[395] Als er ins Hotel kam, verspürte er ein heftiges Bedürfnis nach Wärme. Er betrat nacheinander den Lesesaal, den Konversationssaal, den Speisesaal; trotzdem in allen Räumen ziemlich stark geheizt war, genügte ihm die Wärme nicht. Er gab der Feuchtigkeit schuld, in der er so lange gewandert war.
Er fuhr mit dem Lift in das Stockwerk, wo seine Zimmer lagen. Er wechselte den Anzug, hüllte sich in eine Decke und[395] setzte sich dicht vor den Heizapparat, in welchem der Dampf zischte und wie ein gefangenes Tier an den Ventilen lärmte.
Es wurde ihm noch immer nicht warm. Da merkte er endlich, daß das Frösteln nicht von der Feuchtigkeit und vom Nebel herrührte, sondern eine innere Ursache hatte.
Gegen elf Uhr erhob er sich und ging in den Korridor. Die stuckverkleideten Wände des Flurs waren in große Felder mit goldenen Randleisten abgeteilt; den Boden entlang lief ein Teppich, der aus Stücken zusammengefügt war und die Schritte dämpfte. Christian empfand Abneigung gegen die auf Täuschung berechnete Scheinpracht. Er näherte sich der Mauer, befühlte prüfend eine der Goldleisten und zuckte geringschätzig die Achseln.
Auf dem Teppich blinkte ein Schlüsselchen, von dem der Bart abgebrochen war. Er bückte sich, hob es auf und steckte es in die Tasche.
Am Ende des langen Korridors lagen Evas Gemächer. Ein paarmal war er schon an den Türen vorübergegangen; als er jetzt wieder hinkam, hörte er die Töne eines Klaviers. Es wurden nur einzelne Tasten leise angeschlagen. Nach kurzem Besinnen öffnete er die Doppeltüre, klopfte und trat ein.
Susanne Rappard war allein im Zimmer. Sie saß im Pelz am Klavier. Auf dem Notenständer lag ein Buch, in dem sie las; ihre Finger huschten dabei gespenstisch rasch über die Tasten und schlugen nur bisweilen, wie aus Versehen, eine an. Sie wandte den Kopf und fragte unwirsch: »Was wünschen Sie, Monsieur?«
Christian antwortete: »Ich möchte Madame sprechen, wenn es noch möglich ist. Ich möchte sie etwas fragen.«
»Jetzt? in der Nacht?« wunderte sich Susanne. »Wir sind müde. Wir sind jeden Abend müde in diesem hyperboräischen Klima, wo man die Sonne nur vom Hörensagen kennt. Der Nebel greift uns an. Gott sei Dank, in vier Tagen haben wir[396] unsre dritte und letzte Vorstellung, dann verlassen wir das Graue und begeben uns wieder ins Blaue. Gott sei Dank. Wir sehnen uns nach Paris.«
»Ich wäre sehr froh, wenn ich Madame noch sehen könnte,« sagte Christian.
Susanne schüttelte den Kopf. »Sie haben eine merkwürdige Geduld, Monsieur,« entgegnete sie boshaft. »Ich hätte nicht vermutet, daß Sie so romantisch veranlagt sind. Sie fahren schlecht mit dem, was Sie tun; glauben Sie mir, denn ich weiß es. Übrigens können Sie es ja versuchen. Gehen Sie hinein. Ce petit laideron est chez elle, demoiselle Schöntag. Sie versieht das Hofnarrenamt und findet alles in der Welt komisch, sogar sich selbst. Auch das wird ja bald ein Ende haben.«
Man hörte Stimmen und helles Lachen. Die Tür zu Evas Gemächern ging auf, und Eva und Johanna traten auf die Schwelle. Eva trug ein einfaches, weißes Gewand ohne andern Schmuck als einen großen Chrysopras, mit dem es auf der linken Schulter befestigt war. Ihre Haut leuchtete wie Bernstein, die Bewegung der Nasenflügel verriet geheime Reizbarkeit. Die schöne Frau und die häßliche nebeneinander: jede weiblich wissend, die eine, daß sie schön, die andre, daß sie häßlich war; die eine blutendstes, gefährlichstes, umwittertstes Leben, Bewußtsein, Adel, Freiheit; die andere Anbetung, sehnsüchtiges Emporlangen nach diesem Leben und dieser Freiheit.
Johanna hatte den Arm um Eva gelegt, zart und behutsam. Sie bog den Kopf, bis ihre Wange Evas bloße Schulter berührte und sagte mit ihrem bizarren Lächeln: »Wie gut, wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß'.«
Sie hatten Christian noch nicht bemerkt; erst eine Gebärde Susannes machte sie aufmerksam. Christian stand im Schatten an der Tür. Johanna erblaßte, ein scheuer Blick ging von Eva zu Christian; sie ließ den Arm von Eva, beugte sich[397] rasch, küßte Evas Hand, flüsterte ein »Gutenacht« und ging, an Christian vorüber, hinaus.
Obwohl Christians Augen gesenkt waren, hielt er Evas Erscheinung umfaßt. Er sah die Füße, die er einst nackt in seinen Händen gehalten, er sah hinter dem dünnen Stoff die wundervollen festen Brüste, er sah die Arme, die sich um ihn geschlungen, die vollendet schönen Hände, deren Liebkosungen er erfahren, von deren Feinheit und Glätte alles, was an ihm Haut und Leib war, noch wußte; er sah sie da vor sich, ganz nah, hoffnungslos unerreichbar, und es war letzte Lockung, letzter Verzicht.
»Monsieur hat ein Anliegen,« sagte Susanne Rappard spöttisch und stand auf, um zu gehen.
»Bleib nur,« befahl Eva und hatte für Christian einen Blick wie für einen Lakaien.
»Ich wollte dich fragen,« begann Christian leise, »was der Name Eidolon bedeutet, mit dem du mich früher gerufen hast. Ich komme damit ein wenig spät, es ist albern, ich weiß es,« er lächelte verlegen, »aber es quält mich, sooft ich darüber nachdenke, und ich hatte mir vorgenommen, dich um Aufklärung zu bitten.«
Susanne lachte heimlich im Winkel, denn die Frage klang in ihrer Verspätung und grundlosen Dringlichkeit in der Tat recht einfältig. Auch Eva schien ergötzt, verbarg es aber; sie blickte ihre Hände an und antwortete: »Es ist schwer zu sagen, was es bedeutet. Ein Ding, das man opfert, oder einen Gott, dem man opfert, ein schöner, heiterer Genius. Eines von beiden, vielleicht auch beides zugleich. Wozu daran erinnern? Es gibt keinen Eidolon mehr. Er ist mir zerschlagen worden, und man soll mir nicht die Scherben zeigen. Scherben sind häßlich.«
Sie schauderte ein wenig, ihr Blick funkelte, und sie wandte sich zu Susanne. »Laß mich morgen schlafen, bis ich von selbst erwache,« sagte sie. »Ich träume jetzt so schlecht in der Nacht, erst frühmorgens finde ich Ruhe.«
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
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