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[447] Als Lätizia und Crammon zwei Tage nachher in die Stolpische Straße kamen, erfuhren sie, daß Christian Wahnschaffe dort nicht mehr war. Die beiden Wohnungen waren von[447] Möbeln bereits geräumt und zur Vermietung ausgeschrieben. Wohin er sich gewendet hatte, wo er sich befand, darüber konnte ihnen niemand Aufschluß geben. Der Hausverwalter sagte, er habe seinen Bekannten mitgeteilt, daß er die Stadt verlassen habe. Es entstand, zu Crammons Unbehagen, eine kleine Volksversammlung um das Auto, und spöttische Bemerkungen wurden laut.

»Zu spät,« sagte Lätizia, »ich werde es mir nie verzeihen.«

»Doch; du wirst, mein Kind, du wirst,« versicherte Crammon. Und sie kehrten in die Bezirke der Lustbarkeiten zurück.

Lätizia verzieh es sich schon am nämlichen Abend; was hätte sie auch mit einer so fragwürdigen Gewissensbürde anfangen sollen? Eine läßliche Sünde; der erste Gläserklang, der erste Geigenton, der erste Blumenduft zehrte sie auf.

Aber an Crammon nagte das Versäumnis, je länger, je mehr. In seiner naiven Unwissenheit bildete er sich ein, er hätte das Äußerste hintanzuhalten vermocht, wenn er zwei Tage früher gekommen wäre. Jetzt war der Verlust besiegelt und endgültig. Er stellte sich etwa vor, er hätte Christian die Hand auf die Schulter gelegt und ihn ernst und mahnend angeschaut; da hätte Christian beschämt zu ihm gesprochen: Ja, Bernhard, du hast recht, es war eine Verirrung, wir wollen uns mal zu einer Flasche Wein setzen und beraten, wie wir uns künftig am besten amüsieren.

Wenn er in seinen Erinnerungen wühlte, einem Sammler vergleichbar, der seine eifersüchtig behüteten Schätze mustert, war es stets Christians Gestalt, die vor allen andern verklärt emporstieg. Der Christian des Anfangs, nur der; unter den Hunden im Park; in der Mondnacht unter der Platane; im erlesen geschmückten Saal der Tänzerin; Christian lachend, schöner lachend als der Eseltreiber in Cordova; Christian verführend, Christian verschwendend, Christian der Herr; Eidolon.[448]

So sah er ihn. So trug er ihn durch die Zeit.

Und es drangen Gerüchte zu ihm, an die er nicht glaubte. Es kamen Leute, die erzählen gehört hatten, man habe Christian Wahnschaffe bei der großen Grubenkatastrophe in Hamm während der Bergungsarbeiten gesehen; er sei in die Schächte mitgefahren und habe geholfen, Leichen zu befördern. Und andre Leute kamen, die behaupteten, er lebe im Londoner Ost-Ende in Gemeinschaft der Niedrigsten und Verworfensten. Und es kamen wieder Leute, welche wissen wollten, er sei in der Chinesenstadt von Neuyork aufgetaucht, dieser ekelsten Kloake der bewohnten Erde.

Crammon sagte: »Unsinn, das ist nicht Christian, das ist sein Doppelgänger.«

Er hatte Furcht vor den Jahren, die sich grau heranwälzten wie Nebel auf dem Wasser.

»Was würdest du zu einem Häuschen in einem kärntnerischen Alpental sagen?« redete er eines Tages Lätizia an, »zu einem niedlichen, bescheidenen Häuschen? Man pflanzt sein Gemüse, man züchtet seine Rosen, man liest seine Lieblingsschmöker, mit einem Wort, man bringt sich in Sicherheit.«

»Reizend,« antwortete Lätizia, »ich könnte ja dann und wann zu dir kommen.«

»Warum dann und wann? Warum nicht ganz und gar?«

»Ja, würdest du denn auch die Zwillinge aufnehmen und die Dienerschaft und das Tantchen?«

»Da müßte ich allerdings einen Flügel anbauen. Unmöglich.«

»Und außerdem ... ich will dir nämlich gestehn, ich bin mit Egon Rochlitz übereingekommen, daß wir uns heiraten. Das wäre also vorläufig eine Person mehr.«

Crammon schwieg eine Weile, dann sagte er verdrossen: »Ich fluche dir. Es bleibt mir nichts andres übrig.«

Lätizia bot ihm lächelnd die Wange.

Er küßte sie väterlich enthaltsam und seufzte: »Du hast Sammet auf der Haut wie eine Aprikose.«[449]

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 447-450.
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