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[443] Amadeus Voß sagte: »Er wird den Kampf nicht aufnehmen. Es ist eine endgültige Wahl, vor die er gestellt ist. Sie meinen, es sei nur die Familie, die ihn unschädlich machen will. Zugegeben. Aber die Familie ist heute die ausschlaggebende Macht im Staate. Sie ist der Grundpfeiler und der Schlußstein tausendjähriger Schichtungen und Kristallisation. Wer ihr trotzt, ist ein Geächteter. Er hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen kann. Er ist in einen dauernden Anklagezustand versetzt. Das macht den Stärksten mürbe.«

»Die Herrschaften scheinen Ihnen gehörig imponiert zu haben,« bemerkte Lamprecht.

»Ich spreche von einem Prinzip, Sie sprechen von Personen,« erwiderte Voß gereizt. »Schlagen Sie mich auf meinem Feld, wenns beliebt. Im übrigen hab ich von den Leuten niemand zu Gesicht bekommen als Wahnschaffes Bruder Wolfgang. Er bat mich zu sich, angeblich, um Auskünfte von mir zu erhalten, in Wirklichkeit, um mir auf den Zahn zu fühlen. Ein wackerer Knabe. Ein Repräsentant. Von dem unerschütterlichen Ernst derer durchdrungen, die alle Sprossen der sozialen Stufenleiter gezählt, alle Distanzen ausgemessen[443] und bis auf den Millimeter im Kopfe haben. Bereit zu allem. Käuflich zu allem. Zurückschreckend vor nichts. Grausam aus natürlicher Anlage. Konsequent aus Mangel an Geist. Ich leugne es nicht, so etwas imponiert mir. Ein Exemplar in Reinzucht. Man kann sich keinen besseren Anschauungsunterricht über den heutigen Zustand der Gesellschaft wünschen.«

»Und Sie haben sich selbstverständlich zu Christian bekannt, haben Ihre Unzugänglichkeit für alle diplomatischen Bestechungsversuche deklariert?« fragte Johanna in einem Ton von perfider Beiläufigkeit; »nein?« Sie ging auf und ab, um den Tisch für Christian zu decken, denn in einer inneren Ungeduld sehnte sie ihn herbei.

Michael wandte keinen Blick von Amadeus Voß' Gesicht.

»Ist mir nicht im entferntesten eingefallen,« antwortete Amadeus. »Ich bin Forscher und nicht Moralist. Ich habe aufgehört, mich für Phantome zu opfern. Ich glaube nicht mehr an Ideen und an den Sieg von Ideen. Für mich ist die Schlacht entschieden und der Friede geschlossen. Warum soll ich es nicht offen einräumen? Ich habe paktiert. Nennen Sie es nicht Zynismus, was ich sage; es ist ein ehrliches Bekenntnis zu mir selbst. Es ist die Frucht gewonnener Einsicht in das Nützliche, das Tüchtige, in das, was den Menschen praktisch und greifbar hilft. Es gab weit und breit keine Notwendigkeit für mich, ein Märtyrer zu werden. Märtyrer verwirren die Welt; sie reißen die Hölle der Schmerzen auf, und das vergeblich; wann und wo wäre Schmerz durch Schmerz gelindert oder beseitigt worden? Einst ging ich den Seufzerweg, den Passionsweg; ich weiß, was es heißt, für Träume leiden, für das Unerreichbare sein Blut verspritzen. Ich weiß, was ein Sakrament ist und was Versuchung ist; ich habe Brust an Brust mit dem Teufel gerungen, bis mir endlich klar wurde: du kannst ihn nur abtun, wenn du dich der Welt ergibst, gänzlich und ohne Markten, und du darfst nicht zurückschauen, sonst geht es dir wie Loths Weib, du erstarrst[444] zur Salzsäule. So hab ich den Teufel besiegt; oder mich selbst besiegt, wie man will.«

»Es war jedenfalls eine schicksalsreiche Wandlung,« sagte Johanna, die Semmeln entzweischnitt und mit Butter bestrich. Ihre Gesten waren von einer gleichsam erdachten Lässigkeit und Lieblichkeit.

»Und was sagten Sie also zu Wolfgang Wahnschaffe?« fragte Botho von Thüngen. Er saß am Fenster und hielt von Zeit zu Zeit Ausschau über den Hof, denn auch ihn verlangte nach Christians Gegenwart. Es war ein dunkles Gefühl von seiner Nähe in jedem.

»Ich sagte ungefähr, was ich mir denke,« entgegnete Voß. »Ich sagte: Es ist am besten, ihr laßt die Dinge laufen, wie sie laufen. Er verstrickt sich in seinen eignen Netzen. Widerstand stützt; Verfolgung gibt Gloriole. Wozu wollt ihr ihm eine Gloriole um das Haupt legen? Paradoxie muß durch sich allein zu Fall kommen, und sämtliche Visionen des heiligen Antonius haben nicht die umbiegende Gewalt einer einzigen Sekunde der Erkenntnis. Keine Wand darf mehr um ihn sein, keine Brücke; dann wird er Wände aufrichten und Brücken schlagen wollen. Habt Geduld, sagte ich, habt Geduld. Ich, der ich der Geburtshelfer seiner Neuwerdung war, getraue mich zu prophezeien. Ich prophezeie, der Tag ist nicht mehr fern, wo er wieder nach dem Kuß eines Weibes gieren wird; das, ich gestehe es, war es hauptsächlich, was mich stutzig gemacht hat, dies Leben ohne Eros. Denn es war nicht Überdruß, nein, das war es nicht, es war Verzicht, wahr und wahrhaftig Verzicht. Aber laßt den Eros erwachen, und die Umkehr wird geschehen. Der Tag ist nicht mehr fern.« Sein Gesicht hatte einen Ausdruck fanatischer Rechthaberei.

»Ein andrer Eros wird es sein, nicht der, den Sie meinen,« sagte Thüngen.

Da erhob sich Michael, schaute Voß mit glühenden Augen an und rief ihm zu: »Verräter.«[445]

Amadeus Voß gab es einen Ruck. »Ei, du Kröte,« murmelte er geringschätzig, »was ficht dich an?«

»Verräter,« sagte Michael.

Voß ging drohend auf ihn zu.

»Michael! Amadeus!« mahnte Johanna flehend und legte die Hand auf Vossens Arm.

Währenddem hatte sich die Tür sacht aufgetan und die kleine Stübbe war unhörbar ins Zimmer geschlüpft. Sie war adrett gekleidet wie immer; die blonden Zöpfe waren um den Kopf geflochten und ließen das leidvolle Kindergesicht noch älter, noch madonnenhafter erscheinen. Sie schaute sich um, gewahrte Michael, ging zu ihm hin und reichte ihm einen Brief. Danach verließ sie die Stube wieder.

Michael entfaltete das Blatt, las, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Der Brief fiel aus seiner Hand. Lamprecht hob ihn auf. »Geht es auch uns an?« fragte er ahnend, »ist es von ihm?«

Michael nickte und Lamprecht las vor: »Lieber Michael. Ich verabschiede mich auf diesem Weg von dir und bitte dich, die Freunde zu grüßen. Ich muß nun fort. Ihr werdet keine Nachricht von mir erhalten. Es soll mir niemand nachforschen. Es ist mir zweckmäßiger und einfacher erschienen, auf diese Weise fortzugehen, als das Unausweichliche durch Aussprache und Fragen hinauszuschieben und zu zerreden. Was von meinen Sachen in Karens Wohnung war, habe ich mitgenommen. Es hatte Platz in der kleinen Reisetasche. Meine übrigen Habseligkeiten kannst du in den Koffer packen, der drüben steht; es ist einiges schwer Entbehrliches dabei, wie Wäsche und ein Anzug. Vielleicht findet sich Gelegenheit, daß ich es mir schicken lassen kann. Aber es ist ungewiß. Für dich, Michael, habe ich an Lamprecht tausend Mark anweisen lassen, damit der Unterricht für die nächste Zeit fortgesetzt werden kann. Es ist auch ein Notpfennig. Für Johanna erliegen zweihundertfünfzig Mark im Kuvert beim Hausverwalter;[446] von morgen ab, ich muß es erst hinschicken. Sie möge so freundlich sein und mit dieser Summe die Verbindlichkeiten lösen, die ich zurücklasse. Nochmals: Grüß die Freunde. Halte dich an sie. Lebewohl. Sei tapfer. Denk an Ruth. Dein Christian Wahnschaffe.«

Alle waren aufgestanden und hatten sich um Lamprecht gruppiert. Lamprecht sagte erschüttert: »Ihm gehöre ich, ihm will ich gehören, im Herzen und im Geiste.«

»Was mag der Sinn sein, was mag der Grund sein?« fragte Thüngen in die scheue Stille.

»Echt Wahnschaffe!« ließ sich Amadeus Voß vernehmen, »platt und hölzern wie eine Polizeivorschrift.«

»Schweig!« hauchte ihm Johanna gepeinigt zu, »schweig, Judas.«

Es fiel kein Wort mehr. Alle standen um den Tisch; aber der Platz, der für Christian gedeckt war, blieb leer. Es fing an zu dämmern, und einer nach dem andern ging fort. Amadeus Voß näherte sich Johanna und sagte: »Der Judas, den du dem Bürschchen nachgeredet hast, wird dich noch auf die Seele brennen, das kann ich dir versprechen.«

Michael, wie ein Entrückter, schaute mit seherisch glänzenden Augen in die Höhe.

In ermatteter Schwermut sprach Johanna zu sich selbst: »Wie heißt es doch immer in den alten Komödien? Exit. Ja: exit. Kurz und bündig. Exit. Johanna. Troll dich.« Sie warf noch einen Blick in die halbfinstere Stube, und hager schlich sie als letzte aus der Tür.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 443-447.
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