[349] Crammon und Johanna Schöntag saßen in der Halle des Hotels. Sie hatten soupiert. Johannas Gesellschafterin, Fräulein Grabmeier, hatte sich bereits zurückgezogen.
»Sie müssen sich gedulden, Rumpelstilzchen,« sagte Crammon; »er hat leider noch nicht angebissen, der Köder schwimmt noch.«
»Ich werde mich gedulden, gnädiger Herr,« erwiderte Johanna mit brüchiger Knabenstimme, und ein lustiges Blitzen flog über ihr kleines Gesicht, in dem sich Anmut und Häßlichkeit seltsam vereinigten; »es fällt mir auch gar nicht schwer, denn schließlich geht bei mir alles schief. Erfüllt sich unerwarteterweise einmal etwas, worauf ich mich gefreut habe,[349] so bin ich sterbensunglücklich, weil es doch ganz anders ist, als ich mirs vorgestellt hab. Es kann mir daher nichts Besseres widerfahren, als daß meine Wünsche unerfüllt bleiben.«
»Ein problematisches Menschenkind,« sagte Crammon verwundert.
Johanna seufzte komisch. »Ich rate Ihnen, mein lieber Gönner, sich meiner postwendend zu entledigen,« fuhr sie fort und reckte das magere Hälschen mit absichtlich bizarrer Eckigkeit aller Bewegungen; »ich bin ein Verkehrshindernis, ich bin das personifizierte böse Omen. Bei meiner Geburt ist eine Dame namens Kassandra erschienen, und was für unerquickliche Sachen von der erzählt werden, weiß ja jeder Gebildete. Erinnern Sie sich, wie wir in Ashburnhill nach der Scheibe geschossen haben und ich ins Schwarze traf? Alle waren starr, Sie auch, am meisten ich selber. Es war nämlich der frechste Zufall, den man sich denken kann. Das Gewehr war losgegangen, eh ich gezielt hatte. Durch solche kleine und wertlose Geschenke will sich das Schicksal bei mir beliebt machen und mich einschläfern. Aber mich schläfert man nicht ein. Ha, eine Nonne, eine Nonne,« unterbrach sie sich bestürzt und sah mit weitaufgerissenen Augen in den Garten, wo eine Ursulinerin vorüberging; sie schlug die Arme kreuzweis übereinander und zählte mit erstaunlicher Zungengeläufigkeit: »Sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.« Dann lachte sie und zeigte zwei Reihen wunderbarer Zähne.
»Ist das der Brauch, wenn eine Nonne erscheint?« erkundigte sich Crammon fachmännisch angeregt.
»Die rituelle Vorschrift, jawohl. Aber sie war verschwunden, bevor ich bei eins war, und das bedeutet nichts Gutes. Übrigens, Herr Baron, Ihre sportliche Terminologie ist mir suspekt. Was heißt das: er hat nicht angebissen, der Köder schwimmt noch? Ich bitte sich zu menagieren. Ich bin eine schutzlose Reisende und auf Ihre delikateste Ritterlichkeit angewiesen. Wenn Sie mein ohnehin trübes Selbstbewußtsein[350] durch Reminiszenzen an die Forellenfischerei erschüttern, telephonier ich an die Schlafwagengesellschaft um zwei Betten nach Wien. Für mich und Fräulein Grabmeier natürlich.«
Sie liebte gewagte Anspielungen, denen sie dann unbefangen entschlüpfen konnte. Crammon brach in verspätetes Gelächter aus, und diese Verspätung seiner Heiterkeit erregte wieder Johannas Heiterkeit.
Sie war wachsam, nichts entging ihrem aufmerkenden Blick; Wesen und Treiben der Menschen interessierte sie brennend. Sie beugte sich zu Crammon, sie tuschelten, er mußte erzählen, wenn ein Gesicht oder eine Figur aus andern hervortrat. Die Chronik internationaler Lebensläufe und Begebenheiten, die er magistral beherrschte, war unerschöpflich; ließ ihn das Gedächtnis einmal im Stich, so erfand und dichtete er ein bißchen. Erbstreitigkeiten, Familienzwiste, illegitime Herkunft, Ehebrüche, Verschwägerungen, alles war ihm geläufig. Johanna hörte lächelnd zu. Sie lugte nach allen Tischen, hielt jede ungewöhnliche Erscheinung fest; eine Glosse, ein spitzbübisches Verziehen des Mundes, und irgendeine Albernheit oder Seltsamkeit eines dieser unbewußten Schauspieler und Schauspielerinnen der großen Welt und der Halbwelt war aufgespießt wie ein Käfer auf einem Pappendeckel.
Plötzlich wurden die beweglichen Pupillen ihrer graublauen Augen größer, die Lippen bildeten einen Bogen kindlichen Entzückens. »Wer ist das?« flüsterte sie und wies mit dem Kinn gegen ein Portal, dem Crammon den Rücken zukehrte. Im selben Moment wußte sie, wer es war, hätte es auch ohne das allgemeine Köpfeheben und Dämpfen der Gespräche gewußt.
Crammon wandte sich um und gewahrte Eva in einer Gruppe von Herren und Damen. Er erhob sich, wartete bis ihr Blick die Richtung zu ihm einschlug und verbeugte sich tief. Eva stutzte; sie hatte ihn seit den Tagen Sir Denis[351] Lays nicht gesehen; sie besann sich, nickte fremd, erkannte ihn dann, stieß mit einer unvergleichlichen Bewegung des Fußes die Rockschleppe zurück und ging, sprechend ehe sie noch sprach, lebhaft auf ihn zu.
Auch Johanna hatte sich erhoben. Das Gestaltchen fiel Eva auf; sie gab Crammon zu verstehen, daß er Pflichten habe und daß sie eine Annäherung der Unbekannten nicht ablehnen würde, auf deren Gesicht Begeisterung und Verehrung so deutlich und rührend zu lesen waren. Crammon stellte Johanna vor, durchaus zeremoniös; Johanna knixte erblassend und errötend; sie erschien sich so nebensächlich, daß sie in Scham ertrank; da riß sie die drei gelben Rosen, die in ihrem Gürtel steckten, heraus und reichte sie Eva mit schüchtern und jäh hingedehntem Arm, und dieser Elan gefiel Eva; sie spürte seine Einmaligkeit und Wahrheit und wußte also auch, was er wert war.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
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