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[281] Die Andeutung in dem letzten Satz der Zeitungsmeldung wirbelte Staub auf. Der rücksichtsvoll verschwiegene Name kam in der Leute Mund, man wußte nicht recht wie. Das Gerede gelangte zu Wolfgang Wahnschaffe. Kollegen fragten ihn befremdet, was sein Bruder mit dem Mord an dem Judenmädchen zu schaffen habe. Sogar sein Kanzleichef im Auswärtigen Amt stellte ihn und hatte dabei eine Miene, die ihn vor Scham erbleichen machte.

Er schrieb an den Vater. »Ich komme mir vor wie ein friedlicher Spaziergänger, der den hinterlistigen Anfällen eines Wahnsinnigen ausgesetzt ist. Du weißt sehr wohl, lieber Vater, daß bei der Laufbahn, die ich eingeschlagen habe, makelloser Ruf Bedingung ist; wenn dieser Ruf jederzeit von einem entgleisten und seine Herkunft verleugnenden Menschen, der unglücklicherweise den Namen der Familie trägt, befleckt, dieser Name dem öffentlichen Unwillen preisgegeben werden kann, so ist meiner Ansicht nach kein Mittel zu schroff, mit dem man sich dagegen schützt. Wir hatten Geduld; ich war viel zu lange das bescheidene Flämmchen neben dem strahlenden, und wie sich jetzt erweist, trügerischen Feuerwerk Christian; wo mein Lebensglück auf dem Spiel steht, meine und meines Hauses Ehre sogar, wäre es unverzeihliche Schwäche von mir,[281] wollte ich allem, was da geschieht und in Zukunft noch zu befürchten ist, mit verschränkten Armen zusehen. Das ist auch die Meinung meiner Freunde und jedes vernünftig Denkenden. Ein energischer Schritt ist notwendig, sonst kann ich mich auf dem Platz, den ich mir erobert habe, nicht behaupten, von den Unannehmlichkeiten, die uns außerdem noch bevorstehen, ganz zu schweigen. Bis ich deinen Bescheid erhalte, werde ich versuchen, mich mit Judith in Verbindung zu setzen und mich mit ihr zu beraten; obgleich sie in der schnödesten Form den Verkehr mit mir abgebrochen hat, ich kenne heute noch nicht den Grund, wird sie sich der Dringlichkeit der Sachlage beugen.«

Der Geheimrat empfing den Brief nach einer Verhandlung mit einer Deputation streikender Arbeiter. Es dauerte eine Weile, ehe die Bestürzung, die er automatisch in ihm erregte, völlig in sein Bewußtsein trat. Unter andern Umständen hätte ihn der unkindliche, ja unverschämte Ton erzürnt; jetzt ging er darüber hinweg. Mit hastiger Hand schrieb er eine chiffrierte Depesche an Girke & Graurock.

Der Antwortbrief, mit Eilpost gesandt, erreichte ihn am nächsten Abend in seinem Würzburger Haus. Willibald Girke schrieb:

»Hochzuverehrender Herr Geheimrat! Trotzdem unsre Firma seit geraumer Zeit des Vergnügens beraubt war, in direktem Auftrag, wie vordem, für Ew. Hochwohlgeboren zu wirken, waren wir doch in der Zuversicht erneuerter Beziehung weitblickend genug, unsre Nachforschungen fortzusetzen und uns über alle Ihren Herrn Sohn angehenden Ereignisse eventuell auf eigne Kosten und Gefahr auf dem laufenden zu halten. Dank dieser geschäftlichen Großzügigkeit, die bei uns Maxime ist, sind wir in der glücklichen Lage, Ihre telegraphische Erkundigung mit der Präzision und Schnelligkeit zu erledigen, die der Moment erheischt.

Um sofort zum Kern unsres Rapports zu gelangen, der[282] Ermordung des jüdischen Mädchens, so können wir Ew. Hochwohlgeboren insofern beruhigen, als ein andrer Zusammenhang mit der Greueltat nicht besteht, als durch die lebhafte und in der ganzen Nachbarschaft vielbemerkte Freundschaft, die Ihren Herrn Sohn mit der Ermordeten verknüpft hatte. Es handelt sich lediglich um die Zeugenaussage, die ja später auch vor Gericht wird wiederholt werden müssen; das Peinliche daran ist leider unabwendbar. Wer Pech angreift, besudelt sich; sein Umgang mit niederem Volk mußte ihn in böse Geschichten, vielleicht in mancherlei Mitwissenschaft bringen. Nachgewiesen und zugestanden ist ein Besuch in der Wohnung des verhafteten Mörders Heinzen. Er war damals in Begleitung der Ruth Hofmann, und es soll sich bei dieser Gelegenheit ein skandalöser Auftritt abgespielt haben, in den der Bruder der Karen, Niels Heinrich, verwickelt war. Niels Heinrich Engelschall war ein Busenfreund des Joachim Heinzen; das Gericht hat ein scharfes Auge auf ihn, er ist bereits vernommen worden, und seine Aussage soll sehr belastend für den Mörder gewesen sein. Die Beziehung zu diesem Engelschall, obwohl nur locker und unverschuldet, ist es, die man Ihrem Herrn Sohn zum Vorwurf machen kann, und was sich daraus noch für Widrigkeiten ergeben mögen, ist vorläufig nicht abzusehen. Er hat von dem Menschen Arges zu gewärtigen.

Die Ruth Hofmann sah man fast täglich in Gesellschaft Ihres Herrn Sohnes. Die Hofmannsche Wohnung befand sich auf demselben Gang wie die der Karen Engelschall, wodurch die Häufigkeit des Beisammenseins erleichtert wurde. Es sitzt bereits eine neue Partei in dem Trakt, ein gewisser Stübbe mit Frau und drei kleinen Kindern, ein entsetzlich verwahrloster Trunkenbold, der jeden Abend Lärm macht und die Seinen dermaßen mißhandelt, daß Ihr Herr Sohn einige Male Gelegenheit nahm, dagegen einzuschreiten. Wir berühren dies nur, weil es deutlich zeigt, wie rasch in solchen Wand[283] an Wand stoßenden Quartieren sowohl Kameradschaften wie Mißhelligkeiten entstehen. Der frühere Insasse, der Agent David Hofmann, war allerdings ein friedlicher Mieter. Er muß in schlimmen Bedrängnissen gewesen sein, da er wenige Tage vor dem Mord nach Amerika gereist ist. Trotzdem ihm sogleich Telegramme nachgeschickt wurden, hat er bis jetzt kein Lebenszeichen von sich gegeben, und man vermutet, daß er aus irgendeinem Grund unter falschem Namen gefahren ist, denn die Passagierlisten der Schiffe, die in den letzten zwei Wochen ausgelaufen sind, enthalten seinen Namen nicht. Vielleicht ist er auch nach einem holländischen oder englischen Hafen gereist; die Behörde sucht dies zu ermitteln. Der Knabe, der Bruder der Ruth, war ebenfalls sechs Tage hindurch spurlos verschwunden; er tauchte erst an dem Abend, an welchem der Mord entdeckt wurde, wieder auf, und zwar in der Stube Ihres Herrn Sohnes, unten bei Gisevius. Dort ist er bis zur Stunde geblieben, und zwar in einer ungewöhnlichen Verfassung; durch kein Drängen, weder durch Bitte noch Befehl, war ihm die geringste Andeutung darüber zu entlocken, wo er die kritische Zeit vom Sonntag bis zum Donnerstag zugebracht hat. Je länger er schweigt, je rätselhafter wird sein Schweigen und je mehr ist man bestrebt, es zu brechen, da man glaubt, es hänge mit dem Mord zusammen und verberge wichtige Spuren. Es fällt auf, daß Ihr Herr Sohn die Versuche, ihn zu vernehmen, nicht nur nicht unterstützt, sondern sie auch hintertreibt, wo er kann. Da er die meiste Zeit des Tages aus seiner Wohnung im Quergebäude abwesend ist, hatte ein gewisses Fräulein Schöntag die Aufsicht bei dem Knaben übernommen; die Überwachung scheint sich neuerdings nicht als unerläßlich zu erweisen, da man ihn jetzt stundenlang allein läßt und, wenn das besagte Fräulein nicht zugegen ist, nur die Frau des Gisevius hin und wieder Nachschau hält, ob er sich nicht aus dem Staub gemacht hat. Immerhin patrouilliert ein behördliches Organ ständig[284] und unauffällig vor dem Haus. Die Erwägung liegt nahe, daß sich Ihr Herr Sohn durch die Obsorge für den offenbar krankhaft veranlagten Knaben eine neue Last aufgebürdet hat, an welcher er, betrachtet man seine übrigen Verpflichtungen und daneben die geringen pekuniären Mittel, schwer zu tragen haben wird. Es sei uns diese Anmerkung verstattet; der Begriff vom eigentlichen Wesen und wohin es zielt, fehlt uns ja nach wie vor und allen, die damit zu schaffen haben.

