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[372] Niels Heinrich zögerte ein paar Minuten, bevor er ins Zimmer trat.

Es geschah, daß er einige Minuten allein in der Stube blieb. Während dieser kurzen Zeit, gelang es ihm, sich der Perlenschnur zu bemächtigen.

Christian war eben im Begriff gewesen, den Studenten Lamprecht, dem er Michaels Unterricht anvertrauen wollte, ein Stück zu begleiten, da er in Gegenwart des Knaben nicht so offen sprechen konnte, wie er wünschte, als Niels Heinrich kam. Er stutzte und konnte seine Erregung kaum bemeistern. Sich in diesem Augenblick zu entfernen, dünkte ihm nicht unbedenklich; erstens konnte Niels Heinrich, der ja ein kaum berechenbarer Mensch war, aus irgendeiner Laune wieder fortgehen, ohne Christians Rückkunft abzuwarten; zweitens war es nicht geraten, ihn in Michaels Gesellschaft zu lassen. Andrerseits verlangte es Christian, sich für diese ihm vor allem wichtige Unterredung, auf die er Tag um Tag mit elektrisch zitternden Nerven geharrt, erst einmal zu sammeln und die Blutwallung zu beschwichtigen, die Niels Heinrichs stummes Hereintreten in ihm erzeugt hatte. Das konnte so schnell nicht geschehen, und Unschlüssigkeit und Beklommenheit wuchsen, indes er Niels Heinrich artig begrüßte und ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Da öffnete sich abermals die[372] Tür, und Johanna Schöntag erschien. Christian ging lebhaft auf sie zu und ersuchte sie in etwas überstürzten Worten, bei Michael zu bleiben, bis er zurückkomme, er werde dann mit Herrn Engelschall, mit dem er einiges zu besprechen habe, in die Vorderhauswohnung gehen. Johanna war verwundert über sein Ungestüm und blickte auch Niels Heinrich verwundert an. Ihr Gesichtsausdruck sagte deutlich, daß sie nicht wußte, wer er war, und Christian sah sich genötigt, die beiden einander vorzustellen, was ihm selbst so widersinnig vorkam, daß er die Namen bloß scheu hinmurmelte. Niels Heinrich grinste, und als ihn Christian bat, er möge ihn für eine Weile entschuldigen, zuckte er die Achseln.

Christians und des Studenten Lamprechts Schritte waren noch nicht im Hof verklungen, da wandte sich Johanna zu Michael und sagte: »Ich wollte Sie abholen. Ich wollte mit Ihnen nach Charlottenburg in die Gedächtniskirche; dort werden Kantaten von Bach gesungen. Begleiten Sie mich doch; Sie haben so etwas sicher nie gehört. Der Herr wird so freundlich sein, Herrn Wahnschaffe auszurichten, wohin wir gegangen sind.« Sie schaute Niels Heinrich an, senkte jedoch den Blick gleich, von einem außerordentlich heftigen Unbehagen bezwungen. Sie hatte das Unbehagen mit dem Moment verspürt, wo sie ins Zimmer getreten war, und nachdem Christian es verlassen hatte, wurde es so quälend, daß sie Michael den Vorschlag nur machte, um diesem ihr aufgedrungenen Beisammensein um jeden Preis zu entrinnen. Allerdings hatte sie noch am Nachmittag die Absicht gehabt, das Konzert zu besuchen, hatte sie aber wieder aufgegeben. Der Gedanke, den Knaben mitzunehmen, war ihr erst jetzt gekommen.

»Charlottenburg, Gedächtniskirche, jawoll, werds bestellen,« sagte Niels Heinrich, und schlug die Beine übereinander. Den Blick hatte er ununterbrochen auf Michael geheftet, und seine Miene, verfinsterte sich dabei immer mehr.[373]

Von einem ähnlichen Gefühl wie Johanna ergriffen, hielt Michael jedoch den gelb herübergleißenden Augen mutig stand. Seine Finger zerknitterten nervös ein Blatt Papier auf dem Tisch; er suchte innerlich eine Bindung, ein Bild, eine Führung; er nickte bei Johannas Worten, ohne sie anzusehen, er folgte ihr schweigend, als sie ihn am Arm anrührte; sie hatte seinen Hut und Mantel vom Haken genommen, und nun gingen sie.

Aus dem Haus tretend, gewahrten sie Christian an der nächsten Straßenecke; er stand mit Lamprecht unter einer Laterne. Sie entfernten sich hastig nach der andern Seite.

Niels Heinrich erhob sich. Er zündete eine Zigarette an und marschierte mit hackenden Schritten auf und ab. Dann blieb er vor der Kommode stehen und probierte, ob sich die Laden öffnen ließen. Er tat es mechanisch, hatte weder Neugier, noch eine bestimmte Erwartung dabei. Die Kommode hatte einen Aufsatz aus dünnen, gedrehten Säulen, der ebenfalls eine Lade enthielt. Auch diese zog er heraus, zuckte aber auf einmal, wie wenn ihn etwas gestochen hätte; vor seinen Augen lag ein Haufen haselnußgroßer Perlen.

Sie waren von Christian in dem nichtverschlossenen Behälter nahezu vergessen worden. Einige Tage nach Karens Tod hatte ihm Botho von Thüngen mitgeteilt, daß er nach Frankfurt reisen müsse; Mitglieder seiner Familie befänden sich dort, und er wolle mit ihnen verhandeln. Christian glaubte die Gelegenheit benutzen zu können, seiner Mutter die Perlenschnur zu schicken; sie durch die Post zu senden, widerstrebte ihm in einer verbliebenen Vorstellung ihres großen Wertes. Thüngen hatte sich bereit erklärt, den Auftrag zu übernehmen; aber es kam zur Reise nicht, die Verwandten hatten sich unterdessen schroff von ihm losgesagt, das Entmündigungsverfahren war eingeleitet, die wider ihn angezettelte Hetze trieb ihn aus jeder Ruhe, aus jedem Heim, aus jeder Arbeit; alle Geldmittel waren ihm entzogen, die Frau, die er geheiratet,[374] hatte er nicht zu halten vermocht, sie war noch tiefer gefallen, als wie er sie vordem aufgehoben hatte, um sie zu retten. In dieser zerrüttenden Not war Christian sein einziger Halt und Helfer.

Das war mit Botho Thüngen geschehen, und an die Perlen hatte Christian in all den Tagen kaum gedacht. War ihm auch die dunkle Vorstellung ihres Wertes verblieben, so trieb ihn doch nichts, sie sicherer zu verwahren als in der unversperrten Lade, wo sie Niels Heinrich mit witterndem Instinkt entdeckt hatte.

Ein leiser, langer, erstaunter Pfiff. Ein Schlottern der eingefallenen Backen. Ein Blick des Hungers, ein andrer des verbrecherischen Entschlusses. Ein Zaudern, als sei das Wunder von einem Schatz doch von keinem Belang mehr. Und wieder Brand in den Augen; Genüsse, unerhört, versprachen sich. Und wieder Ekel daran: was solls? Auszufechten ist der Streit gegen den Menschen. Hinter einem die Meute: die Zeugen, die Spitzel, die Indizien, der Komplize, die corpora delicti, der Hund, der Keller, das Blut, der Leichnam, der Kopf, die kleine Made, an ihrer Unterrockschnur erhängt; und vor einem der Mensch. Wir wollen sehen, Mensch; messen wollen wir uns!

Überlegungen einer Sekunde. Ein Griff mit beiden Händen; die Perlen waren Besitz; ein Klirren, Zusammenraffen, Schieben, Stopfen, und sie verschwanden im Hosensack. Es bauschte beträchtlich, aber die Joppe verbargs. Schaute der Mensch in der Lade nach und schlug Lärm, so konnte man ihm ja das Zeug wieder hinschmeißen.

Als Christian zurückkam, saß Niels Heinrich auf dem Stuhl und rauchte.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 372-375.
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