22

[423] Als das junge Mädchen fortgegangen war, legte sich Christian auf die Ottomane, verschränkte die Hände hinter dem Kopf, und so lag er, bis der Morgen anbrach. Das Licht hatte er nicht verlöscht. Die Augen fielen ihm nicht zu.

Er sah die ausgetretenen Treppen, die zur Kaschemme führten, und den von vielen Füßen beschmutzten Teppich auf der Treppe des kleinen Hafengasthofs; er sah die Laterne in der verödeten Gasse und die bunt karierte Weste des Wirtes mit den klappernden Anhängseln; er sah die Kognakflasche auf dem Regal und das grüne Umhangtuch eines der betrunkenen Weiber, er sah die tätowierten Zeichen auf den nackten[423] Armen des Matrosen: den Anker, das beflügelte Rad, den Phallus, den Fisch, die Schlange; er sah die Gummikirschen auf dem Lacklederhut der Prostituierten, die silberne Brosche mit den eingelegten Granatsteinen und der albernen Devise: Ricordo di Venezia.

Je länger er lag und an diese Dinge dachte, ein je gewisseres Gefühl von Befreiung und Freiheit weckten sie in ihm, je mehr schienen sie ihm geeignet, ihn von andern Dingen zu erlösen, die er bisher geliebt hatte, den seltenen, und kostbaren Dingen, die er ausschließlich und ergebnislos geliebt hatte; auch von den Menschen, zu denen sie alle in Beziehung standen, und mit denen er zu keinem Ergebnis gelangt war.

Wie er so lag und schaute, lebte er in den armseligen und gemeinen Dingen drin; alle ergebnislosen Beschäftigungen und Beziehungen verloren ihre Wichtigkeit in seinen Augen, und der Gedanke an Eva hörte auf, ihn zu quälen und zu ergebnisloser Erniedrigung zu verführen.

Das strahlende und königliche Wesen lockte ihn nicht mehr, wenn er an das blutüberströmte Gesicht der Dirne dachte, denn diesem gegenüber empfand er eine Art von Neugier, die mehr und mehr sein ganzes Inneres ausfüllte, so daß nichts daneben Platz hatte.

Als der Tag graute, schlief er ein, aber nach einer Stunde erwachte er wieder, erhob sich, wusch das Gesicht mit kaltem Wasser, dann verließ er das Hotel, nahm einen Wagen und ließ sich in das Hafengasthaus zum König von Griechenland fahren.

Der Nachtportier war noch auf seinem Posten. Er erkannte den frühen Gast wieder und geleitete ihn mit unangenehmem Eifer über zwei Stiegen bis an das Zimmer von Karen Engelschall.

Christian pochte; es blieb drinnen still. »Gehen Sie nur hinein, mein Herr,« sagte der Portier; »Schlüssel ist keiner da, und der Riegel funktioniert nicht. Es passiert so allerlei,[424] und da ist es besser für uns, wenn die Türen unverschlossen bleiben müssen.«

Christian trat ein. Es war ein Raum mit häßlichen braunen Möbeln, einem dunkelroten Plüschsofa, einem runden Toilettespiegel mit einem Sprung in der Mitte, einer elektrischen Birne mit weißem Sturz an einem Messingstab und einem Öldruckbild des Kaisers an der Wand. Alles war voll Staub, abgegriffen, abgetreten, abgesessen, armselig und gemein.

Karen Engelschall lag im Bett und schlief. Sie lag auf dem Rücken; das verwilderte Haargestrüpp glich einem Bündel Stroh; das Gesicht war blaß und etwas gedunsen. Auf der Stirn und der rechten Wange waren frische Narben. Die volle, aber schlaffe Brust quoll über der Decke heraus.

Der alte heftige Widerwille gegen schlafende Menschen regte sich in Christian; er wurde dessen Herr und betrachtete das Gesicht. Er sann darüber nach, aus welchem Stande sie hervorgegangen sein mochte, ob sie eine Fischers- oder Schifferstochter war, eine Kleinbürgerin, eine Proletarierin, eine Bäuerin. Dies beschäftigte seine Neugier eine Weile, dann fiel ihm die unsägliche Verstörung der Züge auf. Es war ein Gesicht ohne Böses, ohne Gutes, wie es da schlafend lag, aber zerrissen wie von unerhört quälenden Träumen. Da dachte Christian an den Karneol an der Hand des Menschen, der sie geschlagen; der widerlichrote Stein, der an ein Insekt oder an ein Stück rohes Fleisch erinnerte, wurde ihm außerordentlich gegenwärtig.

Er machte eine Bewegung und stieß an einen Stuhl; von dem Geräusch erwachte Karen Engelschall. Sie schlug die Lider auf, und Furcht und Entsetzen brannten in ihren Augen, als sie die Gestalt im Zimmer gewahrte; die Züge verzerrten sich furienhaft, der Mund öffnete sich hohl zu einem Schrei. Dann sah sie, wer der Eindringling war; sie hatte sich halb aufgerichtet; sie fiel in die Kissen zurück und seufzte erleichtert. Ihr Blick bekam wieder das Störrische, ihr Gesicht den[425] Ausdruck erzwungener Fügsamkeit. Sie lauerte; sie wußte sich den Besuch nicht zu deuten; sie schien sich zu wundern und überlegte. Sie zog die Decke bis ans Kinn und lächelte halb geschmeichelt, halb schal.

Unwillkürlich forschten Christians Blicke nach der grellroten Schleife und der silbernen Brosche. Die Kleider des Mädchens waren unordentlich über einen Stuhl geworfen. Der Hut mit den Gummikirschen lag auf dem Tisch.

»Warum stehen Sie?« fragte Karen Engelschall mit heiserer Stimme, »setzen Sie sich doch.« Wieder wie in der Nacht war sie von seiner Schönheit und Vornehmheit verblüfft. Er ist ein Baron oder ein Graf, überlegte sie und lächelte das schale Lächeln. Sie war ausgeschlafen und fühlte sich ziemlich wohl.

»Sie können nicht lang in diesem Haus bleiben,« begann Christian mit höflichem Ton; »ich habe darüber nachgedacht, was man für Sie tun könnte. Ihr Zustand fordert eine gewisse Schonung. Sie dürfen sich den Mißhandlungen jenes Menschen nicht mehr aussetzen. Es wäre am besten, wenn Sie die Stadt verließen.«

Karen Engelschall lachte kurz. »Die Stadt verlassen? Wie soll ich denn das machen? Unsereins muß bleiben, wo es hingestellt wird.«

»Hat er irgendein Anrecht auf Sie?« fragte Christian.

»Anrecht? Wieso? Wie meinen Sie das? Ach so. Nein, nein. Es ist nur so, wie es eben bei unserm Geschäft ist. Man hat den zum Schutz, dem man das Geld gibt, und vor dem nehmen sich die andern in acht. Wenn er stark ist und viele Freunde hat, geschieht einem nichts. Schlechte Kerle sind sie alle, aber man darf nicht groß wählen, sie sitzen einem ganz eklig auf der Pfanne. Man hat Tag und Nacht keine Ruh; das Fleisch wird müd, sag ich Ihnen.«

»Das kann ich mir denken,« erwiderte Christian und blickte eine Sekunde lang in Karens runde, unschimmernde Augen;[426] »deswegen wollte ich mich Ihnen zur Verfügung stellen. Ich reise heute oder morgen von hier ab und bleibe wahrscheinlich einige Monate in Berlin. Ich bin bereit, Sie mit mir zu nehmen. Sie dürften aber Ihren Entschluß nicht verzögern, denn ich habe vorläufig keine Adresse dort, das heißt, ich weiß noch nicht, wo ich wohnen werde, und wenn man ein solches Vorhaben verschiebt, wird es meistens nie ausgeführt. Momentan sind Sie für Ihren Verfolger so gut wie verschwunden, und diese Gelegenheit scheint mir günstig. Sie brauchen Ihre Sachen nicht zu holen; ich werde Ihnen, was Sie nötig haben, dort verschaffen.«