Wir sind am Schluß. Indem wir uns in der angenehmen Hoffnung wiegen, daß unsre Ausführlichkeit und Sachtreue den Wünschen und Erwartungen von Ew. Hochwohlgeboren entspricht, bitten wir um weitere Verhaltungsmaßregeln und empfehlen uns für jeden Fall Ihrer geneigten Berücksichtigung. In tiefster Ergebenheit Girke & Graurock, gez. W. Girke.«

Der Geheimrat ging durch die Zimmer des alten Hauses. Lautlos folgte ihm die Hündin Freia.

Um das Niederbeugende nicht denken zu müssen, rief er sich das Gesicht des Arbeiters in die Erscheinung zurück, des Sprechers der Deputation, mit der er gestern verhandelt hatte. Mit Genauigkeit wurden ihm die brutalen Züge gegenwärtig, das vorspringende Kinn, die dünnen Lippen, der aufgebürstete schwarze Schnurrbart, der kalte, scharfe Blick, der entschlossene Ausdruck. Es war nicht mehr das Gesicht des einen, zufällig beauftragten, so oder so heißenden Menschen, sondern es war eine Welt, die er darin erkannte, eine heimlich und gesetzmäßig entstandene furchtbare Welt voll Drohung, Kälte und Entschlossenheit.

Die Energie und Überlegung, die er im Gespräch mit dem Abgesandten bewiesen, erschien ihm sonderbar zwecklos, denn keine Kraft eines einzelnen konnte genügen, im Kampf wider diese Welt zu bestehen.

Um nicht denken zu müssen, nicht an den Brief des Privatdetektivbureaus Girke & Graurock, nicht an diese schaurigen Ermittlungen, die trüblastenden Ausschnitte eines unheimlichen[285] fernen Lebens, des Lebens seines Sohnes, den er geliebt hatte, den er liebte, an die unzähligen niedrigen, häßlichen, schaurigen Begebenheiten, die als gespensterhaftes Panorama vor seinem Geist vorüberwirbelten, an die Stuben, die Höfe, die Häuser voll ächzender, elender Leiber, um daran nicht denken zu müssen, blätterte er in einem Buch, wühlte er in einer Lade mit Briefen, ging er von Raum zu Raum, unermüdlich, gefolgt von der Hündin Freia.

Auf der Flucht von den gefürchteten Bildern tauchte wieder das Revier seiner Arbeit auf, wo die Lebenshoffnungen wurzelten und gereist waren, das Triebwerk der Existenz in Schwung gesetzt wurde. Er sah die Maschinensäle verödet, die Öfen erloschen, die Dampfhämmer stillstehen und aus allen Fenstern, allen Türen Tausende von gebieterisch fordernden Armen ihm entgegengestreckt, ihm, dem Gebieter. Da war ihm zumute wie vor dem Tag des Untergangs. Es war nicht das erstemal, daß ein Streik den gegliederten Organismus lähmte, aber zum erstenmal geschah es, daß das Gefühl davon ausging, als sei die Kraft versiegt und das Ende gekommen.

Da drängte sich die Frage auf seine Lippen: Warum hast du mir das angetan? Mit dieser Frage wandte er sich an Christian, wie wenn Christian schuldig wäre an den Forderungen derer, die einst willige Sklaven gewesen, an den leeren Sälen, den erloschenen Öfen, den schweigenden Hämmern; schuldig durch sein Dortsein in den Stuben, bei Dirnen und Mördern, Irren und Kranken, in den Nestern, wo das menschliche Ungeziefer haust. Zorn schauderte in ihm empor, eine der seltenen Anfälle, die ihn besinnungslos machten; seine Augen füllten sich mit Blut, er suchte ein Opfer, eine Ableitung; er gewahrte, daß die Hündin mit ihren Zähnen am Teppich nagte, griff nach einem Bambusrohr und schlug das Tier, daß es jämmerlich winselte, minutenlang, bis ihm vor Erschöpfung die Arme sanken.[286]

Als er wieder ruhig geworden war, verspürte er Reue und Scham, aber ein Rest des Zornes wich nicht aus seinem Innersten, und er trug ihn mit sich herum wie einen Giftstoff. Das Nagen und Brennen hörte nicht auf, und er wußte, daß es nicht aufhören konnte, ehe er nicht mit Christian abgerechnet haben würde, ehe Christian ihm nicht Rede gestanden war, als Mensch dem Menschen, als Mann dem Mann, als Sohn dem Vater, als Schuldiger dem Richter.

Der Zorn fraß. Doch wo war ein Ausweg? Wie konnte man zu Christian gelangen? Wie ihn zur Rechenschaft ziehen? Jeder Schritt vergab etwas. Warten, immerfort warten? Wochen und Monate warten? Der stumme Zorn fraß das Leben.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 281-287.
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