[307] Karen war zur Erde bestattet. Viele Bewohner des Hauses waren mit zum Grab gegangen. Christian glaubte auch Johanna und Voß bemerkt zu haben.
Auf dem Heimweg ging Doktor Voltolini an seiner Seite. Sie gingen eine Weile schweigend, da kehrte sich Christian, ein unangenehmes Gefühl im Rücken verspürend, plötzlich um. Etwa zehn Schritte hinter sich sah er Niels Heinrich Engelschall. Dieser blieb stehen, als Christian stehenblieb, und schaute in eine Auslage.
Auf dem Kirchhof hatte sich Christian von den Freunden losgemacht, die ihn begleitet hatten; auch jetzt wäre er lieber allein gewesen, aber er mochte den Doktor nicht verletzen.
An ein Gespräch anknüpfend, das sie schon vor dem Leichenbegängnis geführt, sagte Doktor Voltolini: »Man müßte diesen Stübbe von seiner Familie trennen und in eine Anstalt schaffen. Das Delirium kann jeden Moment zum Ausbruch gelangen, dann erschlägt er vielleicht die ganze Gesellschaft. Und wenn auch nicht, die arme Frau wird die Mißhandlungen nicht mehr lange aushalten. Sie ist mit ihren Kräften am Ende.«
»Ich bin in den letzten Tagen ein paarmal dazwischen getreten,« antwortete Christian leise; »Leute von nebenan halfen[307] mir. Solch ein Mensch ist ärger als ein Wolf. Und die Kinder stehen herum und zittern.«
»Es ist so schwer, bei den Behörden Präventivmaßregeln durchzusetzen,« sagte Doktor Voltolini; »der Paragraph ist stärker als Vernunft und Menschlichkeit. Ist ein Übel geschehen, so erhebt sich das Gesetz, unbarmherziger oft, als es notwendig wäre. Es abzuwenden, dazu kann man es niemals bewegen.«
Christian drehte sich wieder um. Noch immer ging Niels Heinrich hinter ihm; abermals blieb er stehen, als Christian stehenblieb, sah gleichgültig in die Mitte der Straße und spuckte aufs Trottoir.
»Es wird nicht danach gefragt, was man weiß und will, sondern danach, was man tut,« sprach Christian weitergehend.
»Und das Getane, ist es selbst von der reinsten Absicht beseelt und vom strengsten Pflichtbewußtsein diktiert, wird mit Schmutz beworfen und man muß dafür leiden, wie für ein Verbrechen,« entgegnete Doktor Voltolini bitter.
»Ist Ihnen das widerfahren?« erkundigte sich Christian mit seiner scheinbar konventionellen Teilnahme, doch mit aufgeschlossenem und schon lauschendem Blick.
»Ich rede nicht gern davon,« begann der Doktor mit trüber Miene, »ich habe hier noch mit niemand davon gesprochen. Sie sind der erste, der einzige, bei dem ich den Wunsch habe. Gleich nachdem ich Sie kennenlernte, regte sich der Wunsch in mir. Nicht als ob Sie mir raten oder beistehen könnten; dazu ist es zu spät. Das Unheil hat ausgetobt und gehört der Vergangenheit an. Aber das immerwährende Schweigen nagt, und ich entgehe einer Lähmung, wenn ich Ihnen erzählen kann, was sich mit mir zugetragen hat.«
Christian schüttelte, kaum merkbar übrigens, verwundert den Kopf, denn Worte dieser Art hatten schon viele Menschen zu ihm gesagt, und er begriff die Veranlassung nicht.