Diese mit Freundlichkeit gesprochenen Worte übten nicht die Wirkung, die Christian erwartet hatte. Karen Engelschall faßte das Einfache und Offene darin nicht. Höhnischer Verdacht stieg in ihr auf; sie wußte von Sittenaposteln und Heilspredigern, die in der Welt der Dirnen im allgemeinen so gefürchtet waren, wie die Sendlinge der Polizei; aber bei schärferem Hinsehen verriet ihr ein Instinkt, daß sie mit solchem Argwohn fehlging. Schwerfällig tastend, verirrte sie sich in andre Vermutungen, romanhaftere, dachte an ein Komplott, an Verschleppung, an ein Schicksal, das noch unerträglicher sein konnte als das unter der Botmäßigkeit ihres bisherigen Peinigers. Darüber grübelte sie in Hast und Groll mit verdüsterten Mienen, verkrampfter Faust, aus Furcht in Hoffnung, aus Hoffnung in Mißtrauen gerissen, dabei, wie schon gestern, von etwas bezwungen, dem man sich nicht entziehen konnte, so viel man sich auch sträubte, dem man unter allen Umständen gehorchen mußte.

»Was wollen Sie denn eigentlich von mir?« fragte sie und heftete einen durchdringenden Blick auf ihn.

Christian besann sich, um jedes Wort zu erwägen und entgegnete: »Nichts anderes, als was ich Ihnen gesagt habe.«

Sie schwieg und starrte auf ihre Hände. »Meine Mutter[427] lebt in Berlin,« murmelte sie. »Soll ich am Ende zu der gehen? Ich möchte nicht.«

»Sie sollen zu mir gehen,« sagte Christian fest, beinahe hart. Seine Brust füllte sich mit Atem und leerte sich wie ein Blasebalg über Schmiedefeuer. Das Wort war gesprochen.

Karen schaute ihn abermals an. Jetzt war ihr Blick ernst und nüchtern. »Was soll ich bei Ihnen denn?« fragte sie.

Christian antwortete zögernd: »Darüber bin ich noch nicht schlüssig geworden. Ich muß es erst überlegen.«

Karen faltete die Hände. »Aber wer Sie sind, muß ich doch wissen.«

Er nannte seinen Namen.

»Ich bin ein schwangeres Weib,« fuhr sie mit finsterm Gesicht fort, und zum erstenmal zitterte ihre Stimme; »ein Straßenmädchen, das schwanger ist. Wissen Sie das? Das Miserabelste und Ludrigste, was es in der Welt gibt; wissen Sie das?«

»Ich weiß es,« sagte Christian und schlug die Augen nieder.

»Was wollen Sie also mit mir anfangen, so ein feiner Herr, wie Sie sind? Warum interessieren Sie sich für so eine?« drängte sie.

»Ich kann Ihnen das jetzt nicht erklären,« erwiderte Christian befangen.

»Was soll ich also tun? Mit Ihnen gehen, sagen Sie? Gleich?«

»Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Sie um zwei Uhr mittags abholen, und wir fahren zum Bahnhof.«

»Und Sie genieren sich mit mir gar nicht?«

»Nein, ich geniere mich nicht.«

»In meinem Aufzug? Und wenn die Leute mit Fingern auf das Mensch weisen, das mit dem eleganten Herrn geht?«

»Es ist gleichgültig, was die Leute tun.«

»Schön; so will ich warten.« Sie kreuzte die Arme über der Brust, starrte zur Decke des Zimmers empor und rührte[428] sich nicht mehr. Christian erhob sich, nickte und ging. Auch als er fort war, blieb Karen unbeweglich. Eine tiefe Falte grub sich in ihre Stirn; die frischen Narben leuchteten auf der fahlen Haut wie Brandmale; ein dumpfes, animalisches Staunen machte die Augen leichenhaft glanzlos.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 423-429.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
Christian Wahnschaffe (2)
Christian Wahnschaffe (2); Roman in Zwei Banden
Christian Wahnschaffe Band 1
Christian Wahnschaffe Band 2
Christian Wahnschaffe: Roman

Buchempfehlung

Anselm von Canterbury

Warum Gott Mensch geworden

Warum Gott Mensch geworden

Anselm vertritt die Satisfaktionslehre, nach der der Tod Jesu ein nötiges Opfer war, um Gottes Ehrverletzung durch den Sündenfall des Menschen zu sühnen. Nur Gott selbst war groß genug, das Opfer den menschlichen Sündenfall überwiegen zu lassen, daher musste Gott Mensch werden und sündenlos sterben.

86 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon