[368] Es geschah, daß Christian in einer Nacht oben schlief und durch das gellende Geschrei der Stübbeschen Kinder aufgeweckt wurde. Er zog sich hastig an und ging hinüber.
Auf dem Tisch stand eine dick schwelende Petroleumlampe, daneben lag, in schmierigen Lumpen, ein Säugling. Zwei Kinder, zwei- und dreijährig, hatten sich auf dem Strohsack emporgerichtet, mit Fetzen von Hemden bekleidet, und stießen, während sie sich krampfhaft umklammert hielten, ein entsetzliches Angstgebrüll aus. Ein viertes Kind, ein fünfjähriger Knabe, der ungemein verwahrlost aussah, kniete vor einem Haufen zerbrochener Teller und Gläser, hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt und heulte in sich hinein. Das fünfte Kind, ein acht- bis neunjähriges Mädchen, stand bei der regungslos auf dem Boden liegenden Mutter und hatte die magern nackten Ärmchen mit bittend gefalteten Händen gegen den Unhold erhoben, der ihr Vater war und der ununterbrochen, mit viehischer Wut auf das Weib losschlug. Er bediente sich hierzu eines abgebrochenen Stuhlbeins, und unter[368] den mit größter Wucht geführten Hieben bildeten sich furchtbare Wunden; die Frau gab keinen Laut mehr von sich; sie zuckte nur noch bisweilen, ihr Gesicht war graublau; der Kittel und der rote Unterrock, den sie trug, war zerfetzt, und aus allen Öffnungen rieselte das Blut.
Die Tollwut Stübbes wuchs mit jedem Schlag. Seine Augen fluoreszierten gespenstisch; über seinen Bart troff Schleim und Geifer; seine Haare waren gesträubt und schweißverklebt, die Züge aufgequollen und violett bis ins Schwärzliche; Laute, halb Gelächter, halb Gegurgel, dann wieder gestöhnte Flüche, irres Röcheln und Pfeifen kamen aus seinem Schlund. Ein Schlag traf das stehende Kind; es stürzte aufs Gesicht nieder und ächzte.
Da packte Christian den Menschen. Mit beiden Händen umdrosselte er ihm den Hals; mit verzehnfachter Kraft rang er ihn nieder. Es graute ihm unsäglich vor dem Fleisch, das er spürte; in seinem Grauen wurde ihm der Raum mit dem Elend drin zur kugeligen Wölbung; er und das Tier schwebten haltlos im Leeren; er roch den Schnaps, der aus dem aufgesperrten Rachen des Tiers in Schwaden aufstieg, und das Grauen erhielt Geruch und Geschmack, brannte ins Auge hinein, und wie er noch weiter rang, die Krallen des trotz der sinnlosen Trunkenheit noch bärenstarken Menschen an der Kehle, den Bauch an seinem Bauch, die Knie an seinen Knien spürte, dauerte dies und dauerte, eine Stunde, einen Monat, ein Jahr, das Schicksal schraubte ihn in ein vorbereitetes Loch hin ein; und jede Nähe rückte dichter her, alles wurde Berührung; Menschheit, Welt, Himmel, alles war hautnah bei ihm, und das war auch der Sinn: tiefer, tiefer, enger, enger, grauenhafter, gefährlicher noch: das war der Sinn.
Ein Stimmchen: »Lassen Sie doch Vater; bitte, bitte, tun Sie doch Vater nichts!« Es war die Stimme des Mädchens; es hatte sich erhoben, war herangetreten und hing sich an Christians Arm.[369]
Stübbe, nach Luft schnappend, brach zusammen. Christian stand totenbleich. Er roch und fühlte Blut an sich. Leute kamen, die der Lärm aus den Betten gescheucht hatte. Ein Weib nahm sich der kleinen Kinder an und beruhigte sie. Ein Mann kniete bei der erschlagenen Frau. Ein andrer Mann brachte Wasser. Einige schrien und gebärdeten sich erregt. Andre sahen gleichmütig zu. Nach einer Weile erschien ein Schutzmann. Stübbe lag im Winkel und schnarchte. Die Petroleumlampe schwelte noch. Ein zweiter Schutzmann tauchte auf und beriet mit dem ersten, ob Stübbe bis zum Morgen hiergelassen oder gleich transportiert werden solle.
Christian stand totenbleich. Plötzlich schauten ihn alle an. Eine taube Ruhe trat ein. Der erste Schutzmann räusperte sich. Das Kind sah atemlos zu ihm empor. Es hatte ein fahles, strenges, schon altes Gesicht mit übergroßen, geränderten Augen, in denen der unermeßliche Kummer des Lebens lag, das es leben mußte. Es war gebannt durch den Blick Christians, das Gestaltchen schien höher zu werden, es schien sich wie ein Stengel um diesen Blick zu ranken, fror nicht mehr, litt nicht mehr, siechte nicht mehr hin und war ohne Furcht.
Christian erkannte die heldenhafte Seele des kleinen Wesens, und er sah die Unschuld, die Nichtschuld, das unvertilgbare, unsterbliche Herz.
»Geh mit mir, ich hab drüben ein Bett für dich,« sagte er zu dem Kind und führte es an den Leuten vorbei aus der Stube.
Willig ging das Mädchen mit ihm, und in seiner Stube faßte er es an und hob es auf; kaum konnte er glauben, daß so zarte Glieder und Gelenke der Bewegung fähig seien. Als er es aufs Bett gelegt und zugedeckt hatte, fiel es sogleich in tiefen Schlaf.
Er saß und schaute in das fahle, strenge und schon alte Gesicht.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
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