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[313] Ein Fleckchen Sonne zitterte auf der gegenüberliegenden Mauer des Hofes. Der Abglanz davon erhellte den Spiegel über dem Ledersofa. Im Ofen brannte Feuer nur noch schwach; Johanna Schöntag hatte ein paar Schaufeln Kohlen nachgeworfen, ehe sie zum Begräbnis gegangen war. Die Glut knisterte. Im Zimmer wurde es kalt.

Michael Hofmann saß vor dem Schachbrett. Der Student Lamprecht hatte ihm ein Problem aufgestellt. Michael starrte[313] auf das Brett mit den Figuren. Bisweilen sammelten sich seine Gedanken im Willen zur Lösung, dann wieder schweiften sie ab. So weit hatte er sich äußeren Dingen bereits zugewandt, daß er vermochte, die Figuren und ihre Position im Sinn zu halten. Auch in der Nacht, im Finstern – Schlaf war selten – wurden ihm die beiden Könige mit Turm und Läufer zum Bild.

Der Sonnenfleck sank herunter, der Schnee auf dem Pflaster blitzte. Michael sah durchs Fenster. Das Leuchten des Schnees verursachte eine Bewegung in seinem Auge. Das Weiße, warum quälte es? Er hätte es fortwischen mögen, ausblasen, zudecken. Weißes war Lüge.

Er stand auf und ging durch das Zimmer. Frech stoben die Sonnenfunken aus dem Weißen. Die Stube log mit. Laß mich zufrieden, Weißes, rief es in ihm.

Er blieb stehen, lauschte, lauschend zuckten die Augenlider, ihm schwebte etwas vor, es mahnte ihn etwas, nicht so sehr Vergessenes als Unterdrücktes, Ersticktes; er griff in die Tasche seiner Hose und zog einen knäuelartigen, zusammengeballten Gegenstand von schwarzbrauner Farbe hervor. Er betrachtete ihn und begann zu schaudern. In seiner Miene war einen Moment lang dasselbe Grübeln wie beim Anschauen der Figuren auf dem Brett. Dann gerieten die Finger in Unruhe; mehr und mehr erbleichend, bemühte er sich, das Zusammengeballte zu öffnen. Es war ein Tuch; es war ein Taschentuch. Es war einmal weiß gewesen, und nun ganz und gar in Blut getränkt.

Es war weiß gewesen, und nun war es schwarz vom Blut. Es war so erstarrt, vom langen Tragen in der Tasche dergestalt verhärtet, daß das Auseinanderfalten schwierig war, als sei es ein Stück Leder. Endlich bot es die Fläche. In einer Ecke waren die Initialen R.H. eingestickt.

»Weißes ist schlecht und Rotes ist schlecht,« flüsterte Michael vor sich hin mit dem Blick eines gehetzten Hundes. Er rang[314] mit einem Entschluß, suchte nach einem Ausweg, in seinem Wesen war Verzweiflung; er schaute sich um, eilte zum Ofen, riß das Eisentürchen auf und warf das blutgetränkte Tuch in die Glut. Als es in einer raschen Flamme aufflackerte, seufzte er erleichtert und stand bebend da.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 313-315.
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