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[405] Stettner war zurückgekehrt; das Schiff, mit dem er fuhr, sollte am selben Abend die Anker lichten. Er hatte noch einige Geschäfte in der Stadt zu besorgen; Christian und Crammon warteten auf ihn, um ihm das Abschiedsgeleit zu geben.

Crammon sagte: »Ein Husarenrittmeister, der mir plötzlich in Jackett und Stehkragen entgegentritt – ich kann mir nicht helfen, es hat etwas Verzweifeltes. Es macht mir ein Gefühl, als müßt ich ihm immerfort mein Beileid ausdrücken. Schließlich ist es doch Deklassierung. Ich liebe nicht Deklassierung. Die Unterschiede der Stände sind eine gottgewollte Institution; wer sich daran vergreift, leidet Schaden an seiner Seele. Einen Beruf schmeißt man nicht fort wie einen faulen Apfel. Es sind heikle Dinge; der gemeine Verstand setzt sich darüber hinweg, der höhere behandelt sie mit Ehrfurcht. Was sucht er denn bei den Yankees, was kann ihm da Gutes blühen?«

»Er ist seiner Neigung nach Chemiker und hat viel in dem Fach studiert; das wird ihm helfen,« antwortete Christian.

»Bah, danach fragen die Yankees nicht. Man stellt ihn irgendwohin, wo tags zuvor einer an Auszehrung krepiert ist, und wenn er da nicht klein beigibt, wird er langsam gevierteilt oder gerädert. Mit dem Stolz in der Mannesbrust ist's vorüber. Es ist ein Land für Diebe, Kellner und Renegaten. Mußte es denn sein, mußte es so weit kommen?«

»Ich glaube, ja,« entgegnete Christian.

Eine Stunde später waren sie mit Stettner am Hafen. Es wurde noch Ladung und Gepäck verstaut, und sie wanderten, Stettner zwischen Christian und Crammon, in einer schmalen Gasse auf und ab, die aus Baumwollballen, Kisten, Fässern und Körben gebildet war. Von den hohen Masten gossen die Bogenlampen übermäßiges Licht; Lärm von Karren, Kranen, Motoren, Glocken, Ausrufern und Bootsführern durchtoste den Nebel. Der Asphalt war naß; einen Himmel gab es nicht.[406]

»Vergeßt mich nicht ganz, ihr im alten Lande hier,« sagte Stettner. Es entstand ein Schweigen.

»Ich weiß nicht, obs uns fürder so wohl bleiben wird im alten Lande,« begann Crammon, der jetzt manchmal pessimistische Anwandlungen und Gesichte hatte; »bislang ists uns ja leidlich gut ergangen. Küche und Keller waren wohlbestellt, wir hatten nicht zu klagen; auch für die höheren Bedürfnisse war gesorgt. Aber die Zeiten werden schlechter, und täusch ich mich nicht, so zieht sich allerlei politisches Gewölk am Horizont zusammen. Sich mit guter Miene aus dem Staub zu machen, ist daher kein so übler Gedanke von Ihnen, mein lieber Stettner, und ich hoffe nur, daß Sie sich da drüben einen Sitzplatz sichern, von dem aus Sie das Schauspiel unsres Debakle in aller Ruhe genießen können. Und wenn die Wellen ganz hoch gehen, dann denken Sie auch unser und lassen Sie eine Messe für uns lesen, d.h. für mich, denn dieser da ist ja ausgestoßen aus dem Schoß der heiligen Kirche.«

Stettner lächelte zu diesen Reden, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Ja, mir scheint, man ist hier ziemlich in der Mausefalle,« erwiderte er. »Ich fühl mich Deutscher wie noch nie, gerade jetzt, wo ich gehe, wahrscheinlich für immer gehe. Aber es ist etwas Schmerzliches um das Gefühl; mir ist, als sollt ich von einem zum andern laufen und warnen. Wovor warnen, warum warnen, das kann ich nicht sagen.«

Crammon versetzte gewichtig: »Meine alte Aglaia schrieb mir neulich, sie habe eine ganze Nacht lang von schwarzen Katzen geträumt. Sie ist ein tiefes Wesen, ein prophetisches Gemüt, und so ein Traum von ihr bedeutet Schlimmes. Es ist denkbar, daß ich in ein Kloster gehe, es liegt im Bereich der Möglichkeiten. Lache nicht, Christian, lache nicht, darling, du kennst mich noch nicht.«

Es war Christian gar nicht eingefallen, zu lachen.

Stettner blieb stehen und reichte beiden die Hand. »Leben[407] Sie wohl, Crammon,« sagte er herzlich, »Dank für das Geleit. Leb wohl, Christian, leb wohl.« Er drückte Christians Hand fest und lange, dann riß er sich los, eilte gegen die Schiffsbrücke und verlor sich im Gewühl.

»Ein netter Kerl,« murmelte Crammon, »schade um den netten Kerl.«

Als sie zum Auto kamen, sagte Christian: »Ich möchte noch ein wenig gehen, zu Fuß ins Hotel zurück oder wohin immer. Gehst du mit, Bernhard?«

Crammon antwortete: »Wenn dus wünschest, bon; um mitzugehen bin ich da.«

Christian schickte den Wagen weg. Es war ihm eigentümlich zumute; er hatte die Empfindung, daß ein Schicksal auf ihn warte.

»Ariels Tage hier sind nun gezählt,« sagte Crammon. »Mich meinerseits ruft die Pflicht. Ich will bei meinen beiden Damen nach dem Rechten schauen; dann muß ich zu Franz Lothar in die Steiermark; Auerhahn, du weißt; dann hab ich dem jungen Sinsheim versprochen, nach Sankt Moritz zu kommen. Und du? Was sind deine Pläne?«

Ein gewaltiges Monument erhob sich vor ihnen. »Der Herr von Bismarck,« sagte Crammon anerkennend. »Ich möchte nicht das ganze Jahr versteinert dastehen und fürchterliche Musterung halten. Also, was planst du, Herzchen?«

»Ich fahre morgen oder übermorgen nach Berlin.«

»Nach Berlin? Was suchst du denn um Gottes willen in Berlin?«

»Ich will arbeiten.«

Crammon blieb stehen, machte den Mund auf und vergaß ihn wieder zu schließen. »Arbeiten?« keuchte er fassungslos und war mit zwei Sprüngen wieder an Christians Seite. »Arbeiten? Was denn, wie denn, du Unglückseliger?«

»Ich will Vorlesungen an der Universität hören. Ich will es mit der Medizin versuchen.«[408]

Crammon schüttelte entsetzt den Kopf. »Arbeiten ... Vorlesungen ... Medizin ... heilige Gnade! du hörst es, Ewiger! Als ob nicht genug Schweiß in der Welt wäre, nicht genug Stümperei, nicht genug Afterweisheit, nicht genug Streberei und Handlangerei. Das kann doch dein Ernst nicht sein.«

»Du übertreibst, Bernhard, wie immer,« antwortete Christian lächelnd. »Laß doch das Jammern. Es ist ja etwas Einfaches und Selbstverständliches, was ich tue. Auch probier ich's ja nur mal erst; ich weiß ja noch gar nicht, ob ichs können werde. Aber probieren muß ichs, daran kannst du nichts ändern.«

Crammon erhob die Hand mit gestrecktem Zeigefinger und sagte feierlich düster: »Du wandelst einen schlimmen Pfad, Christian, glaube mir, einen verderblichen Pfad. Mir ahnt Gräßliches, schon lange, lange schon. Der Schlaf meiner Nächte ist bitter geworden deinetwegen; der Gram nagt an mir, meine Ruh ist hin. Wie soll ich im Schneegebirge den Auerhahn schießen, wenn ich dich bei den Pharisäern weiß? Wie soll ich ein Rakett schwingen und einen Angelhaken schleudern, wenn mein innres Auge dich über schmierige Folianten gebeugt und an bresthaften Leibern herumstochern sieht? Mir wird kein Wein mehr heiter im Glase perlen, mir wird kein Mädchen mehr freundlich blicken, mir wird keine süße Birne mehr schmecken.«

»Doch, doch, Bernhard,« lachte Christian. »Ich hoffe sogar, daß du manchmal zu mir kommen wirst, um dich zu überzeugen, daß du mich nicht ganz zu verwerfen brauchst.«

Crammon seufzte. »Ich muß wohl,« erwiderte er, »muß wohl kommen, und das bald, sonst wird der böse Geist übermächtig in dir, und das verhüte Gott.«

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 405-409.
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