[391] Christian, die beiden Brüder Maelbeck, die aus Holland mitgereist waren, Botho von Thüngen, ein russischer Staatsrat namens Koch und Crammon saßen beim Mittagessen im Speisesaal.
Das Gespräch drehte sich um einen an einer Prostituierten verübten Mord. Den Täter hatte die Polizei bereits dingfest gemacht. Es war ein Mann, der einst der guten Gesellschaft angehört hatte, aber nach und nach verkommen war. In einer Matrosenherberge hatte er das Mädchen erdrosselt und beraubt.
Nun hatten alle Prostituierten der Stadt einhellig beschlossen, der ihrem Beruf zum Opfer gefallenen Kollegin im Angesicht der Welt die letzte Ehre zu erweisen und ihrem Sarg zum Grab zu folgen. Darin erblickten die anständigen Bürger eine Herausforderung; es wurde Einspruch erhoben, aber die Behörde[391] hatte keinen Rechtstitel, gegen die Veranstaltung einzuschreiten.
»Man müßte sichs ansehen,« sagte Crammon, »ein solches Schauspiel ist ein Verdauungsschläfchen wert.«
»Dann wäre keine Zeit zu verlieren,« bemerkte der ältere Maelbeck und schaute auf die Uhr; »punkt drei versammeln sich die Leidtragenden vor dem Trauerhaus.« Er lächelte; die Worte Leidtragende und Trauerhaus sollten witzig klingen.
Christian erklärte, mitgehen zu wollen; das Auto brachte sie an einen Straßenzugang, der durch Polizei abgesperrt war. Sie verließen den Wagen, Herr von Thüngen verhandelte mit dem Polizeioffizier, und sie durften passieren.
Eine dichte Menschenmenge umgab sie alsbald, Matrosen, Fischer, Arbeiter, Zuhälter, Weiber und Kinder, lauter geringes Volk. In den Häusern waren die Fenster Kopf bei Kopf besetzt. Die Maelbecks und Staatsrat Koch blieben stehen und riefen Thüngen, der sich zu ihnen gesellte. Christian ging weiter. Ihr Verhalten berührte ihn aus irgendeinem Grunde nicht angenehm. Die Art der Neugier, von der er sie erfüllt wußte, war ihm plötzlich nicht angenehm. Auch er empfand Neugier, aber sie war nicht von derselben Beschaffenheit, so schien es ihm wenigstens.
Crammon blieb an seiner Seite. Das Gewühl wurde beängstigend. »Wohin gehst du denn?« fragte Crammon mürrisch; »es hat ja keinen Zweck, weiterzugehen; laß uns einfach warten.«
Christian schüttelte den Kopf.
»Genug. Hier wird Posten gefaßt. Hier stehe ich,« entschied Crammon und trennte sich von Christian.
Christian schob sich bis in die Nähe des alten, schmutzigen Hauses, vor dessen Toreinfahrt der Leichenwagen stand. Es war ein nebliger Tag; der schwarze Wagen wirkte wie ein Loch im Grau der Luft. Er wollte noch ein paar Schritte weiter gehen, aber mehrere Burschen verhinderten ihn durch[392] absichtliche Unbeweglichkeit daran. Sie drehten die Köpfe und musterten ihn. Sie witterten seine Welt. Ihre Kleidung war von frecher und billiger Eleganz; Blick und Miene machten ihr Gewerbe erkennbar. Einer war von riesenhaftem Wuchs. Er überragte Christian noch um Stirnhöhe; seine Brauen waren zusammengewachsen. Am Zeigefinger der linken Hand trug er einen Siegelring mit einem Karneol.
Uneingeschüchtert sah sich Christian um. Er sah Hunderte von Mädchen, Aberhunderte; alle Altersklassen zwischen sechzehn und fünfzig; alle Abstufungen zwischen Frische und Fäulnis, alle Grade zwischen Luxus und Elend.
Es waren die gekommen, die auf bewegter Bahn den Zenit überschritten hatten, und die, die noch am Anfang standen, kaum den Kinderschuhen entwachsen, leichtsinnig, sanguinisch, gefallsüchtig und schon mit allem Schlamm der Großstadt vertraut. Sie waren da von allen Straßen, allen Nationen, allen Gesellschaftsklassen; aus umfriedeter Jugend und aus verlorener; aus tieferer Verworfenheit gestiegen, aus der Höhe gestürzt; solche, die sich als Parias fühlten, mit dem Haß des Parias in den Mienen, und andere, die einen gewissen Standesstolz zur Schau trugen und sich absonderten; die ausgehaltene Kokotte, das Mädchen mit dem behördlichen Schein, die von ihrer Gefängnisluft gebleichte Bordellbewohnerin, die aufgetakelte Kasernierte und Nachtwandrerin, die kranke, vertierte Vettel, die unsichere Novize mit Überbleibseln von Selbstbesinnung und Erinnerung an Reinheit und Harmlosigkeit.
Er sah sorgenvolle Gesichter und zynische, liebliche und verrohte, gleichgültige und verstörte, gierige und sanfte, gepflegte und verwahrloste, bemalte und fahle, die seltsam nackt wirkten.
Er kannte sie aus vielen Gassen und Häusern vieler Städte, wie jeder Mann sie kennt. Er kannte den Typus, die Prägung, die eingelernte Gebärde und den Blick, diesen harten,[393] starren, stumpfen, saugenden, taglosen Blick. Aber er hatte sie nie anders gesehen, als ihrem Zweck überliefert, hinter den Gittern des Berufs, verstellt, einzeln und einzeln ausgelöscht, unter dem Fluch des Geschlechts. Sie von all dem abgeschnitten vor sich zu haben, viele Hunderte, sie ohne den Reiz und Anhauch trüber Sexualität als Menschen zu erblicken, das riß ihm eine Wolke von den Augen weg.
Er dachte: ich muß noch Auftrag geben, das Jagdhaus zu verkaufen und die Rüden.
Der Sarg wurde aus dem Hause getragen. Er war hoch bedeckt mit Blumen und Kränzen. Goldbedruckte Schleifen flatterten herab. Christian spürte Neugier, zu lesen, was auf den Schleifen stand, aber es war nicht möglich. Der Sarg hatte kleine, gedrechselte, versilberte Füße, die Tiertatzen ähnlich sahen; jedoch war durch irgendeinen Zufall einer abgebrochen. Das berührte Christian als etwas entsetzlich Armseliges, er wußte selbst nicht, weshalb. Hinter dem Sarg schritt ein altes Weib, das eher ärgerlich und verdrossen als bekümmert aussah. An ihrem schwarzen Kleid war unter der Achsel die Naht gerissen. Auch dies war entsetzlich armselig.
Der Leichenwagen setzte sich in Bewegung, sechs Männer mit brennenden Kerzen voraus. Das Geplauder und Stimmengewirr verstummt. Die Dirnen, in Reihen sich ordnend, folgten dem Wagen. Christian blieb stehen, an die Mauer gedrückt und ließ alle vorbeiziehen. Nach einer Viertelstunde war die Straße verödet. Die Fenster in den Häusern schlossen sich. Er stand ganz allein in der Straße, im Nebel.
Als er weiterging, dachte er: ich habe meinem Vater die Ringsammlung in Verwahrung gegeben; es sind über viertausend Ringe, seltene und kostbare Stücke; auch sie könnte man verkaufen. Wozu brauch ich sie, dachte er; ich brauche sie nicht, ich will sie verkaufen.
Er ging und ging, und ohne daß es ihm recht zu Bewußtsein[394] kam, verfloß Stunde auf Stunde. Es wurde Abend, die Lichter glommen irisierend aus dem Nebel. Alles war feucht, sogar die Handschuhe, die er trug.
Er dachte an den fehlenden Silberfuß am Sarg der ermordeten Dirne und an das alte Weib mit der gesprungenen Naht unter der Achsel.
Er schritt über eine der großen Elbbrücken und ging dann am Ufer entlang. Die Gegend war einsam. Unter einem Gaskandelaber blieb er stehen, schaute eine Weile ins Wasser, zog dann die Brieftasche heraus, entnahm ihr einen Hundertmarkschein und betrachtete ihn aufmerksam. Er betrachtete ihn bald von der einen, bald von der andern Seite, schüttelte ein wenig den Kopf und warf ihn mit einer Gebärde des Ekels ins Wasser. Er nahm einen zweiten und machte es ebenso. Es waren zweiundzwanzig Hundertmarkscheine in den Fächern des Portefeuilles. Er nahm einen nach dem andern heraus und ließ sie, mit einem Ausdruck von Ekel und Zerstreutheit mehr aus den Händen gleiten als daß er sie warf.
Er sah sie, von den Lichtern des Gaskandelabers eine Strecke weit beleuchtet, auf dem schwärzlichen Wasser davonschwimmen.
Er lächelte und ging weiter.
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