18

[363] Sie kam um fünf Uhr; es war schon dunkel. Sie gingen in die Wohnung im Vorderhaus, da im Hofzimmer Michael war. Zur Überraschung Christians hatte der Knabe heute plötzlich den Wunsch nach Unterricht und einem Lehrer geäußert; auch hatte er gefragt, wie er künftig sein Leben einrichten, wohin er gehen, zu wem er gehen solle, wer ihn ernähren, wer ihn kleiden würde, er könne Christian nicht länger zur Last fallen. Seine Worte und sein Wesen waren von einer gewissen Entschlossenheit durchtränkt, die er bisher nie gezeigt. Christian hatte eine befriedigende Antwort nicht gleich zu geben vermocht; der Umschwung erregte zunächst seine Bestürzung, und während er Johanna voranschritt und in der ersten Stube Licht machte, überlegte er die schwierige Entscheidung noch.

Die Tür zur andern Stube, Karens Sterbezimmer, war versperrt. Im Ofen brannte schwaches Holzfeuer, das Isolde Schirmacher auf Christians Geheiß angeschürt. Sie kam auch jetzt, legte Scheite nach und verschwand trippelnd.

Johanna saß auf dem Sofa und blickte wartend. Sie zitterte vor dem ersten Wort, das sie hören, dem ersten, das sie sprechen würde. Den Mantel hatte sie nicht abgelegt; Hals und Kinn versanken im Pelzkragen.[363]

»Es ist ein bißchen unheimlich hier,« sagte sie endlich leise, da Christian so lange schwieg.

Christian setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. »Du siehst leidend aus, Johanna,« begann er; »woran leidest du? Würde es dich nicht erleichtern, darüber zu sprechen? Sprich mit mir darüber. Du wirst natürlich sagen, ich könnte dir nicht helfen. Und das ist wahr. Man kann niemals helfen. Aber die Dinge stocken und verfaulen doch nicht so in einem, wenn man sich einem Freund mitteilt. Findest du nicht?«

»Du kommst spät,« erwiderte Johanna flüsternd, schaudernd, und zog die Schultern in die Höhe, »du kommst sehr, sehr spät.«

»Zu spät?«

»Zu spät.«

Christian sann eine Weile betroffen. Er umschloß die Hand Johannas fester und fragte schüchtern: »Er quält dich? Was geht vor zwischen euch beiden?«

Sie fuhr auf, starrte ihn an, knickte wieder zusammen. Sie lächelte kränklich und sagte: »Ich wäre jedem dankbar, der eine Hacke nähme und mich erschlüge. Mehr bin ich nicht wert.«

»Warum, Johanna?«

»Weil ich mich weggeworfen habe, weggeschmissen, weil ich mich im Unrat wälze, wo er am dicksten und gemeinsten ist,« brach es schneidend und jammernd aus ihr, und mit bebenden Lippen schaute sie in die Höhe.

»Du siehst dich falsch und siehst Menschen falsch,« entgegnete Christian; »alles ist verzerrt in dir. Was du sagst, straft dich, was du verschweigst, erstickt dich. Hab doch ein wenig Mitleid mit dir selbst.«

»Mit mir?« sie lachte hölzern, »mit mir? Mit so einem Abschaum? Das verlange nicht. Eine Hacke; bloß eine Hacke zum Erschlagen!« Ihre Worte verwandelten sich in ein wildes Aufschluchzen; dann schwieg sie eisig.

»Was hast du getan, Johanna, daß du so außer dir bist? Was hat man dir getan?«[364]

»Du kommst zu spät. Hättest du früher einmal gefragt, nur gefragt. Es ist zu spät. Es war zu viel Zeit. Die Zeit hat mir den Garaus gemacht. Ich hab mein Herz vertan.«

»Sag mir, wie.«

»Einmal ist einer gewesen, der hat das schwere dunkle Tor ein Spältchen weit aufgemacht, da dachte man: jetzt wird es schön. Aber er schlug das Tor gleich wieder zu. Den Knall spür ich noch in allen Gliedern. Es war unvorsichtig, eine unvorsichtige Narrheit. Ich hätte nichts ahnen dürfen von der Schönheit hinterm Tor.«

»Du hast recht, Johanna. Es trifft mich. Aber sage mir, was ist jetzt mit dir? Warum bist du so zerstört?«

Johanna blieb eine Weile still. Dann antwortete sie: »Kennst du die Geschichte von der Gänsemagd, die in den eisernen Ofen kriecht, um ihr Leid zu klagen? O Falada, da du hangest, o Jungfer Königin, da du gangest, wenn das deine Mutter wüßt, das Herz im Leib tät ihr zerspringen. Ich habe nicht zu schweigen gelobt und kann in keinen Ofen schlüpfen, aber jemand ansehen und mich ansehen lassen, das geht nicht. Setz dich ans Fenster und schau hinaus. Schau mich nicht an, dann will ich klagen.«

Folgsam und ernst erhob sich Christian und setzte sich mit dem Rücken gegen Johanna ans Fenster.

Mit hoher, fast singender Stimme begann Johanna. »Du weißt, daß ich dem Menschen ins Garn gelaufen bin, der dein Freund war. Es war eben zu viel Zeit und nichts drinnen in der Zeit. Er hat sich aufgeführt, als ob er umkommen müßte, wenn er mich nicht hätte. Er hat mich eingeschläfert mit seinen Worten, hat mir den Willen gebrochen, den Willen, lieber Himmel, das Rudiment von Willen, und hat mich genommen wie man etwas nimmt, das herrenlos am Weg liegt. Und als er mich dann hatte, da ging das Elend an. Tag und Nacht folterte er mich mit Fragen, Tag und Nacht, immerfort, als wär ich sein gewesen schon im Mutterleib.[365] Kein Frieden war mehr in mir, wie blind bin ich geworden vor Scham, und eines Tages bin ich auf und davon, da bin ich hierhergegangen zu dir, da kam gerade der Knabe, und jenes Schreckliche war geschehen, und du hattest natürlich gar keine Augen für mich, und ich, ich sah erst, wie tief ich gesunken war und was ich aus meinem Leben gemacht hatte.«

Sie blickte eine Weile leer vor sich hin; dann schloß sie die Augen und fuhr fort. Sie habe sich an jenem Abend so entsetzlich verlassen gefühlt, daß sie jeden Pflasterstein beneidet habe, weil er neben andern Pflastersteinen lag. Da habe sie sich auf einmal ein Kind gewünscht, mit aller Kraft, mit aller Sehnsucht, wie das zugegangen sei, könne sie nicht erklären. Aber mit aller Sehnsuchtswut ein Kind, etwas aus Fleisch und Blut zum Lieben. Und wie sie vorher in Christians Stube beim Warten auf ihn ein heimlich-neidisches Probestück veranstaltet, ob er dem Jammer des Knaben, dem Fürchterlichen, um das sie noch nicht gewußt, standhalten würde, o, ihre Brust sei ja eine wahre Pestgrube von Neid, das müsse er jetzt erfahren, nun, so habe sie auch sich selbst vor die Entscheidung gestellt und alles davon abhängig gemacht, ob sie ein Kind bekommen könne oder nicht. Und als Amadeus zu ihr gekommen, habe sie sich ihm wieder an den Hals geworfen, nur aus Berechnung, nur zum Zwecke. Käme so was öfter vor in der Welt? Sei so was schon mal passiert? Und als die Zeit um war, habe sichs gezeigt, daß auch dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen wollte, und daß sie nicht einmal zu dem gut war, was das erstbeste Weib aus dem Volk fertig bringe. Nicht einmal zu dem war sie gut. Inzwischen aber habe das Schicksal so tückisch gespielt, daß sie angefangen habe, den Mann zu lieben. Er sei ihr so ähnlich erschienen mit ihr selbst, es habe nicht anders kommen können; so voll Neid, so gemieden von Menschen, so verkrampft und verstrickt; das Gleichartige habe sie bezwungen. Freilich, ob es Liebe gewesen sei oder etwas andres. Schreckliches, was in[366] keinem Buch stehe und wofür es keine Bezeichnung gebe, das könne sie nicht sagen. Wenn es Liebe sei, sich anklammern ans Letzte und verstört hinhorchen aufs Ende, ausgelöscht werden und wieder angezündet werden, daß zwischen Brand und Asche kein Atemzug einem selbst gehöre, fremdes Gesicht tragen, fremdes Wort reden, sich schämen und bereuen und auftrotzen und das Bewußtsein fliehen und in Sinnenangst und Geistesangst sich hinschleppen, und nichts mehr besitzen, nicht Freund, nicht Schwester, Blume nicht und Träume nicht, wenn das Liebe sei, nun, dann sei es ihre Liebe gewesen. Aber es habe nicht lange gedauert, da habe Amadeus Überdruß und Kälte merken lassen, da sei er lahm geworden. Wie er alles an ihr aufgefressen, was sie ihm zum Verschlingen hingelegt, sei er satt gewesen und habe ihr zu verstehen gegeben, daß sie ihm im Wege sei. Da habe sie ein Schauder angefaßt und sie sei weggegangen. Und der Schauder sitze ihr noch im Herzen. Alles an ihr sei kalt und alt. Sie vergesse nicht sein rohes Gesicht in der letzten Stunde, seinen Hohn, seine Zufriedenheit. Sie könne nicht mehr lachen, nicht mehr weinen. Sie schäme sich. Sie möchte sich am liebsten hinlegen und warten, bis es aus sei. Sie sei grauenhaft müde, und es ekle ihr durch und durch.

Sie schwieg. Christian rührte sich nicht. Es verflossen lange Minuten, dann erhob sich Johanna und trat zu ihm. Ohne sich zu rühren schaute sie durchs Fenster in die Dunkelheit hinaus wie er. Dann legte sie ihm geisterartig die Hand auf die Schulter. »Wenn das meine Mutter wüßt, das Herz im Leib tät ihr zerspringen,« flüsterte sie.

Er verstand das animalische Anschmiegen und stumme Flehen. Das Kinn auf die Faust gestützt, sagte er: »Ihr Menschen, was tut ihr!«

»Wir verzweifeln,« antwortete sie trocken, mit eckigen Lippen.

Christian stand auf und faßte ihren Kopf zwischen beiden[367] Händen. »Du mußt dich hüten, Johanna, vor dir hüten,« sprach er.

»Der Teufel hat mich geholt,« gab sie zurück, empfand aber im gleichen Augenblick die Macht seiner Berührung. Sie wurde bleich, schwankte, sammelte sich wieder, sah ihm in die Augen, erst unsicher, dann fester, versuchte zu lächeln, lächelte weh, dann ergeben, dann, nach einem Aufatmen, mit leiser Freudigkeit.

Er ließ sie. Er wollte noch etwas sagen, fühlte aber, wie unzulänglich und dürftig Worte waren.

Sie ging mit gesenktem Kopf, aber immer noch mit dem erkämpften Lächeln von vielen Bedeutungen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 363-368.
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