Doktor Voltolini fuhr fort: »Bis vor zwei Jahren war[308] ich Arzt in Riedberg bei Freiwaldau im österreichischen Schlesien. Der Ort liegt wenige Meilen von der preußischen Grenze entfernt; in unmittelbarer Nähe hatte man Heilquellen gefunden, Badegäste kamen, die Frequenz nahm von Jahr zu Jahr zu, und ich gelangte mit meiner Familie allmählich zu behaglichen Lebensumständen. Da geschah es zu Anfang des Sommers 1905, daß das Weib eines Häuslers vom Typhus befallen wurde, und ich tat, was meine beschworene Pflicht als Gemeindearzt war, ich zeigte die Erkrankung an. Einige Bürger wollten es verhindern; sogar die Sanitätskommission, deren Vorsitzender der Bürgermeister war, erhob Einwände und stellte mir vor, daß die Kurgäste den Ort verlassen und wahrscheinlich für lange Zeit in Verruf bringen würden. Ich erklärte, ich handle im Interesse des allgemeinen Wohls, demgegenüber kämen materielle Rücksichten nicht in Frage. Sie versuchten es mit Bitten, mit Drohungen; ich ließ mich nicht einschüchtern. Die nächste Folge war, daß eine Militärabteilung, die in Riedberg hätte einquartiert werden sollen und von deren Verweilen man sich Gewinn erhofft hatte, nach einem andern Ort befehligt wurde. Unter den Kurgästen entstand die befürchtete Panik; die meisten ergriffen die Flucht. Nun ergoß sich eine schmutzige Flut von Beschimpfungen über mich; alt und jung tobte in unflätiger Wut. Die Männer erwiderten meinen Gruß nicht; sie spukten aus, wenn sie mich sahen. Der Metzger, der Bäcker, der Milchhändler weigerten sich, meiner Frau die Lebensmittel zu verkaufen. Täglich erhielt ich anonyme Briefe, deren Inhalt Sie sich ungefähr denken können. Die Fenster wurden mir eingeworfen, man kam nicht mehr in meine Sprechstunde, kein Patient wagte es, mich zu rufen, die rückständigen Honorare wurden nicht bezahlt, es regnete Verdächtigungen und Verleumdungen vom albernen Gerede bis zum gefährlichen Inzicht. Endlich wurde mir die Stellung als Gemeindearzt gekündigt. Ich wandte mich an den Reichsverband der Ärzte;[309] dieser richtete einen Appell an die Landesbehörde. Der Gemeinderat und die Sanitätskommission wurden vom Statthalter aufgelöst, der Bürgermeister seines Amtes entsetzt, die Kündigung für ungültig erklärt, und eine Gendarmerieeskorte wurde geschickt, mit dem Auftrag, mich und die Meinen vor Tätlichkeiten zu schützen. Dadurch besserte sich meine Lage mit nichten. Vor körperlichem Schaden konnte man mich bewahren; die Praxis konnte man mir nicht zurückgeben, die Leute zwingen, mir das Geld zu bezahlen, das sie mir seit Jahr und Tag schuldeten, konnte man nicht. Ich war ruiniert. Im Verlauf von fünf Monaten hatte ich einundzwanzig Ehrenbeleidigungsklagen vor Gericht gebracht, und alle waren zu meinen Gunsten entschieden worden. Aber nach jedem Prozeß kam ich mutloser heim. Daß meines Bleibens in Riedberg nicht war, erkannte ich wohl. Aber wohin sollte ich als unbemittelter Landarzt ziehen, wohin mit Frau und Kind und einer alten, gebrechlichen Mutter? Wie sollte ich die Verleumder zum Schweigen bringen, wie die Schande abwaschen, die Kränkung vergessen? Ich hatte keinen Freund, der mich aufrichtete, die Tröstungen meines Weibes beugten mich nur noch tiefer, denn ich spürte ihre eigne Verzweiflung darin. Ich brach zusammen. Elf Monate lag ich in einem Krankenhaus; die Frau unterdes hatte mit beispielloser Energie eine neue Heimstätte, einen neuen Wirkungskreis für mich bereitet; ich erhielt die Erlaubnis, in Deutschland zu praktizieren, ich fing das Leben von vorne an, und obwohl ich kein Vertrauen mehr hatte, weder zu meiner Befähigung noch zu den Menschen, bin ich in meinem Innern wieder ruhig geworden. Unsere Umstände sind die dürftigsten; aber in dieser großen Stadt ist es möglich, sich eine Einsamkeit zu schaffen, in die kein unberufener Blick zu dringen vermag. Lange Zeit konnte ich meinen Beruf nur ausüben, wenn ich vergaß, daß es Menschen waren, mit denen ich zu tun hatte; es waren Mechanismen für mich, an denen ein Fehler zu[310] korrigieren war; Leid und Schmerz, das nahm ich gar nicht in mich auf, und es bemerken zu müssen, war mir verhaßt. Begreifen Sie es? Begreifen Sie diese Fühllosigkeit und Verachtung?«
»Nach allem, was Sie erlebt haben, begreife ich es,« antwortete Christian; »aber ich glaube, Sie stehen nicht mehr ganz auf demselben Standpunkt. Habe ich recht? Ich glaube, es ist eine Wandlung eingetreten.«
»Ja, gewiß, es ist eine Wandlung eingetreten,« bestätigte Doktor Voltolini. »Und zwar –«; er unterbrach sich und warf einen verstohlenen Blick auf seinen Begleiter. Nach einer Pause fragte er scheu: »Warum haben Sie eigentlich damals gelächelt, als Ihnen das Mädchen, die Schirmacher, den Ring zeigte? Erinnern Sie sich? Sie können mir natürlich erwidern: Es war naheliegend, zu lächeln, denn der Stein, der ihr solche Freude machte, war vollkommen wertlos, und sie zu enttäuschen, wäre roh gewesen. Aber es war doch nicht dieses Lächeln; es war ein andres.«
Christian sagte: »Ich weiß es wirklich nicht mehr genau. An den Ring und an die Freude des Mädchens erinnere ich mich. Ich kann aber doch heute nicht mehr sagen, aus welchem Grund ich damals lächeln mußte. Übrigens wäre es besser gewesen, wenn sie sich weniger gefreut hätte. Ein paar Tage danach hat sie den Ring verloren und weinte stundenlang um ihn, das arme Ding. Es wäre besser gewesen, wenn ich ihr gesagt hätte: Der Ring mitsamt dem Stein ist gar nichts wert. Ich hätte ihr sagen sollen: Wirf ihn weg. Fast immer sollte man den Leuten bei einem derartigen Anlaß sagen: Wirfs weg, es ist besser. Vielleicht habe ich gelächelt, weil ich es gern gesagt hätte und den Mut nicht aufbrachte.«
»So war es auch,« rief Doktor Voltolini hastig und beinahe erregt, »das war der Eindruck, den ich hatte.«
»Wozu davon reden,« wehrte Christian ab.
Sie standen vor dem Haus in der Stolpischen Straße.[311] Niels Heinrich Engelschall, der bis hierher gefolgt war, verschwand zwischen Fuhrwerken.
Doktor Voltolini schaute vor sich nieder, dann sagte er mit verlegenem Zaudern: »Sie könnten in dem Sinne, den Sie selbst angedeutet haben, viel für mich tun, wenn ich Sie hie und da einmal besuchen dürfte. Es klingt ja seltsam bei einem Mann in vorgerückten Jahren, wie ein Schwächegeständnis; ich habe auch gar keine Rechtfertigung für einen solchen Anspruch, aber es wäre mir damit gedient; ich käme weiter; ich könnte mich dann mit dem Schicksal aussöhnen, mit frischen Kräften an den Wiederaufbau meiner Existenz gehen.« Sein Blick richtete sich gespannt in Christians Gesicht.
Christian senkte den Kopf, und nach einigem Überlegen antwortete er: »Ihre Bitte ist sehr schmeichelhaft für mich. Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung. Ich hoffe wenigstens, daß ich es kann. Um Sie nicht mit Redensarten abzuspeisen, will ich Ihnen sagen, daß ich in nächster Zeit ungemein okkupiert sein werde. Nicht bloß innerlich, innerlich bin ich es ohnedies; aber auch äußerlich. Ich stehe vor einer schweren Aufgabe, vor einer furchtbar schweren Aufgabe.«
Betroffen von der tiefernsten Miene Christians, fragte Doktor Voltolini: »Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber darf man wissen, was es für eine Aufgabe ist?«
»Die Aufgabe ist, den Menschen zu finden, der Ruth Hofmann ermordet hat.«
»Wie denn?« fragte Doktor Voltolini bestürzt, »ich dächte doch ... ist denn der Mörder nicht verhaftet?«
Christian schüttelte den Kopf. »Der Verhaftete ist es nicht,« sagte er leise und bestimmt. »Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn vor dem Untersuchungsrichter gesehen. Ich habe ihn auch von einer früheren Begegnung her wiedererkannt. Er ist nicht der Mörder.«
»Das klingt sonderbar ...« murmelte Doktor Voltolini; »ist es nur Ihre persönliche Meinung, oder vermutet die Behörde gleichfalls –?«[312]
»Es ist keine Meinung,« entgegnete Christian versonnen, »es ist vielleicht mehr, vielleicht weniger, wie mans nimmt. Was die Behörde vermutet, weiß ich nicht. Ohne Zweifel hält sie Joachim Heinzen für den Mörder. Er hat ja Geständnisse gemacht. Ich halte die Geständnisse für falsch.«
»Und haben Sie etwas dergleichen vor dem Richter geäußert?«
»Nein; wie könnt ich auch? Ich habe ja nicht einmal einen Verdacht. Ich weiß bloß, daß es der nicht ist, den man für den Mörder hält.«
»Aber wie wollen Sie den wirklichen Mörder finden, wenn Sie nicht einmal einen Verdacht haben?«
»Das weiß ich nicht; aber es muß sein.«
»Wie ... es muß sein? Was wollen Sie damit sagen?«
Christian erwiderte nichts darauf. Er hob den Blick, reichte Doktor Voltolini freundlich die Hand und sagte: »Wenn Sie also kommen und Sie treffen mich nicht an, so seien Sie mir deswegen nicht böse. Auf Wiedersehen.«
Der Doktor drückte die Hand schweigend und fest.
Christian ging ins Haus, in Karens Wohnung hinauf. Eine Viertelstunde später schritt Niels Heinrich Engelschall die Treppen empor.
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