[352] Christian und Amadeus Voß gingen in Antwerpen über den Quai Kockerill.
Ein großer Amerikadampfer lag, stumm und leer noch, am Molo. Die Zwischendeckspassagiere warteten an seinen Flanken auf die Stunde, wo sie Einlaß finden würden. Es waren polnische Bauern, russische Juden, Männer, Weiber, Greise, Greisinnen, Säuglinge, Kinder; hingekauert auf die Steinfliesen, auf ihre schmutzigen Bündel gekauert; schmutzig selber, verwahrlost, müde, teilnahmslos brütend, ein trauriger Wirrwarr von Leibern und Fetzen. Man hörte reden, schreien, lachen, singen, fluchen, ein trauriger Wirrwarr von menschlichen Lauten.
Der gewaltige Sonnenball rollte blutrot und zitternd auf dem Wasser.
Christian und Amadeus blieben stehen. Nach einer Weile[352] gingen sie weiter, doch Christian wollte zurückkehren, und sie kehrten zurück. Bei einem Straßenübergang vor dem Lager der Auswanderer sperrten zehn oder zwölf von Eseln gezogene Karren den Weg. Die Karren sahen aus wie halbierte Fässer auf Rädern und waren beladen mit geräucherten Makrelen.
»Kauft Makrelen,« riefen die Karrenführer, »kauft Makrelen!« Und sie knallten mit den Peitschen.
Einige Auswanderer kamen herüber, glotzten hungrig, berieten sich mit andern, die schon nach Münzen in ihren Taschen suchten, bis endlich Entschlossene sich zum Kauf anschickten.
Da sagte Christian zu Voß: »Wir wollen die Fische kaufen und sie austeilen. Was meinst du?«
Amadeus Voß erwiderte verdrossen: »Tu nach deinem Belieben. Große Herren müssen ihren Spaß haben.« Es war ihm unbehaglich in der entstehenden Menschenansammlung.
Christian wandte sich an einen der Händler. Er hatte Mühe, sich mit seinem korrekten Französisch verständlich zu machen. Nach und nach gelang es; der Mann rief die andern Händler herzu; aufgeregtes Schwatzen und Gestikulieren erfolgte; Summen wurden genannt, erwogen, verworfen. Es war für Christian zu langweilig und zeitraubend; er schlug den höchsten Preis, der beraten wurde, noch um ein Erhebliches auf, nahm die Brieftasche und reichte sie Amadeus, damit er die Leute bezahle. Dann sagte er zu der um ihn anwachsenden Schar der Auswanderer auf deutsch: »Die Fische gehören euch.«
Ein paar unter ihnen faßten seine Worte und erklärten sie den übrigen. Zaghaft wagten sie sich vor. Ein leberkrankes Weib, zitronengelb im Gesicht, war die erste, die zupackte. Bald kamen Hunderte, von allen Seiten kamen sie mit Körben, Töpfen, Netzen, Säcken. Das Gedränge wurde von mehreren Alten in Ordnung gewandelt. Einer, im Kaftan, mit wallendem weißen Bart, bückte sich vor Christian dreimal fast bis zur Erde.[353]
Zum Zweck gerechter Verteilung tätig einzugreifen trieb es Christian in einer Anwandlung von Übermut. Er streifte die Ärmel auf und warf mit seinen verwöhnten Händen die fetten und stark riechenden Fische in die Gefäße. Lachend beschmutzte er sich mit den Fischen. Auch die Händler lachten, und müßige Zuschauer lachten. Sie hielten ihn für einen verrückten jungen Engländer, der sich darin gefiel, die Straße zu ergötzen. Plötzlich ekelte ihm vor dem Geruch der Fische und mehr noch vor dem Geruch der Menschen. Er roch die Kleider und den Atem, ihn widerten ihre Zähne und ihre Finger, ihr Haar und ihre Schuhe; er dachte sich in Zwangsangst ihre Körper ohne die Gewänder und schauderte vor ihrem Fleisch. Da ließ er es sein und ging im Schutz der Dämmerung davon.
Seine Hände rochen nach geräucherten Fischen. Als er durch die Straßen ging, die von dem Geschehenen nichts wußten, war der Abend leer.
Amadeus Voß hatte sich aus dem Staub gemacht. Er wartete vor dem Hotel. Dort hatte sich das Automobilgeschwader eingefunden, das Eva auf der Reise nach Deutschland folgte. Auch Crammon und Johanna Schöntag waren dabei.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
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