17

[400] Stephan Gunderam mußte nach Montevideo reisen. Es gab dort einen deutschen Arzt, dem eine geschickte Behandlung nervöser Zustände nachgerühmt wurde. Der stiernackige[400] Riese litt an Schlaflosigkeit und nächtlichen Wahnbildern. Außerdem fand in Montevideo eine Regatta statt, und er hatte schon große Summen beim Totalisateur gesetzt.

Er ernannte Demetrios und Esmeralda zu Aufsichtspersonen über Lätizia. Er sagte zu ihnen: »Wenn der Frau etwas passiert, oder wenn sie sich Ungehöriges zuschulden kommen läßt, schlag ich euch die Knochen im Leib entzwei.« Demetrios grinste, Esmeralda verlangte eine Schachtel langues de chat als Mitbringsel und Belohnung.

Der Abschied zwischen den Gatten war rührend. Stephan biß Lätizia ins Ohrläppchen und sagte dumpf: »Bleib mir treu.«

Alsbald ging Lätizia daran, ihre Wächter mild zu stimmen. Sie schenkte Demetrios hundert Pesos und Esmeralda ein goldnes Armband. Sie stand in geheimem Briefwechsel mit dem Schiffsleutnant Friedrich Pestel; ein Indianerknabe, dessen Verschwiegenheit und Willfährigkeit sie sicher sein durfte, war der Bote. In acht Tagen sollte Pestels Schiff nach Kapstadt auslaufen, also war nicht mehr viel Zeit zu verlieren; erst im nächsten Winter, im Mai, glaubte er wieder in Argentinien sein zu können. Lätizia liebte ihn sehr.

Zwei Meilen von der Estanzia entfernt, lag mitten in den Pampas eine Sternwarte. Ein reicher Viehzüchter, ein Deutscher, hatte sie erbaut, und ein deutscher Professor hauste dann mit zwei Assistenten und beobachtete Nacht für Nacht das Firmament. Lätizia hatte schon oft den Wunsch geäußert, die Sternwarte zu besuchen; Stephan hatte es ihr stets verweigert. Jetzt wollte sie es tun und Friedrich Pestel dort treffen. Sie sehnte sich nach einer Aussprache mit ihm.

Die Sternwarte als Zufluchtsort für Liebende: es war eine Vorstellung für Lätizia, die sie beglückte und jedem Wagnis geneigt machte. Tag und Stunde wurden verabredet, die Umstände begünstigten sie; Riccardo und Paolo waren auf die Jagd geritten, Demetrios war von seinem Vater auf eine[401] nördlich gelegene Farm geschickt worden, die Alten schliefen; nur Esmeralda mußte noch getäuscht werden. Zum Glück hatte sie Kopfschmerz, und es gelang Lätizia, sie zu überreden, daß sie sich zu Bett begab. Die Dämmerung war nahe, da zog Lätizia ein helles, duftiges Kleid an, in welchem sie auch reiten konnte; trotz ihrer Schwangerschaft trug sie kein Bedenken dagegen; dann verließ sie, scheinbar harmlos wandelnd, die Estanzia und ging zur Palmenallee, wo der Indianerknabe, der sie begleiten sollte, mit zwei Ponnies auf sie wartete.

Es war schön, in die unendliche Ebene hinauszureiten. Im Westen stand noch rötlicher Dunst, in dem, zart wie Ahnung, Umrisse einer Hügelkette schwammen. Die Erde litt unter Trockenheit; es hatte lange nicht geregnet, und überall zeigten sich Risse und Sprünge. Hunderte von Barreras, Heuschreckenfallen, waren in den Feldern aufgestellt, und die zwei bis drei Meter breiten Gruben daneben waren voll von den Insekten.

Als sie zur Sternwarte kamen, war es dunkel geworden. Das Gebäude glich einem orientalischen Bethaus. Auf einem länglichen Ziegelunterbau erhob sich eine mächtige Kuppel aus Eisenkonstruktion, deren oberer Teil um eine bewegliche Achse rotieren konnte. Die Fensterläden waren geschlossen, und man sah nirgends Licht. Friedrich Pestel stand am Tor; sein Reittier hatte er an einen Pfahl gebunden. Er berichtete, daß der Professor und die beiden Assistenten seit einer Woche abwesend seien; sie könnten aber in das Observatorium hinauf; der Pförtner, ein alter, fieberkranker Mulatte, den er aus dem Schlaf geklopft, habe ihm die Schlüssel gegeben.

Der Indianerknabe zündete die Laterne an, die am Sattelzeug seines Ponnies hing, Pestel nahm sie und ging Lätizia voran, erst durch einen öden Steinflur, dann über eine Holzstiege, dann über eine eiserne Wendeltreppe. »Das Glück ist uns hold,« sagte er; »nächste Woche ist eine Sonnenfinsternis; es kommen Astronomen aus Europa in Buenos-Aires an,[402] und der Professor ist mit seinen Assistenten hinübergefahren, sie zu empfangen.«

Lätizias Herz schlug erregt. In dem hochgewölbten Observatorium verlor sich das Licht der Laterne kraftlos. Das große Teleskop warf einen furchteinflößenden Schatten; die Zirkel, Winkel und Meßinstrumente auf dem langen Tisch und der photographische Apparat auf dem Stativ sahen aus wie Tiergerippe; die Karten an den Wänden, mit mysteriösen Zeichen und Linien bedeckt, ließen an Zauberkünste denken. Der ganze Raum gemahnte an die Höhle eines Zauberers.

Ein kindlich neugieriges und befriedigtes Lächeln wich nicht von Lätizias Lippen. Einer solchen Stunde bedurfte ihre verschmachtete Phantasie. Sie vergaß Stephan und seine Eifersucht, die ewig streitenden Brüder, den bösen Alten, die zänkische Donna Barbara, die tückische Esmeralda, das Haus, in dem sie gefangengehalten wurde, sie vergaß es völlig, und es gab nur noch diesen Raum mit den Zaubergeräten, diesen Abend, das trübe Flämmchen in der Laterne, und den reizenden jungen Mann, der sie bald küssen würde. Sie hoffte es wenigstens.

Aber Pestel war verlegen. Er trat an das Teleskop, schraubte die blitzende Messingkapsel ab und sagte: »Wir wollen die Sterne anschauen.« Er schaute hinein, dann forderte er Lätizia auf, hineinzuschauen. Lätizia sah milchigen Qualm und aufzuckendes, hüpfendes Feuer. »Sind das die Sterne?« fragte sie mit koketter Melancholie in der Stimme.

Da erzählte Pestel von den Sternen. Sie hörte mit strahlenden Augen zu, obwohl es sie nicht im geringsten interessierte, zu wissen, wieviel Millionen Meilen der Sirius oder der Aldebaran von der Erde entfernt waren und was es mit dem geheimnisvollen Kohlensack des südlichen Himmels für eine Bewandtnis hatte.

»Ach,« hauchte sie bloß. Nachsicht und träumerische Skepsis lagen in dem Ach.[403]

Der Schiffsleutnant, von Kosmos und Unendlichkeit sich abwendend, sprach von sich, von seinem Leben, von Lätizia, von dem Eindruck, den sie auf ihn gemacht, und daß er nur an sie denke, Tag und Nacht nur an sie.

Lätizia blieb mäuschenstill, um ihn nicht aus der Bahn zu bringen und die süße Spannung, die in ihr war, nicht zu stören.

Als gewissenhafter Charakter, der er war, hatte Pestel seinen Zukunftsplan bereits entworfen. Wenn er in sechs Monaten wiederkehrte, sollten der Scheidung und neuen Ehe die Wege geebnet werden. An Flucht denke er nur für den äußersten Notfall.

Er sagte, er sei arm; ein kleines Kapital bloß sei für ihn in Stuttgart deponiert. Er war ein Schwabe. Er war treuherzig und genau.

»Ach,« hauchte Lätizia wieder, halb erstaunt, halb betrübt. »Es macht nichts,« sagte sie entschlossen, »ich bin reich. Ich habe einen großen Wald. Meine Tante, die Gräfin Brainitz, hat ihn mir als Heiratsgut geschenkt.«

»Einen Wald? Wo denn?« fragte Pestel lächelnd.

»In Deutschland. Bei Heiligenkreuz in der Rhön. Er ist so groß wie eine Stadt, und wenn man ihn verkauft, kann man viel Geld dafür bekommen. Ich bin nie dort gewesen, aber jemand hat mir erzählt, daß ein riesiges Erzlager in ihm verborgen sei. Man müßte es finden und ausbeuten, dann wäre man noch viel reicher, als wenn man den Wald verkaufte.« Dies war eine Phantasie Lätizias, Ausgeburt eines wünschenden Traums, der in ihr Festigkeit und Gestalt gewonnen hatte, seit sie hier in Argentinien Leibeigene war. Sie log nicht; sie wußte selbst nicht mehr, daß sie es erfunden hatte; sie wünschte, und damit war Wirklichkeit entstanden.

»Es wäre ein unfaßliches Glück,« antwortete Friedrich Pestel nachdenklich.[404]

Die Worte rührten Lätizia. Sie begann zu schluchzen und warf sich ihm an die Brust. Ihr junges Leben dünkte ihr hart; sie sah es häßlich und von Gefahren umstellt. Nichts von dem, was sie erwartet, war in Erfüllung gegangen; es waren Seifenblasen gewesen, die im Wind zerplatzten. Ihre Tränen kamen aus der Erkenntnis davon und aus der Angst vor den Menschen und vor dem Schicksal. Sie sehnte sich nach starken Armen, die ihr Schutz und Sicherheit boten.

Pestel umfing sie erschüttert und wagte einen Kuß auf ihre Stirn. Sie schluchzte noch heftiger, da küßte er sie auf den Mund. Sie lächelte. Er wolle sie bis an seinen Tod lieben, stammelte er; niemals sei ihm eine Frau wie sie begegnet, nie habe er Ähnliches empfunden.

Sie gestand ihm, daß sie von dem Mann, an den sie unliebend gekettet war, guter Hoffnung sei. Pestel drückte sie innig an seine Brust und sagte: »Das Kind ist Blut von deinem Blut und ich will es wie mein eignes ansehen.«

Die Zeit drängte zum Aufbruch. Sich bei den Händen haltend, gingen sie die Treppen hinunter. Mit dem Versprechen, einander täglich zu schreiben, schieden sie.

Ich will mit ihm auf ein Schiff gehn und fliehen, wenn er von Afrika zurückkehrt, beschloß Lätizia, als sie durch die kühle Pampasnacht langsam der Estanzia zuritt; alles andere ist häßlich und langweilig. Wär es nur bald, wär nur alles schon vorüber, dachte sie mit Sorge und Herzweh. Und die Neugier regte sich in ihr, wie sich Pestel benehmen, wie er der Schwierigkeiten und Hindernisse Herr werden würde. Sie glaubte an ihn und begann schon zarte und verführerische Bilder der Zukunft zu malen.

In der Estanzia hatte man sie vermißt, und Leute waren ausgeschickt worden, sie zu suchen. Auf Umwegen schlich sie ins Haus und in ihr Zimmer und kam dann mit unschuldiger Miene zum Vorschein.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 400-405.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
Christian Wahnschaffe (2)
Christian Wahnschaffe (2); Roman in Zwei Banden
Christian Wahnschaffe Band 1
Christian Wahnschaffe Band 2
Christian Wahnschaffe: Roman

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon