[425] Niels Heinrich glitt von der Tischkante und fing an, durch die ganze Länge des Saals auf und ab zu gehen. Der Blick Christians folgte ihm unablässig.
Er habe mal ein Buch gelesen, sagte er, eine Geschichte von einem französischen Grafen, der habe ein unschuldiges Bauernmädchen umgebracht, habe ihr das Herz aus der Brust geschnitten, es gekocht und verspeist. Dadurch habe er die Fähigkeit erlangt, sich unsichtbar zu machen. Ob Christian glaube, daß an der Geschichte was dran sei?
Nein, er glaube es nicht, antwortete Christian.
Er seinerseits glaube ja auch nicht daran, aber daß in der Unschuld der Jungfrauen ein Zauber stecke, könne man doch nicht ableugnen. Vielleicht seien es verborgene Kräfte, die sie einem mitteilen. Es scheine sich ihm so zu verhalten, daß in den Schuldigen ein Trieb nach der Unschuld sei. Der Gedanke, welcher der Geschichte zugrunde läge, scheine ihm darauf hinauszulaufen, daß die Unschuld verborgene Kräfte verleihe. Ob er das leugne?
Nein, er leugne es nicht, antwortete Christian, dessen ganze Aufmerksamkeit durch dieses Verhör in Anspruch genommen wurde.
Der Herr habe aber doch behauptet, daß es keine Schuldigen gebe, wie sich das zusammenreime? Gebe es keine Schuldigen, so gebe es auch keine Unschuldigen.
»So ist es nicht aufzufassen,« entgegnete Christian, in die Enge getrieben und der Sonderbarkeit des Ortes, der Stunde, der Umstände in Nerv und Nieren bewußt; »Schuld und Unschuld stehen nicht in der Beziehung von Wirkung und Ursache. Eines leitet sich nicht vom andern her. Schuld kann nicht Unschuld, Unschuld nicht Schuld werden. Licht ist Licht, Finsternis ist Finsternis, aber eines wird nicht ins andre verwandelt, eines nicht vom andern gemacht. Licht geht von[426] einem Körper aus, vom Feuer, von der Sonne, vom Gestirn; aber wovon geht Finsternis aus? Sie ist da. Sie hat keine Quelle. Keine sonst als die Abwesenheit von Licht.«
Niels Heinrich schien nachzudenken. Immer auf und ab gehend, stieß er die Worte in die Luft: man sei beschwatzt; man sei von Kindesbeinen an heillos beschwatzt. Da habe es immer geheißen Sünde und Unrecht, und alles sei darauf angelegt gewesen, einem ein böses Gewissen zu machen. Habe man aber mal das böse Gewissen, so helfe kein Beichten und Gezüchtigtwerden mehr, kein Pastor und keine Absolution. Und man sei im Grunde doch bloß eine erbärmliche Kreatur. Eine geschlagene Kreatur sei man, in die Verdammnis hineinverdammt. Das habe ihm eingeleuchtet, was der Herr gesagt – und ohne Christian anzublicken, streckte er Arm und Zeigefinger nach ihm aus –, das habe ihm eingeleuchtet, daß keiner sollte richten dürfen. Das sei wahr, er habe auch noch keinen gesehen, zu dem man sagen könne, du sollst richten. Jeder trage das Schandmal, das Diebsmal, das Blutmal, jeder sei behaftet und jeder in die Verdammnis hineinverdammt. Aber wenn nicht mehr gerichtet werde, dann sei es Matthäi am letzten mit der bürgerlichen Welt, mit der kapitalistischen Welt, denn die beruhe auf Gericht, und daß sich Schuldige fänden, um die Schuld auf sich zu nehmen, und Richter, die nicht von Gnade wüßten.
Christian sagte: »Wollen Sie nicht das Auf- und Abwandern lassen? Wollen Sie sich nicht zu mir setzen? Kommen Sie zu mir. Setzen Sie sich zu mir.«
Nein, er wolle sich nicht zu ihm setzen. Er wolle das alles mal erklärt haben. Er wolle sich nicht wie 'n Schuljunge aufs Bänkchen ducken; der Herr sei ihm unverständlich, der Herr foppe ihn wieder mal mit Redensarten, der Herr solle ihm was Sicheres in die Hand geben, er verlange was Sicheres, woran er sich halten könne.
»Was meinen Sie damit: etwas Sicheres?« fragte Christian[427] ergriffen; »ich bin ein Mensch wie Sie; ich weiß nicht mehr wie Sie; ich habe gefehlt wie Sie; ich bin hilflos und ratlos wie Sie; was soll ich Ihnen da geben? Ich Ihnen?«
»Aber ich,« stieß Niels Heinrich außer sich hervor, »was soll ich denn geben? Sie wollten doch was von mir haben; was denn? Was wollen Sie denn haben? Sie von mir?«
»Spüren Sie es nicht?« fragte Christian. »Wissen Sie es noch immer nicht?«
Sie sahen einander stumm in die Augen, denn Niels Heinrich war stehengeblieben. Ein Schauder, fast sichtbar, überrieselte ihn. Sein Gesicht war wie verbrannt von der Begierde eines Menschen, der an Gittern rüttelt, um frei zu werden.
