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[430] Lorm war krank auf den Tod. Er lag in einem Sanatorium. Eine Darmoperation war vorgenommen worden; die Hoffnung, daß er genese, war gering.

Die Freunde besuchten ihn. Der treueste, Emanuel Herbst, verbarg seinen Schrecken und seinen Schmerz unter fatalistisch unveränderlicher Ruhe. Seit dem Tage, wo er auf dem Antlitz des geliebten Menschen die ersten Spuren von dem Vernichtungswerk des Schicksals wahr genommen hatte, widerte ihn das Getriebe an, in dessen Mitte er sich bewegte, diese Schattenwelt des Theaters; da das zentrale Feuer in seinem Körper erstickt war, ahnte er Nähe des Endes in vielen Dingen.

Auch Crammon kam oft. Er sprach gern von frühen Zeiten mit Lorm; Lorm ließ sich gern erinnern und lächelte. Er lächelte auch, wenn man ihm erzählte, wie zahlreich die Anfragen nach seinem Befinden seien, daß ununterbrochen aus allen Städten des Landes Telegramme einliefen und man daraus erfahre, wie tief sein Bild und Wesen in das Herz[430] des Volkes gedrungen sei. Er glaubte es nicht; er glaubte es im Innersten nicht. Er verachtete die Menschen zu sehr.

Er glaubte nur an die Liebe eines einzigen Menschen, und das war Judith. An ihre Liebe glaubte er unerschütterlich, trotzdem ihm jede Stunde den Beweis hätte liefern können, daß er sich täuschte, jede Stunde des Tages, wo er das Verlangen äußerte, sie zu sehen, jede Stunde der Nacht, wo er sein Schmerzenswimmern verbiß, um die Ohren der bezahlten fremden Frauen, die ihn pflegten, nicht zu peinigen.

Denn Judith kam höchstens einmal eine halbe Stunde am Morgen oder eine halbe Stunde am Nachmittag, suchte durch Überzärtlichkeit und Übereifer ihre Unlust zu bemänteln, sagte: »Möpschen, wirst du nicht bald gesund?« oder »Schnuckchen, schäm dich doch, so lange faul zu liegen, während sich die arme Judith zu Hause nach dir sehnt,« erfüllte das Krankenzimmer mit Lärm und hundert unnützen Ratschlägen, zankte mit der Wärterin, kanzelte den Arzt ab, war kokett mit dem Professor, berichtete von den Nichtigkeiten ihres Lebens, von einer Reise ins Bad, von dem Diebstahl, den eine neue Köchin begangen, und hatte immer Gründe für die Beschönigung der kurzen Dauer ihres Bleibens.

Lorm bekräftigte diese Gründe. Er zweifelte an keinem einzigen. Er legte sie ihr in den Mund. Er war geradezu erfinderisch an Entschuldigungen für sie, wenn er in den Mienen andrer Erstaunen oder Mißbilligung über ihr Verhalten bemerkte. Er sagte: »Laßt sie; sie ist ein Luftwesen; sie hat ihre besondere Art von Anhänglichkeit, und ihre besondere Art von Kummer; man darf sie nicht mit gewöhnlichem Maß messen.«

Crammon sagte zu Lätizia: »Ich wußte nicht, daß diese Wahnschaffe eine so seelenlose Porzellanfigur ist. Es war immer meine Meinung, daß das Gerede von dem höheren Empfindungsleben des Weibes, so ungefähr lautet ja der Fachausdruck, eine jener verlogenen Fabeln ist, durch die wir[431] zarteren und edleren Organe der Schöpfung zur Nachsicht bestimmt werden sollen. Aber eine solche Gemütsroheit kann einen Hausknecht schamrot machen. Geh zu ihr und rüttle ihr das Gewissen wach. Der herrlichste Künstler wird sterben, und sein letzter Seufzer wird einem Popanz gelten, der seinen Namen trägt wie ein Narr das Kleid eines Königs. Sie soll wenigstens der Form Genüge tun, sonst verdient sie, daß man sie steinigt. Man müßte wie im alten Indien die Witwe mit der Leiche des Gatten verbrennen. Schade, schade, daß es diese hübschen Gesetze nicht mehr gibt.«

Als Lätizia zu Judith kam, machte sie ihr sanfte Vorwürfe. Judith schien zerknirscht. »Das ist alles richtig, Kind,« antwortete sie, »aber sieh mal, ich kann und kann bei kranken Leuten nicht sein. Sie haben immer eine Maske. Sie sind gar nicht dieselben Menschen mehr. Es riecht so furchtbar bei ihnen. Sie erinnern einen an das Schauerlichste der Welt, an den Tod. Du wirst mir sagen: es ist doch dein Mann, dein ehelich angetrauter Mann. Um so schlimmer. Ich bin da wirklich in einem tragischen Konflikt. Man sollte eher Mitleid mit mir haben, als mich anschuldigen. Er hat nicht das Recht, zu fordern, daß ich meine Natur vergewaltige, und er fordert es auch nicht, er ist zu sein, er denkt zu groß dazu, nur die andern Menschen fordern es; aber was wissen die von uns? Was wissen sie von unsrer Ehe? Was wissen sie von meinen Opfern? Was wissen sie von einer Frau? Und sieh mal,« fuhr sie hastig fort, da sie Lätizias Befremden spürte, »es ist auch in diesen Tagen so viel los, so viel Unangenehmes. Mein Vater ist heute gekommen. Ich habe ihn nicht gesehen seit der Hochzeit mit Imhof. Weißt du übrigens, daß Imhof ein verlorener Mann ist? Er soll sich ganz zugrunde gerichtet haben. Da ist mir noch etwas erspart geblieben. Könnte man nicht glauben, daß es Unglück bringt, mich zu lieben? Woher mag das sein? Mein Leben ist so harmlos wie das Spiel von kleinen Mädchen, und doch ...[432] Woher mag das sein?« Sie zog die Stirn kraus und schüttelte sich. »Nun, mein Vater ist also da; es steht mir eine Zusammenkunft mit ihm und Wolfgang bevor. Und es ist eine sehr häßliche Angelegenheit, meine Liebe, die da besprochen werden wird.«

»Es handelt sich um Christian, nicht wahr?« fragte Lätizia, und es war das erstemal, daß sie Christians Namen vor Judith nannte. Sie hatte vergessen, immer wieder vergessen, den Vorsatz immer wieder vertan, hatte Judiths rätselhaften Trotz und Haß gegen den Bruder gefühlt und nicht Mut genug besessen, sich dawider zu wenden, und immer war dann Wichtigeres über die bunte Bühne geschwebt, Lustigeres. »Nicht wahr, um Christian handelt es sich?« wiederholte sie zaghaft.

Judith schwieg düster.

Von der Stunde an wurde aber Lätizia von einer heimlichen Neugier gequält, und diese Neugier bewirkte, daß sie nicht mehr vergaß. Sie hatte sich verirrt, seit langem schon verirrt und kam mit jedem Schritt tiefer ins Pfadlose. Verirrt, verwirrt, verstrickt, so erschien sie sich, und sie hatte flüchtige Minuten der Traurigkeit. Die Ereignisse wuchsen ihr über den Kopf, all das kleine Flick- und Stückwerk des Tages, alles verlief so eigen im Sand, ohne Gestalt, ohne Ruf, ohne Bestimmung. Und in den flüchtigen Minuten der Traurigkeit hatte sie die Illusion von einem neuen Anfang und die Sehnsucht nach einer Hand, die sie aus dem Dickicht führte. Sie gedachte einer Nacht, in der ihr volles Herz verworfen worden war, schwärmerisch gläubig hielt sie es für möglich, daß das verbrauchte und ein wenig müde genommen werden würde.

Aber sie zauderte noch, spielte noch mit der schönen Einbildung. Da hatte sie einen Traum. Sie träumte, daß sie sich in der Halle eines vornehmen Hotels unter einer Menge Menschen befand. Sie war im Hemd und vermochte sich vor Scham kaum zu rühren. Aber niemand schien zu bemerken, daß sie im Hemd war. Sie wollte fliehen und sah nirgends[433] einen Ausgang. Während sie gepeinigt um sich schaute, sank der List aus den oberen Stockwerken herab, sie stürzte darauf zu, die Tür schloß sich, und die Maschine stieg empor. Aber ihre Bangigkeit wich nicht, sie hatte das Gefühl nahenden Unglücks. Stimmen von außen schrien: Ein Toter! Ein Toter ist im Haus! Um die Maschine zum Halten zu bringen, tastete sie nach dem elektrischen Knopf, fand ihn nicht, und der List stieg höher und höher, die Stimmen verhallten. Ohne zu wissen, wie es geschehen war, stand sie in einem langen Korridor, auf den viele Zimmer mündeten. In einem der Zimmer lag ein Kruzifix, etwa zwei Ellen groß, aus Bronze, stark patiniert. Sie ging hinein. Männer machten ihr respektvoll Platz. Sie trug auf einmal ein weißes Gewand aus Atlas. Sie kniete neben dem Kruzifix nieder. Jemand sagte: es ist ein Uhr, man muß zur Table d'hote. Ihre Brust war vor Mitleid und Sehnsucht innen wund. Sie drückte die Lippen auf die Stirn des Christusbildes, da regte sich der metallene Körper, wuchs und wuchs, erstand zu natürlicher Größe, und sie, zärtlicher und immer zärtlicher hingegeben, flößte ihm Blut ein, verlieh der Haut Lebensfarbe, daß sich sogar die Narbe unter der Rippe rötete. Ihr Gefühl steigerte sich zu heißester, dankbarster Inbrunst, kniend umschlang sie den Leib, die Schenkel, die Füße des sich Erhebenden, der sie mit sich heben wollte; aber einer der Herren sagte: Der Gong ruft zum drittenmal, und bei diesen Worten erwachte sie in schmerzlicher Beseligung.

Am andern Morgen ging sie zu Crammon und überredete ihn, mit ihr in die Stolpische Straße zu fahren.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 430-434.
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