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[301] Von den Ausschweifungen niedergeworfen, machte Felix Imhof notgedrungen halt. Die Kräfte waren verzehrt.

Er zog Ärzte zu Rat, bat lachend um Wahrheit; der, den er zuletzt konsultierte, eine Berühmtheit des Faches, erklärte ihm, er möge auf das Schlimmste gefaßt sein, das Rückenmark sei angegriffen. »Tuberkeln?« fragte Imhof sachlich. – »Ja, Tuberkeln.«

»Schön, mein Junge, fünfter Akt, letzte Szene,« sagte er zu sich selbst. Da sich Fieber einstellte und Mattigkeit mit häufigen Schmerzen wechselte, legte er sich zu Bett, ließ die Fenster verhängen, die Spiegel entfernen und schaute mit dem Ausdruck eines Kindes, dem bange ist, Stunden und Stunden hindurch in die Luft.

Er hatte nie ohne Menschen sein können. Es wurde ihm bewußt, daß sein ganzes Leben, so weit er zurückdachte, dem Gedränge auf einem Jahrmarkt glich. Mit allen hatte er sich verbrüdert, alle hatten sich an ihn gehängt, alle hatten etwas gewollt, allen etwas zu gelten hatte er sich beständig bemüht; aber wer war geblieben? Keiner. Nach wem trug er Verlangen? Nach keinem. Wer würde um ihn trauern? Keiner. Kein Mann, kein Weib.

Wie mögen sie über mich reden, wenn ich nicht mehr bin? fuhr es ihm durch den Kopf. Richtig, der Imhof, wird es heißen, erinnert ihr euch? Netter Kerl, guter Kamerad, nie schlapp gewesen, immer gut aufgelegt, immer auf der Jagd[301] nach neuen Dingen, tolles Huhn im ganzen. Ihr müßt euch doch erinnern; so und so sah er aus, geschwatzt hat er wie ein italienischer Pfaffe, das Geld rausgeschmissen wie ein Idiot und gesoffen wie ein Loch.

Aber viele würden sich trotzdem nicht erinnern, würden die Achseln zucken und von etwas anderm zu sprechen anfangen.

Er hatte weder Vater noch Mutter, keine Geschwister, keine Verwandte und auch keinen eigentlichen Freund. Seine Herkunft war unbekannt; nie würde das Geheimnis gelüstet werden: er war vielleicht aus der Hefe, vielleicht aus edlem Blut; aber darin war keine Romantik und kein Reiz, sondern die vom Schicksal der größeren Deutlichkeit wegen noch besonders geprägte Formel seines Daseins als eines einzelnen, Losgelösten und auf sich Beruhenden.

Er hatte keine Wurzel, keinen Zusammenhang, keine Bindung. Er war er; weiter nichts; eine Persönlichkeit von zeithaftem Zuschnitt, mit keiner andern vergleichbar und in ihrer Linie vollendet.

Er hatte nicht einmal einen Diener, der durch Familienüberlieferung oder Anhänglichkeit an den Namen ihm zur Treue verbunden war. Keine Seele war ihm zu eigen, nur Dinge, die er bezahlt hatte.

Er hatte den Künstlern und den Kunstwerken viel selbstlose Begeisterung entgegengebracht; ein schönes Gedicht, ein gutes Bild hatte seinem Geist Schwungkraft, seiner Lebensstimmung jene Heiterkeit verliehen, die alle Müden und Flauen in seiner Umgebung erfrischt hatte. Aber wenn er sich jetzt die Eindrücke ins Gedächtnis rufen wollte, die ihm unvergeßlich gedünkt, so griff er ins Leere. Da, wo ihn stets ein sprudelnder Quell erquickt, war eine trockene Steinrinne. Was war es also mit der geliebten Kunst, daß sie das Gemüt so wenig nährte wie ein flüchtiges Abenteuer am Weg? Was fehlte da?

Es waren ihm aus dem Zusammenbruch seines Vermögens noch einige Schätze verblieben, ein Gemälde von Mantegna:[302] die Könige aus dem Morgenland, eine Statue des Dionysos von frühgriechischer Arbeit, eine Plastik von Rodin, ein Blumenstück von Van Gogh. Diese kostbaren Gestaltungen und mehrere andere noch ließ er in sein Zimmer bringen und vertiefte sich in ihre Betrachtung. Aber der glückliche Rausch, den er ehedem dabei empfunden, wollte sich nicht einstellen. Die Farben schienen dumpf, der Marmor war ohne Wärme und ohne Leben. Was war vorgegangen? Was hatte sich verändert?

Auf dem Tisch neben seinem Lager stand ein Stundenglas. Er schaute zu, wie der rötliche Sand, fein und hurtig wie Wasser, aus dem oberen Kegel durch ein Öhr in den untern rieselte. Dies dauerte jedesmal zwölf Minuten. Mit aufgestützten Armen schaute er zu, drehte das Glas, drehte es wieder, wenn es oben leer war; und seine Augen hatten den Ausdruck eines Kindes, dem bange ist.

Eines Tages, während er dem Rieseln des Sandes zusah, sprach er laut vor sich hin: »Sterben? Was heißt denn das? Ist ja Blödsinn.«

Es war absurd, ein absurdes Wort, er konnte es nicht fassen und durchdringen. Kaum hatte er begonnen, sich die leiseste Vorstellung davon zu machen, so fand es sich, daß diese Vorstellung schon wieder vom Begriff des Lebens ausging. Man hatte sich bis jetzt in einem Raum aufgehalten und sollte ihn verlassen; aber dort, wohin man gehen sollte, war ja auch Raum, und man konnte den Raum nicht denken, ohne daß man sich selbst dachte. Also.

Ein Frösteln kam ihn an. Dann lächelte er gierig. Er dachte an die genossenen Freuden, an die Fülle und Überfülle von Lust und Erwartung, von Erregungen und Triumphen; an die Feste, die Gelage, die Reisen, die Unternehmungen, die Spiele, den ganzen fröhlichen, bunten, abwechslungsvollen Kampf. Wie fein war es gewesen, des Morgens aufzustehen mit seinen geraden Gliedern; wie fein, daß Räder rollten,[303] Zeitungsjungen schrien, Glocken tönten, Hunde bellten; wie fein, wenn ein junges Weib, bereit zur Liebe, das Haar löste, die Kleider abstreifte und wie von einer Frucht, die man schälte, die leuchtende Haut sichtbar wurde; und die netten Kameraden, und die prachtvollen Pferde; und wenn man nachts nach Hause kam, halbbetrunken, wie man sich im Flur nach der ersten Treppenstufe sehnte; die Treppe, das war so behaglich, so logisch, so befreiend; und wie oben das Fenster offen war und ein Blumenstrauß wo; und man fühlte jederzeit und jeden Orts: du bist da, bist mitten drin, es schäumt in dir, brüllt in dir, du bist der Herr, du befiehlst und es gehorcht, und morgen wird sein, übermorgen wird sein, endlos Tag um Tag wie schlanke Bäume an einer schöngewalzten Straße, und man war sich so zärtlich gesinnt, der eigene Atem war einem schmeichelhaft; man fraß die Luft, das Licht, fraß und fraß und fraß, Wolken, Menschen, Worte, Lieder, und alles war gut, Schlechtes war gut, Häßliches war gut, Regenwetter war gut, Dreck von Pfützen war gut, alles war gut, denn man lebte.

Er drehte die Sanduhr um und sank auf die Kissen zurück. Da fiel sein Blick auf eine kleine, graue Spinne, die auf der purpurseidenen Tapete emporkroch. Er erschrak. Seine jähe Eingebung war die: Es ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich, daß die Spinne noch dasein wird, wenn ich nicht mehr dasein werde. Dies erschreckte ihn über alle Maßen, und er verfolgte das Kriechen des Insekts mit atemloser Spannung.

Ist denn das denkbar? grübelte er, die unwichtige, scheußliche Spinne wird dasein, und ich nicht? Das ist zum Verrücktwerden. Ich habe nie daran geglaubt und kann und kann nicht daran glauben: Bewußtlosigkeit, Finsternis, Feuchtigkeit, Erde, Würmer, pfui Teufel. Aber daß die Spinne dasein soll und ich nicht? Ich nicht, der den ganzen Weltraum ausgefüllt hat mit seinem Rumpf und Kopf und Beinen? Gibt es eine Philosophie, eine Religion, eine Überzeugung,[304] die daran nicht zum faustdicken Schwindel wird? Gesetzt den Fall, es hätte einer die Macht, mich leben zu lassen, und ich sollte dafür Straßenkehrer sein, Bettler sein, Sträfling sein, verachtet, bucklig, lächerlich, impotent, – mir scheint beinah, ich würde leben wollen, sogar um diesen Preis. Herrgott, wohin gelang ich denn? Ich bin doch ein Kerl, der auf Ehre und Sauberkeit gehalten hat, was für Schmählichkeiten sind denn das? Bin ich vielleicht je gekniffen, wenn mir einer zu nah getreten ist? Hab ichs versäumt, im entscheidenden Moment meinen Mann zu stellen? Und doch, ich würde leben wollen, um jeden Preis leben. Seelenschmerz? Was ich mir daraus mache! Her damit; Kummer, Enttäuschung, Verbitterung, Haß, Verluste, so viel ihr wollt, nur leben, nur leben!

Eine Stunde später wurde Weikhardt gemeldet. Imhof überlegte, ob er ihn empfangen solle; in den letzten Tagen hatte er alle Besucher abweisen lassen. Den Maler fortzuschicken, den er immer besonders gut hatte leiden mögen, konnte er sich nicht entschließen.

»Ist es Eliphas, Bildad oder Zophar, der zu Hiob kommt?« redete er Weikhardt an; »Sie wissen doch: – als sie von ferne ihre Augen erhoben, erkannten sie ihn nicht; da weinten sie, zerrissen jeder sein Gewand und streuten Staub auf ihre Häupter himmelwärts.«

Weikhardt schmunzelte, aber als sich seine Augen an das Dämmerdunkel gewöhnt hatten und er das entfleischte Gesicht gewahrte, verging ihm der Spott.

Sie sprachen eine Weile oberflächlich gegeneinander. Weikhardt erzählte von seiner Ehe, von seiner Arbeit, seinen vergeblichen Bemühungen um die Sicherung der Existenz, endlich allerlei Kneipen- und Stammtischklatsch. Imhof hörte nur mit halber Aufmerksamkeit zu. Plötzlich fragte er, scheinbar gleichmütig: »Und was macht der wunderbare Salamander in Weibsgestalt?«[305]

»Welcher Salamander? Wen meinen Sie?«

»Wen sollt ich meinen, die schöne Sybil natürlich. Hirnverbrannte Komplikation, daß ein Wort, das seelenlose Wort einer Seelenlosen einen schwebenden Prozeß zu so rapider Entscheidung gebracht hat. Fatum, wie? Bestimmung von den Sternen her?«

»Ich verstehe nicht ...« murmelte Weikhardt.

»Wirklich nicht? Sie wußten wirklich nicht, daß sie mich zu den Niggers gezählt hat, die schauerliche Puppenfee, und daß ich mich auf meine Weise an ihr rächte? Spielte einen Trumpf aus, der mich die Partie kostete. Ging hin und suchte die Gemeinschaft, in die mich der eiskalte Hohn gewiesen. Schlief mit einer Schwarzen um die Weiße zu schänden und ihren Dünkel wenigstens in meiner Einbildung zu brechen. Sublim, was? Und Sie wußten nichts davon?«

»Ich wußte nichts,« flüsterte Weikhardt bestürzt. Ein langes Schweigen trat ein.

Da sagte Imhof mit veränderter Stimme: »Was dann weiter folgte, war ja nicht viel anders, als wie ichs früher getrieben hatte. Aber der Nerv war schon krank, die Lebensader vergiftet. Manchmal lockts mich, die ekellangsame Hinrichtung durch eine Kugel zu beschleunigen. Bißchen Schmiß in die Sache zu bringen. Ist doch gar zu würdelos, den Tod mit einem umgehen zu sehen wie eine satte Katze mit der Maus in der Falle. Man könnte auch ein Feuerwerk veranstalten, das Haus anzünden und à la Sardanapal mit grandioser Geste von hinnen fahren.«

»Es wäre kitschig,« bemerkte Weikhardt; »Sie würden es einem andern nie verzeihen.«

»Ich kanns auch nicht. Klammere mich verzweifelt an den tristen Fetzen Dasein. Dasein, was das bedeutet, Dasein!« Er biß in das Polster und stöhnte: »Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben!«

Weikhardt stand auf und wollte sich dem Bett nähern, doch[306] Imhoff wehrte leidenschaftlich ab. »So muß ich büßen,« knirschte er, »so wird der Fresser gefressen. So schmeißt mich die Zeit aus ihrem Arm. Sehen Sie sich ihn nur an, den Kerl, der sich windet und um Pardon schreit und berichten Sie den andern darüber. Grüßen Sie sie von mir, grüßen Sie die lieben Jungens und Mädels! Adieu, Freund, adieu, adieu!«

Weikhardt nahm wortlos Abschied.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 301-307.
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