»Hören Sie mal,« sagte er plötzlich mit einer verzweifelten und krampfhaften Gelassenheit, »ich habe da Ihre Perlen stibitzt, bei Ihnen zu Hause. Habe sie einfach in die Tasche gesteckt. Eine hab ich bereits verkitscht und das Lumpenvolk von dem Gelde besoffen gemacht. Sie können sie wieder haben, wenn Sie wollen. Die kann ich Ihnen geben. Wenns das ist, die kann ich Ihnen geben.«
Christian schien überrascht, aber seine leidenschaftlich gespannte Miene veränderte sich kaum.
Da griff Niels Heinrich in die Hosentasche und zog, da die Schnur sie nicht mehr hielt, die Hand mit Perlen gefüllt hervor. Er reichte sie Christian hin. Christian regte sich nicht. Er machte keine Anstalten, die Perlen an sich zu nehmen. Dies schien Niels Heinrich seltsamerweise zu erbittern, er öffnete die Hand, bis sie flach wurde und ließ die Perlen auf den Boden fallen. Weiß und glitzernd rollten sie auf dem Parkett hin. Und als sich Christian nach immer nicht regte, schien Niels Heinrichs Zorn zu wachsen, er kehrte den Taschensack nach außen, so daß alle übrigen Perlen auf einmal auf die Erde fielen.
»Warum tun Sie das?« fragte Christian, mehr verwundert als tadelnd.[428]
Nun, vielleicht wolle sich der Herr ein bißchen Bewegung verschaffen, war die freche Antwort. Und wieder trat dünner Schaum, wie Eiweiß, auf seine Lippen.
Christian senkte die Augen. Dann geschah dies: er erhob sich, atmete tief, lächelte, bückte sich, ließ sich auf die Knie nieder und begann die Perlen zusammenzuklauben. Er nahm eine jede einzeln, um sich die Hände nicht zu sehr zu beschmutzen; er rutschte auf den Knien weiter und las Perle für Perle auf. Er langte unter den Tisch und unter die Stühle, wo vergossener Wein in kleinen Pfützen stand, und auch aus den ekligen kleinen Pfützen klaubte er die Perlen. Mit der rechten Hand sammelte er, und immer, wenn die linke halb gefüllt war, schob er die aufgelesenen Perlen in die Tasche.
Niels Heinrich schaute zu ihm nieder, dann floh sein Blick das Schauspiel, irrte durch den Raum, traf den Spiegel, floh den Spiegel, suchte ihn von neuem, bebte zurück. Der Spiegel war glühend geworden. Er sah sein Bild nicht mehr darin. Der Spiegel gab kein Bild mehr. Und er schaute wieder auf den Boden, wo Christian kroch, und Ungeheures ging in ihm vor. Es entrang sich ihm ein röchelnder Laut. Christian hielt inne in seiner Beschäftigung und sah zu ihm auf.
Er sah, und er begriff. Endlich! Endlich! Eine zitternde Hand streckte sich ihm entgegen. Er faßte sie. Sie hatte kein Leben. So hatte er noch niemals begriffen: den Leib, den Geist, die Zeit und die Ewigkeit. Die Hand hatte keine Wärme: es war die Hand der Tat, die Hand der Untat, die Hand der Schuld. Aber als er sie berührte, zum erstenmal, da fing sie an zu leben und sich zu erwärmen, da strömte Glut in sie hinein, Glut vom Spiegel, Glut des Dienstes, Glut des Erkennens, Glut der Erneuung.
Es war nicht mehr als die Berührung.
Niels Heinrich, heruntergezogen, sank in die Knie. In der Sache mit Joachim Heinzen, da ließe sich darüber reden, stammelte er kaum vernehmlich, mit einem gebrochenen Blick[429] und erlöschenden Mienen. Und sie knieten, einer vor dem andern.
Sich selbst entrissen durch Berührung, gab der Mörder seine Schuld dem Menschen, der ihn richtete, ohne zu verdammen.
Er war frei. Und auch Christian war frei.
Der Saal hatte einen Nebenausgang, durch den man auch das Haus verlassen konnte. Sie verabschiedeten sich voneinander. Wohin Niels Heinrich ging, wußte Christian. Er selbst wandte sich zur Stolpischen Straße, stieg in Karens Wohnung hinauf, sperrte sich ein und schlief, in Kleidern, bis zum andern Mittag, dreiunddreißig Stunden lang.
Ein starkes Läuten weckte ihn auf.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
|
Buchempfehlung
Die letzte zu Lebzeiten des Autors, der 1835 starb, erschienene Lyriksammlung.
242 Seiten, 12.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro