ein harmloser, frischer, freundlicher Mensch. Die Braut des Rittmeisters, die seine Tischnachbarin gewesen war, hatte sich von seiner Lustigkeit mitreißen lassen, und auf dem nächtlichen Heimweg, während er kurze Zeit mit ihr allein war, bat er sie um einen Kuß. Sie schlug ihm die Bitte ab, da wollte er sie mit Gewalt küssen. Nun begegnete[388] sie seiner Zudringlichkeit mit Ernst, er kam zur Vernunft, bat herzlich um Verzeihung, und noch vor der Tür des elterlichen Hauses versprach das Mädchen feierlich, mit keinem Menschen über das Vorgefallene zu sprechen. Als aber ihr Verlobter zurückgekehrt war, siebzehn Wochen später, wurde sie von Gewissensbissen geplagt, und sie glaubte ihm bekennen zu müssen, was sich zwischen ihr und Mattershausen begeben. Die Folge davon war eine Forderung. Die Bedingungen waren außerordentlich schwer: zehn Schritt Distanz, gezogene Pistolen, eine halbe Minute Zielzeit, abwechselndes Schießen bis zur Kampfunfähigkeit eines der Gegner. Ich war Mattershausens Sekundant. Von Otto, der Beleidigte und Fordernde, hatte den ersten Schuß; er zielte sorgfältig nach dem Kopf des Gegners, ich sah es. Die Kugel ging am Ohr vorbei. Als Mattershausen schoß, versagte die Waffe. Der Versager gilt als Schuß, es wurden neue Pistolen genommen, von Otto zielte wieder mit großer Genauigkeit, diesmal nach der Mitte des Körpers, und nun traf er Mattershausen ins Herz. Der Tod trat sofort ein.

Findest du die Strafe für eine Unbesonnenheit und ein jugendliches Überschäumen nicht ein wenig hart? Ich fand sie ungewöhnlich hart. Ich fand, daß an dem jungen Menschen ein Verbrechen begangen worden war. Die Kaste, die fossile Kaste hatte einen Mord verlangt. Es war zwei Tage nachher, im Kasino, als ich diese meine Meinung unverhohlen äußerte. Man war befremdet. Es wurde schroff repliziert. Man fragte: Hätten Sie denn in einem solchen Fall nicht gefordert? Ich antwortete: Ich glaube nicht, daß ich gefordert hätte, bestimmt nicht; nun und nimmer könne ich einen Ehrbegriff gutheißen, der in krankhafter Übersteigerung ein Menschenleben wegen einer Bagatelle vernichtet; wenn sich schon das junge Mädchen bemüßigt gesehen habe, ihr allzu zartes Gewissen zu erleichtern und die gelobte Verschwiegenheit zu brechen, hätte ich weiter kein Wesens daraus gemacht und das Geschehene geschehen[389] und vergessen sein lassen. Darüber war man empört; ich sah Kopfschütteln, unwillige Mienen, ratlose Gesichter, bedeutsames Blickewechseln. Aber ich war einmal im Zug; Mattershausens schmähliches Ende war mir verdammt nahgegangen, ich wollte mir den Groll von der Seele reden. Wäre ich an Mattershausens Stelle gewesen, fuhr ich fort, ich hätte es ruhig abgelehnt, mich zu schlagen, was auch immer die Folgen gewesen wären. Das Wort fiel wie ein Keulenschlag, und es entstand ein peinliches Schweigen. Ich glaube, Sie hätten sich doch eines Bessern besonnen, lenkte der rangälteste Major ein, ich glaube nicht, daß Sie alle Folgen auf sich genommen hätten. Gewiß, alle Folgen, beharrte ich. Da erhob sich Rittmeister von Otto, der am Nebentisch saß, und fragte frostig: Auch das Odium der Feigheit? Ich erhob mich ebenfalls und antwortete: Unter diesen Umständen selbstverständlich auch das Odium der Feigheit. Rittmeister von Otto lächelte verzerrt und sagte mit einer Betonung, die nicht zu mißdeuten war: Dann begreife ich nicht, daß Sie sich mit Offizieren Seiner Majestät an denselben Tisch setzen. Sprachs, grüßte steif und ging hinaus.

Damit waren die Würfel gefallen. Man war nicht neugierig, was ich tun würde, man zweifelte gar nicht daran, daß mir nur eines zu tun übrigblieb. Aber ich war entschlossen, bis zum logischen Ende zu gehen. Der Befehlsgötze, diesmal Ehrenkodex genannt, hatte sein Diktum erlassen; ich war entschlossen, ihm den Gehorsam zu verweigern und die Folgen auf mich zu nehmen. Als ich am Abend nach Hause kam, warteten schon zwei Kameraden auf mich, um mir ihren Beistand anzubieten. Ich lehnte höflich ab. Sie schauten mich an, als wäre ich verrückt geworden, und entfernten sich mit etwas lächerlicher Eile.

Es kam dann, was kommen mußte. Daß ich in derselben Luft nicht länger atmen konnte, nach all dem, wirst du verstehen. Man schlägt nicht ungestraft den gültigen Anschauungen[390] ins Gesicht. Ich hatte mich vor Schimpf zu wahren und erfuhr, was Ächtung ist. Ächtung ist etwas sehr Schlimmes, und man hat selten Phantasie genug, sie sich vorher in ihrer ganzen Abscheulichkeit auszumalen. Ich sah, daß in meinem Vaterland kein Platz mehr für mich war. Der Ausweg ergab sich von selbst.«

Christian hatte den Bericht mit unbewegter Miene angehört. Er stand auf, ging ein paarmal durch das Zimmer, setzte sich dann wieder und sagte: »Mich dünkt, du hast das Richtige getan. Es ist schade, daß du von uns weggehst, aber es ist das Richtige.«

Stettner blickte empor. Wie sonderbar das klang: das Richtige. Eine Frage schwebte ihm auf den Lippen, aber sie verbot sich; der Ausdruck in Christians Gesicht wurde plötzlich konventionell; er fürchtete die Frage und sperrte sich zu.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 385-391.
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