[375] »Verzeihen Sie,« sagte Christian, »es war eine dringende Abmachung ...« Er unterbrach sich, da er Niels Heinrich allein in der Stube sah.
»Das Fräulein laßt melden, daß sie mit dem Jungen nach Charlottenburg in die Kirche jejangen is,« sagte Niels Heinrich.
Christian war überrascht. Er antwortete: »Um so besser, dann sind wir ungestört und können hierbleiben.«
»Stimmt, denn sind wir unjestört.« Eine Pause entstand; sie blickten einander an. Christian ging zur Schwelle der kleinen Kammer, um sich zu vergewissern, daß niemand drinnen war, dann zur Tür, die in den Hausflur führte. Er drehte den Schlüssel um.
»Weswegen sperren Sie denn zu?« fragte Niels Heinrich mit erhobenen Brauen.
»Es ist notwendig,« erwiderte Christian; »die Leute, die zu mir kommen, sind gewohnt, die Tür offen zu finden.«
»Denn sollten Sie aber ook die Lampe ausblasen,« höhnte Niels Heinrich; »wäre vielleicht das Gescheiteste. Im Dunkeln is jutt munkeln. Und munkeln tun wer doch, oder meenen Sie nich?«
Christian setzte sich an die andre Seite des Tisches. Er überhörte die zynische Bemerkung geflissentlich. Sein Schweigen und seine gespannte Miene erregten Niels Heinrichs Wut. Herausfordernd lehnte er sich im Stuhl zurück und spuckte in weitem Bogen ins Zimmer. Beide saßen einander gegenüber, als dürfe keiner den andern nur eine halbe Sekunde aus den Augen lassen, doch zeigte Christians Gesicht immer denselben verbindlichen und freundlichen Ausdruck. Nur ein Beben der Stimmuskeln und die Angestrengtheit des Blickes ließ, was in ihm vorging, ungefähr ahnen.
»Sie haben nichts Neues in Erfahrung gebracht?« fragte er endlich in zuvorkommendem Ton.[376]
Niels Heinrich zündete wieder eine Zigarette an. »Ja doch,« versetzte er; es sei ihm inzwischen gelungen, das Frauenzimmer zu ermitteln, das den Judenjungen so lang bei sich gehalten hatte. Molly Gutkind sei es gewesen, die kleine Made genannt, wohnhaft im Hause bei Adelens Aufenthalt. Er sei der Chose nachgegangen und habe dem Mädchen das Geständnis abgelockt, aber am nämlichen Tage habe sich der Teufel dreingemischt, und die Gerichtspersonen hätten sie vorgenommen. Das dumme Aas habe wahrscheinlich zu viel gequasselt, sie sei in Verdacht gekommen, man habe sie ins Kittchen gesteckt, im Kittchen sei ihr das bißchen Verstand vollends aus der Fasson geraten, sie habe sich aufgehängt und sei mausetot, das Schaf. Dies habe er berichten gewollt, weil der Herr sich so dafür interessiert. Nun wisse es der Herr also und könne hieraus seine Gutmütigkeit ersehen.
Er paffte Dampf um sich und zwirbelte mit den Fingern der Linken am Kinnbärtchen.
»Ich wußte es schon,« sagte Christian. »Ich wußte, wo sich Michael aufgehalten hat. Er hat es mir selbst bekannt. Von dem Tod des Mädchens weiß ich seit heute morgen. Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Bemühungen.«
Keine Ursache; hätte nichts zu bedeuten; er stehe gern zu Diensten. Der Herr scheine übrigens den Nachrichtenbezug flott zu betreiben; vielleicht wolle sich der Herr später ganz dem Fache widmen? Ob der Herr sonst noch etwas wisse? Er sei nun mal aufgelegt, Rede und Antwort zu stehen, er habe heute seinen spendablen Tag, und wenn der Herr noch was zu fragen habe, solle er sich nicht genieren und man losschießen.
Er blinzelte und starrte wachsam auf Christians Lippen.
Christian besann sich und senkte den Blick. »Da Sie sich freiwillig zu Auskünften bereit erklären,« entgegnete er leise, »so sagen Sie mir doch, weshalb Sie die Schraube von der Maschine entfernt haben, dort bei Pohl & Pacheke, Sie werden sich ja erinnern ...«[377]
Niels Heinrichs Mund öffnete sich wie eine Klappe. Das scheue Entsetzen bewirkte, daß die Kinnlade einfach heruntersank.
»Sie wundern sich, daß ich davon Kenntnis habe,« fuhr Christian fort, dem es eine unangenehme Empfindung war, daß der andre glauben könne, er wolle ihn durch Geheimniskrämerei gefügig machen; »es geht aber ganz natürlich zu. Gisevius, dessen Sohn bei Pohl & Pacheke Werkführer ist, erzählte, daß Sie dort zwei Tage in Arbeit waren und daß während dieser Zeit die Beschädigung der Maschine geschah. Die beiden Tatsachen hatten bei ihm gar keinen Zusammenhang, er sprach erst von Ihnen, dann von der Geschichte mit der Maschine; auch äußerte er keinen Verdacht. Nur mir selbst war es sofort klar, daß Sie es getan haben mußten; den Grund kann ich nicht angeben; es stand klar vor mir. Ich sah Sie heimlich an der Maschine hantieren und die Schraube lockern. Ich mußte fortwährend daran denken, sah es fortwährend. Wenn ich unrecht haben sollte, so verzeihen Sie mir.«
Verstehe er nicht, kam es schwer und in keuchender Haßangst aus Niels Heinrichs Mund, verstehe er nicht ...
»Ich hatte das Gefühl, daß Ihnen die Maschine wie ein lebendiges und geordnetes Wesen und deshalb wie ein Feind erschien, und da wollten Sie sie ermorden. Ja, ganz deutlich und unabweisbar hatte ich das Gefühl von Mord. Irre ich mich darin?«
Niels Heinrich gab keinen Laut von sich. Er konnte sich nicht rühren. Es wuchsen Wurzeln von unten her um den Stuhl, auf dem er saß, schlangen sich um seine Beine und hielten ihn eisern fest.
Christian stand auf. »Es hat keinen Zweck, das,« sagte er tiefatmend.
Was? Was habe keinen Zweck? murmelte Niels Heinrich; Was? Was denn? Das Blut in seinem Leibe wurde kalt.
Die Arme an die Seite gepreßt, unten die Fingerspitzen[378] gegeneinander, stand Christian da. »Sprechen Sie. Sagen Sie es mir,« flüsterte er.
Was sprechen? Was sagen? Was denn? Niels Heinrichs Hals glich einem Schlauch, der entleert wird; er war schlaff, und die Haut bebte.
Blick wider Blick. Worte starben. Die Luft sauste.
Auf einmal blies Christian die Lampe aus. Die Finsternis, die jäh eintrat, war wie eine stumme Explosion. »Sie hatten recht,« sprach seine Stimme, »das Licht verrät uns jedem, der vorübergeht. Jetzt sind wir vollkommen sicher. Nach außen wenigstens. Was hier geschieht, geht nur uns an. Sie können tun, was Ihnen beliebt. Sie können wieder den Revolver aus der Tasche ziehen wie neulich und abdrücken. Ich bin darauf gefaßt. Da ich mich nicht vom Fleck bewegen werde, kann es Ihnen keine Schwierigkeit sein, mich zu treffen. Vielleicht aber warten Sie noch, bis Sie gesagt haben, was zu sagen ist und was ich wissen muß.«
Schweigen.
»Sie haben Ruth ermordet.«
Schweigen.
»Sie haben Sie in das Haus gelockt, wo die Schenke ist, in den Keller gelockt und dort getötet.«
Schweigen.
»Sie haben den einfältigen Menschen, den Joachim Heinzen, zum Mithelfer gemacht und ihn durch ein überlegtes Spiel so in Furcht und Verstörung versetzt, daß er allein der Mörder zu sein glaubt, sich nicht einmal getraut, Ihren Namen auszusprechen. Wie ging das zu?«
Schweigen.
»Und wie ging es zu, daß Ruth keine Gnade vor Ihnen fand? Ruth! Diese! Daß Sie das Messer ... daß das Messer in der Hand gehorchte ... daß Sie nachher noch reden, trinken, Beschlüsse fassen, von einem Haus ins andre gehen konnten? Mit dem Bild! Mit der Tat! Ist es denn möglich?«[379]
Schweigen.
Christians Stimme hatte nichts mehr von der sonstigen Verhaltenheit und Kühle; sie klang heiser, leidenschaftlich und aufgedeckt. »Was wollten Sie von ihr? Was war denn die letzte Absicht? Warum mußte Ruth sterben? Warum? Was konnte sie geben, wenn sie starb? Was war durch Mord zu gewinnen?«
Da schrie Niels Heinrich, kreischte, brüllte es aus sich heraus: »Die Jungfernschaft, Mensch!«
Nun war es an Christian, zu schweigen.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
|
Buchempfehlung
Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.
114 Seiten, 4.30 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro